ZWEIUNDZWANZIG

Kurz nachdem Bachmann seine Geschichte begonnen hatte, verstand Kraus, warum der Hohepriesterin Helga ohne offensichtlichen Grund so plötzlich der Name von Ilses Heimatstadt eingefallen war. Es war keineswegs zufällig geschehen. Der Auslöser war dieses kleine Kaninchen gewesen, das über den Weg gehoppelt war.

»Diese Köhlers waren Bilderbuch-Niedersedlitzer.« Der Rauch aus Bachmanns Zigarre stieg wie ein Vorhang vor ihm auf und schien ihn in die Vergangenheit zu versetzen. »Der Vater hatte eine gute Arbeit, und die Mutter war im Kirchenkomitee. Jeden Sonntag gingen sie gemeinsam zum Gottesdienst. Sie boten ein hübsches Bild mit ihren Zwillingen.«

»Zwillinge?« Kraus und Gunther sahen sich verblüfft an.

»Wussten Sie das nicht? Jahrelang konnte niemand die beiden auseinanderhalten, Magda und Axel. Sie trug ihr Haar immer besonders kurz und hatte eine tiefe Stimme. Und sie gab sich so burschikos, dass jeder sie mit ihrem Bruder verwechselt hat.«

Dann musste sie das im Viehhof gewesen sein an jenem Tag, als Mann verkleidet. Kein Wunder, dass er sie mit dem Ochsen verwechselt hatte. Das begriff Kraus jetzt. Mein Gott, er hätte sie fast erwischt. Aber sie hatte sich aus der Sache herausgewunden.

Schizoide, Willi ... Ihr Sozialverhalten ist reiner Überlebensinstinkt. Animalische Mimikry.

»Aber der Vater«, Bachmann wand sich in seinem Harnisch, »war wie zwei Menschen in einem Körper. Er hat Axel und mich mit zum Angeln genommen, als wir noch ganz klein waren. Das war mit das Schönste, was ich je erlebt habe. Aber so etwa ab der dritten oder vierten Klasse bin ich schon beim Anblick dieses Mannes davongelaufen. Mein Vater konnte mich verprügeln, und das nicht schlecht. Aber nachdem ich einmal Axels Kehrseite gesehen hatte, habe ich mich nie wieder beschwert. In der Öffentlichkeit war der alte Köhler so bedachtsam und besorgt. Alle liebten ihn. Aber Axel hat mir Geschichten erzählt, bei denen mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper gelaufen ist. Glauben Sie mir, dieser Mann hat Dinge getan, die Eltern niemals tun dürfen.«

Bachmanns Augen verschleierten sich. »Er hat diese Grube unter der Küche gegraben. Dort hat er sie zur Strafe eingesperrt. Ohne Essen, ohne Wasser und in völliger Finsternis. Zwei Tage, manchmal sogar drei. Als wir dreizehn Jahre alt waren, hat Axel mir erzählt, dass er einmal am Gestank seiner eigenen Scheiße fast gestorben wäre. Und er meinte, wenn er geweint hätte, wäre sein Vater heruntergekommen und hätte ihn an die Wand gekettet, ihm ein Messer an den Hals gehalten und gedroht, ihm bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen.«

Gunther stand der Mund offen.

Kraus’ Herz hämmerte heftig. Er konnte praktisch seinen Cousin Kurt im Institut reden hören: ... Höchstwahrscheinlich ist das eine ritualisierte Wiederholung der Qualen, die er selbst einst erduldet hat. Ich vermute, unser Mörder muss sich als Kind gefühlt haben, als wäre er praktisch in Einzelteile zergliedert.

»Wieso haben Sie das niemals jemandem erzählt, Alfred?«

»Sie machen wohl Witze!« Der Mann wurde aus der Vergangenheit zurückgerissen. »Axel hat mich gezwungen, auf einen ganzen Stapel von Bibeln zu schwören, dass ich keiner Menschenseele etwas davon verrate. Wenigstens sind die Zwillinge zur Schule gegangen. Aber die Kleine nicht, o nein. Meine jüngere Schwester war so alt wie sie, hat Ilse aber niemals auch nur gesehen. Ich kann mich daran erinnern, dass Axel sagte, sie wäre schwer krank geworden und ihr ganzes Gesicht wäre mit Pusteln bedeckt. Er nannte es Pocken. Aber sie ist nicht daran gestorben. Sie war ziemlich zäh und wurde immer härter. Und gemein. Junge, ich werde niemals dieses eine Mal vergessen, als Axel und ich grauenvolle Schreie aus ihrem Hof hörten. Wir sind hingelaufen, und da saß sie, lang aufgeschossen und dürr, mit großen Augen. Sie kann nicht älter als neun gewesen sein. Sie hatte ein Kaninchen auf einen Rahmen gespannt – ein lebendiges Kaninchen! – und zog ihm die Haut ab, wie eine Mutter einem störrischen Kind die Kleider vom Leib reißt. Ich kann immer noch die Schreie dieser armen Kreatur hören, Herr Kriminalsekretär. Ich musste das Tier mit einem Prügel aus seinem Elend befreien. Ilse erklärte mir, ihre Schwester hätte ihr versprochen, ihr eine Handtasche zu machen, wenn sie ihr die Haut gäbe.«

Kraus schüttelte sich, als er begriff, dass Ilse Helga wahrscheinlich diese oder ähnliche Geschichten erzählt hatte, die letztere dann so weit wie möglich in ihrem Unterbewusstsein vergraben hatte – bis zu jenem Tag auf dem Friedhof, als dieses Kaninchen über den Weg hoppelte. Kein Wunder, dass Helga fast hysterisch geworden war. Ilse hatte gedroht, ihr dasselbe anzutun, sie bei lebendigem Leib zu häuten.

»Haben die Zwillinge auch in der Lederfabrik ihres Vaters gearbeitet?«

»Das haben wir alle. Fast zwei Jahre, von dem Moment an, als der Krieg ins Stocken kam, bis zu dem Moment, wo Axel und ich unseren Einberufungsbescheid bekamen, 1917. Er ist natürlich niemals hingegangen, nach dem, was mit seinem Vater geschehen ist. Davon haben Sie ja sicher gehört. Ziemlich kreativ, oder? Mich hat das immer beeindruckt, wie sie ihn aufgehängt haben, damit die ganze Stadt ihn sehen konnte, so als wollten sie sagen: ›Scheiß auf dich, Niedersedlitz!‹ Ich meine, die Leute wussten, was er ihnen antat. Alle wussten es. Jeder schlug seine Kinder. Aber das da ...«

»Erinnern Sie sich daran, welche Art von Arbeit die Kinder in der Fabrik hatten?«

»Ja, klar.« Bachmann begriff den Zweck dieser Frage nicht, hatte jedoch keine Schwierigkeiten, darauf zu antworten. »Haben Sie jemals ein Foto von Axel gesehen? Er war gebaut wie ein Bär. Und Magda ebenfalls. Ilse dagegen war ziemlich dürr. Aber Axels Arme ... sie waren doppelt so dick wie meine, noch bevor er anfing, Gewichte zu stemmen. Natürlich haben sie ihn für Schwerstarbeit eingesetzt; er musste Ballen mit Häuten schleppen. Aber als der Krieg weiterging, haben wir alle das gemacht, was gerade anlag ... einkaufen, bestellen, Waren ausliefern. Magda wurde als Kunsthandwerkerin angelernt.« Die Erinnerung schien Bachmann zu freuen. »Man hat ihr all die Feinheiten beigebracht ... das Färben von Leder und wie man es perfekt vernäht. Sie hätte einen richtig guten Beruf daraus machen können, wenn nur ...«

Plötzlich stand Schwester Schmidt mit einem kurzen Schlauch und einem Gummibeutel voll Wasser neben ihnen. »Sechzehn Uhr.«

Kraus versuchte es mit einem Lächeln. »Das hier ist eine ziemlich wichtige polizeiliche Untersuchung. Kann das nicht vielleicht warten?«

»Tut mir leid, Herr Kriminalsekretär.« Sie rollte ihre Ärmel hoch. »Es warten noch ein Dutzend andere auf meine Dienste. Alle reden sie wie harte Männer, aber es sind einfach nur große, hilflose Babys, mehr nicht. Sie können sich ohne meine Hilfe nicht einmal mehr entleeren. Aber lassen Sie sich nicht stören.« Sie spuckte in die Hände und riss an einem Hebel, so dass der Harnisch sich verschob und Bachmanns Gesicht sich auf die Matratze senkte. Der Krankenhauskittel rutschte hoch und enthüllte seinen haarigen Hintern. »Hier ist kein Platz für Zimperlichkeiten.«

Sie bedeutete Kraus mit einem Nicken, weiterzumachen, während sie den Wasserbeutel an einen Haken hängte.

Bachmann drehte das Gesicht auf der Matratze zur Seite, damit er weitersprechen konnte. »Die meisten Jungs, die noch vor 1916 eingezogen wurden, haben nie begriffen, wie schwierig die Lage zu Hause geworden war.« Er zuckte zusammen, als Schmidt einen großen Klumpen schleimiger Spucke auf die Spitze des Schlauchs rotzte, ihn in seinen After steckte und mit rauen, ruckartigen Bewegungen wie einen Abflussstampfer weiter hineinschob. Kraus zuckte ebenfalls zusammen während Gunthers Gesicht beinahe kanariengelb anlief. Doch in Bachmanns Augen trat ein beinah heiterer Blick, als sie den Schlauch losließ und anfing, den Beutel auszudrücken. »In der Armee bekam man wenigstens zweimal am Tag etwas zu essen. Nicht aber in Niedersedlitz. Man hätte glauben sollen, bei den vielen Bauernhöfen hier in der Gegend wäre das kein Problem gewesen, aber jeder Bissen wurde requiriert. Wurde auch nur ein einziges unerlaubtes Weizenkorn bei einem gefunden ...«

Als der Beutel leer war, zog Schmidt den Schlauch heraus und richtete Bachmann wieder auf.

»Natürlich haben wir alle Gewicht verloren.« Er sprach beiläufig weiter, während sein Gesicht rot anlief. Dann griff er nach seiner Zigarre im Aschenbecher und bedeutete Gunther, er solle ihm Feuer geben. »Die Schwächsten fingen wirklich an zu hungern: alte Frauen mit eingefallenen Wangen, Kinder mit geschwollenen Bäuchen. In der Fabrik gaben sie uns jedoch genug, damit wir weitermachen konnten. Als also Magdas Bauch so mächtig anschwoll, wussten alle, dass es nicht am Hunger lag. Schmidt ...«

Die sauertöpfische Krankenschwester hob den Harnisch an und schob eine Bettpfanne unter seinen Torso, während Bachmann die Augen verdrehte und vernehmlich abführte. Es klatschte in dunklen, schwarzen, schweren Klumpen in die Pfanne, und Kraus und Gunther lehnten sich beide so weit wie möglich zurück.

»Sie war natürlich ein großes Mädchen, deshalb hat es niemand bemerkt, bis zum allerletzten Monat. Dann kamen die Gerüchte.« Bachmann fuhr fort, während Schmidt ihm den Hintern mit einem Handtuch abwischte. »Sie war ja nicht mal siebzehn.«

Schmidt schwang Bachmann wieder mit dem Gesicht aufs Bett und läutete die nächste Runde ein.

»Alle waren davon überzeugt, dass es einer der polnischen Gastarbeiter gewesen sein musste.« Diesmal schrie Bachmann leise, als die Schwester den Schlauch einführte. »Aber dem war nicht so.« Er schwieg, während Schmidt erneut Wasser in seinen Darm pumpte. Und ihn anschließend wieder aufrichtete. »Na ja, es gibt wohl keine Möglichkeit, es vornehm auszudrücken, Herr Kriminalsekretär«, meinte er dann und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Bruno Köhler hat seine Kinder gefickt. Und das meine ich nicht im übertragenen Sinne. Axel war manchmal so wund, dass er kaum zur Schule laufen, geschweige denn sitzen konnte. Und Magdas Baby war nicht von einem Gastarbeiter.«

Kraus blieb eine Minute schweigend sitzen.

»Hat sie es ... geboren?« Er fand schließlich seine Stimme wieder.

»O ja.« Bachmann schien die Flüssigkeit in seinem Darm diesmal zu fühlen, schloss die Augen und holte tief Luft. »Sie hat es gekriegt, das schon. Aber dieser Hundesohn«, er öffnete langsam die Augen und zuckte etwas, »er sagte, es wäre Teufelsbrut. Schmidt, Liebchen!« Die Schwester schlurfte zu ihm herüber. »Sobald Magda entbunden hatte«, eine frische Bettpfanne wurde unter ihn geschoben, und ein lauter Seufzer begleitete diesmal den zweiten Stuhlgang, »trug dieser Mistkerl sein eigenes neugeborenes Baby in den Hinterhof und«, Bachmann fuhr mit einem Finger über seine Kehle, »wie bei einem Frischling. Das hat Axel mir erzählt, und er hatte keinen Grund, mich anzulügen. Magda ist wirklich außer sich geraten, weil sie zutiefst religiös war, verstehen Sie, und das Baby war nicht einmal ...«

»Getauft.« Gunther beendete den Satz für ihn. »Also hat sie geglaubt, es wäre für alle Ewigkeit verloren.«

»Sehr gut.« Bachmann nickte.

»Völlige Verderbtheit«, sagte Gunther zu Kraus.

Die Schwester warf einen Blick in die Bettpfanne und grunzte zufrieden. »Also gut, Majestät, eine weitere Runde sollte genügen. Mach es nett und klar für mich, ja?«

Klar, ja, völlig klar, dachte Kraus. Diese Bibelpassage. Kinder des Zorns. Nicht Ilse, sondern Magda hatte diese Passage markiert. Und es war Magdas Knochensack gewesen.

Und Magdas Taschen.

Ilse trieb diese Kinder ihrer Schwester nur zu. Und ihr Bruder verkaufte dann die ... Körperteile.

»Wohin sind die Geschwister gegangen, nachdem sie Niedersedlitz verlassen haben?«

»Nach Berlin.«

»Sind Sie sicher?«

»Ich habe Axel in der Nacht, in der sie weggegangen sind, noch gesehen.« Bachmann genoss den Rest seiner Zigarre. »Er hatte immer noch Blut unter den Fingernägeln. Er sagte mir, Berlin wäre der einzige Ort, wo sie untertauchen könnten. Er meinte, Magda wäre vollkommen übergeschnappt und Ilse wäre nicht mehr zu kontrollieren. Er würde versuchen, eine Arbeit zu finden, um sie zu ernähren, vielleicht am Centralviehhof. Sie brauchten gefälschte Papiere und neue Identitäten. Eine Zurückstellung vom Kriegsdienst für ihn. Sie könnten sich all das leisten, sagte er, weil sie jetzt elfhundert Reichsmark hätten, aus dem Safe ihres Vaters.«

»Aber wie können Sie sicher sein, dass sie tatsächlich nach Berlin gegangen sind?« Kraus musste einfach Gewissheit haben. »Sie sind nach Flandern geschickt worden, habe ich recht? Und wurden dort verwundet.«

»Eines muss man Axel lassen.« Bachmann blies einen perfekten Rauchring. »Er war so treu wie ein Hund. Er hat mich besucht.«

»Hier in diesem Krankenhaus?«

»Er saß genau auf diesem Stuhl, Herr Kriminalsekretär.«

»Wie lange ist das her?«

»Es war während der Inflation. Ich kann mich noch schwach erinnern, dass er mir erzählt hat, die Bahnfahrkarte hätte ihn fünfzig Millionen Reichsmark gekostet. Das war vor wie viel Jahren, vor sieben? Ich schlag die Augen auf, und da war er. Groß wie ein Stier. Mit Armen so dick wie Baumstämme. Sagte, er würde jede Woche im Kraftraum Hunderte von Pfund stemmen. Er hätte nicht vor, meinte er, sich jemals wieder von irgendeinem Mistkerl unterkriegen zu lassen.«

»Was hat er gemacht? Hat er am Viehhof gearbeitet?«

»Magda hat dort gearbeitet. Sie hat sich als Mann ausgegeben. Ich musste wirklich lachen, als ich das gehört habe. Axel hatte etliche krumme Geschäfte laufen. Hat eine Art illegalen Markt geführt. Die Kleine hatte Verbindung zu einem Labor, in dem Hunde für Experimente verwendet wurden. Angeblich bezahlten sie dort fünf Mark pro Schwanz, also haben sie in ganz Berlin Hunde gestohlen. Können Sie sich das vorstellen? Dasselbe Labor hat ihnen dann weitere fünf Reichsmark bezahlt, damit sie die toten Hunde entsorgten. Eine Art Rundum-Service. Axel wollte mir nicht sagen, was sie mit den Kadavern anstellten, aber irgendwie hat er daraus wohl auch noch Profit geschlagen. Er sagte mir, sie hätten noch nie besser gelebt. Sie hatten eine anständige Wohnung und genug zu essen. Dann machte er einen Scherz und meinte, wenn das Labor nur endlich Versuche an Menschen durchführen würde, dann könnte er wirklich einen Mordsgewinn machen.«