EINUNDDREISSIG
Kraus’ Kleidung war noch nicht ganz trocken, als er bereits zwischen Straßenbahnen dahinhetzte, vor Lastwagen über die Straße spurtete und fast wie ein Hürdenläufer über einen Kinderwagen sprang, unrasiert und ungekämmt. Aber es interessierte ihn überhaupt nicht, wie er aussah. Nur ein Gedanke hämmerte in seinem Hirn, toste durch seine Adern. Trieb seine Beine an. Die Jungs. Sie brauchten ihn.
Auf der rechten Seite des Alex schlug die Uhr am Polizeipräsidium Viertel nach elf. Jeder Glockenschlag schien ihm die Kehle fester zuzuschnüren. Direkt vor ihm stieß über den Trümmern des alten Grandhotels die große, kupferne Berolina ihr Schwert in die Luft, umringt von Gerüsten, während sie auf ihre Schutzhaft vorbereitet wurde. Seit ihrer Ankunft auf dem Alexanderplatz hatte sie Jahre des Friedens und des Krieges miterlebt, die Niederlage, die Revolution. Wohlstand und Depression. Welche Seiten im Buch der Geschichte würden umgeblättert werden, während sie in einem Lagerhaus auf den neuen Alexanderplatz wartete?
Kai wartete unter ihren riesigen Zehen auf Kraus. Die goldene Kreole baumelte an seinem Ohr, während er sich forschend umsah. Als der Junge Kraus erblickte, trat er seine Zigarette aus und deutete mit einem beringten Finger in Richtung der Straßenbahnen.
»Die Jungs haben sie in der Lindenpassage gesehen.«
Straßenbahn? Kraus hielt ein Taxi an. Offenbar hatte Kai keine Ahnung, was mit seinem Sohn passiert war.
Auf der Taxifahrt erfuhr er es.
Die Lindenpassage war eine überdachte Einkaufspassage, die schon bessere Zeiten erlebt hatte. Das Glasdach war voller Algen und Schmutz, und von den Mauern blätterten diverse Farbschichten. Die Passage lockte einen Haufen von schäbigen Figuren in ihr Wirrwarr aus »Seltene-Bücher«-Läden, »Postkarten«-Geschäften und in »Kuriositäten«-Ausstellungen«. Doch in den schmuddeligen Gängen war es im Winter wenigstens warm; deshalb arbeiteten hier die jüngsten von Berlins zahllosen männlichen Prostituierten, die Puppenjungs. Kraus schnürte sich die Kehle zu, als er sie sah: fast ein Dutzend Kinder, im Alter von zehn, elf, vielleicht zwölf Jahren, die vor dem Anatomie-Museum aufgereiht standen, allesamt in merkwürdigen Versionen eines Seemannsanzugs, mit Mütze und Schleife. Sie taxierten jeden Passanten abschätzend als möglichen Kunden. Wie war es möglich, dass Kinder gezwungen waren, auf eine solche Art und Weise um ihr Überleben zu kämpfen? Seine Brust schmerzte, wenn er sie nur sah. Er hätte sie am liebsten alle gerettet. Zurzeit jedoch gab es zwei Jungen, die seine Hilfe dringender benötigten.
Die beiden, die die Hirtin gesehen hatten, Milo und Dolf, waren weggegangen, um eine Nummer fürs Mittagessen zu ergattern.
Kai war stinksauer. »Ich habe ihnen doch gesagt, sie sollten warten.«
»Wir müssen alle essen«, informierte ihn ein flachshaariger Zehnjähriger.
»Inspektor«, Kai traten Tränen in die blauen Augen. »Tut mir leid, dass ich Ihre ...«
»Schon gut.« Kraus zog sich der Magen zusammen, während er in die Tasche griff und dem frisch gebackenen Häuptling der Roten Apachen einen Fünfmarkschein in die Hand drückte. »Du musst mir eins versprechen, Kai: Sobald sie wieder auftauchen, bringst du sie in mein Büro, okay? Und nimm nicht die Straßenbahn.« Als Kraus in seinem Büro an seinem Schreibtisch saß und sich auf seinem Stuhl zurücklehnte, hatte er das Gefühl zu ertrinken. Als würde er so weit heruntergezogen, dass er gleich implodieren müsste. Immer weiter hinab ... Ihm fiel ein, dass er sich auf diese Art und Weise fast das Genick gebrochen hatte, und als er den Stuhl wieder auf alle vier Beine stellte, schien auch sein Körper wieder an die Oberfläche katapultiert zu werden. Hoch, immer weiter hoch ... Aus seiner Brust, seiner Kehle, seinem Mund drang ein lautloser Schrei, dem eine Panikattacke folgte. Wie soll ich ohne Erich leben? Ich werde auch Vicki verlieren. Sie wird mir das niemals verzeihen. Was tun diese Mistkerle diesen Kindern an? O Gott, wenn sie ihnen weh tun ...
Er knirschte mit den Zähnen, während er gleichzeitig den Stuhl umklammerte. Die Wanduhr sagte ihm, dass es noch nicht ganz Mittag war. Vielleicht ging es ihnen ja noch gut. Möglicherweise litten sie nur Todesangst. Die Jungen aus Magdas Verlies haben sich ja auch wundersamerweise erholt, rief er sich ins Gedächtnis. Obwohl nur Gott wusste, unter welchen Folgeschäden sie später leiden würden. Er schlug auf den Schreibtisch und zwang sich nachzudenken. Denk nach! Er hatte die ganze Stadt nach diesen verdammten Turm-Laboratorien auf den Kopf gestellt.
Eine schlaksige Gestalt tauchte auf, so groß, dass sie gerade durch die Tür passte, eine Gestalt mit eingefallenen Schultern und hängendem Kopf. Als Gunther das Kinn hob, begegnete sein Blick dem von Kraus. Dann stolperte der große Junge ins Büro und sank auf die Knie, wie ein gefällter Gigant.
»Ich habe versagt«, jammerte Gunther. Seine knochigen Schultern zuckten. »Ich habe unter Feuer die Nerven verloren.«
Kraus holte tief Luft. Noch vor zwei Stunden hatte sein Assistent ihn in seiner Angst fast ertränkt. Aber darüber konnte er jetzt nicht nachdenken. Und Gunther auch nicht. Dafür hatten sie keine Zeit.
»Das ist ganz normal.« Kraus legte dem zitternden jungen Mann einen Arm um die Schultern. »Hören Sie zu, Gunther. Wer unter solchen Umständen nicht zerbricht, ist kein Mensch. Viel wichtiger ist, dass man sich wieder zusammenreißt, wenn es vorbei ist und man sich erholt hat.«
Gunther konnte sich nicht beruhigen. »Ich habe mich immer für so tapfer gehalten. Aber als dieses Blut über mein Gesicht gespritzt ist ... Ich hatte keine Ahnung, dass es so sein würde ...«
Kraus atmete noch einmal durch. »Es wird alles gut, Gunther.« Er musste den Mann schleunigst auf die Beine bringen. Es war zwölf Uhr.
»Und dann, im Wasser, habe ich nur daran gedacht, meinen Kopf über Wasser zu halten. Bitte verzeihen Sie mir. Bitte.«
Kraus konnte es nicht mehr hören. »Um Himmels willen, Gunther!« Er schrie so laut, dass sämtliche Beamte vor seinem Büro zu ihnen herübersahen. »Sie bringen mich mit Ihrem Geheul ja noch mal um.«
Ein Abgrund des Schweigens tat sich auf, und die Uhr schlug in diesem Moment zwölf. Gunther sah ihn verblüfft an. So hatte Kraus noch nie mit ihm geredet, aber die Geduld des Inspektors war am Ende. Er litt selbst zu sehr, und jede Minute war die reinste Qual.
»Mein Sohn und der Sohn meines Nachbarn sind verschwunden. Verstehen Sie das? Können Sie mir helfen, die beiden wiederzufinden? Ich habe jetzt wirklich nicht die Zeit, Sie zu bemuttern.«
Der junge Mann stand auf und wischte sich die Augen. Seine Garderobe war ebenso mitgenommen wie die von Kraus.
»Machen Sie sich nützlich.« Kraus blinzelte. »Gehen Sie zu Ruta und bitten Sie sie, unsere Jacketts zu bügeln oder was auch immer. Hier, nehmen Sie meins mit.« Er knöpfte es hastig auf, wurde langsamer, als ihm Gunther plötzlich leidtat und er weich wurde. »Wir können schließlich nicht herumlaufen, als hätten wir in einem Kanal gebadet.«
Gunther schniefte und versuchte ein zaghaftes Lächeln.
Bevor Kraus sein Jackett ausziehen konnte, wehte eine starke Whiskyfahne durch das Zimmer, der Fritz folgte. Er stürmte förmlich herein, riss sich den Umhang von den Schultern und warf ihn Gunther zu, als wäre der Kriminalassistent ein Kammerdiener. Gunther stand einfach nur da und starrte den Mantel an.
»Ich bin ja so ein Schwachkopf.« Fritz ließ sich krachend auf einen Stuhl fallen. Seine blauen Augen waren gerötet vom Alkohol. »Weil ich dir so einen Ärger mit Vicki eingebrockt habe. Wie dumm von mir! Und dann kann ich mir nicht einmal annähernd vorstellen, was du jetzt durchmachen musst. Der arme Erich!« Fritz legte sich die Hand aufs Herz, griff mit der anderen Hand in seine Jackentasche und zog eine Zigarettendose heraus. »Ich bin so erschüttert, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll.« Er zündete sich eine Zigarette an.
»Bitte, Fritz.«
»Ich weiß. Das ist jetzt nicht der richtige Moment für mein schlechtes Gewissen.« Fritz atmete den Rauch aus, nickte verständnisvoll und zupfte sich dabei Tabakkrümel von der Zunge. »Aber hör zu, ich werde es wiedergutmachen. Ich werde dir helfen, diese Kinder zu finden, okay? Du hast mir bei Passchendaele und Cambrai und Soissons und in Rheims den Arsch gerettet, und dann noch in ...«
Der Name jeder einzelnen Schlacht wirkte wie eine Zündschnur in Kraus’ Kopf, bis er einfach explodierte.
»Würdest du jetzt endlich die Klappe halten!« Er sprang auf und starrte mit gerötetem Gesicht seinen alten Kriegskameraden an. Fritz war zwar noch nicht so betrunken, wie er es manchmal sein konnte, aber er war auf dem besten Weg dahin. »Glaubst du wirklich, dass ich ausgerechnet jetzt Lust habe, mir Kriegsgeschichten aus Passchendaele und Cambrai anzuhören? Mein Sohn ist seit zwanzig Stunden in den Händen einer Psychopathin. Ich muss ihn retten.«
Als Kraus die Gesichter von Fritz und Gunther sah, sagte er sich, dass er besser seinen eigenen Rat befolgen und die Klappe halten sollte, aber das konnte er nicht.
»Von dem Augenblick seiner Geburt an«, Kraus holte tief Luft, »haben Vicki und ich alles Menschenmögliche getan, um dafür zu sorgen, dass er behütet und geliebt wird und gesund und sicher aufwächst. Und jetzt, in nur wenigen Tagen, wie aus dem Nichts ...« Seine Stimme brach. »Solche Verletzungen. Erst diese verdammten Nachbarn und jetzt ...« Er schluckte. »Jede Sekunde sind diese Jungs ... O mein Gott, wenn sie auch nur ...!«
Er sank an seinem Schreibtisch zusammen, vergrub den Kopf zwischen den Händen und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Sein ganzer Körper zuckte, seine Schultern verkrampften sich, Tränen traten ihm aus den Augen. Jede Faser seines Körpers zitterte um seinen Sohn.
Äußerlich gab er allen anderen, nur nicht sich selbst die Schuld. Aber tief in seinem Innersten hegte er keinerlei Illusionen, bei wem die Schuld lag. Er hatte sich immer, jedenfalls in seiner Vorstellung, als liebendes Elternteil aufgespielt und insgeheim Leute wie Ottos Schwager für ihre perversen Erwartungen und seelenzermarternden Grausamkeiten kritisiert. Aber wenn er Erich wirklich so sehr geliebt hätte, dann wäre der Junge doch jetzt in Sicherheit – oder etwa nicht?
Eine feste Hand packte seine Schulter. Fritz kauerte neben ihm.
»Willi, auf meine etwas dümmliche Art und Weise habe ich versucht, dir zu sagen ... Hier, ich meine diesen Brief.«
Fritz zog etwas aus seiner Jacke und wedelte damit herum.
»Du kennst doch meine Freundin, die Baroness. Natürlich kennst du sie, sie war im Admiralspalast, an jenem Abend, als wir Josephine Baker gesehen haben. Jedenfalls ist ihre Schwester mit dem Direktor der Preußischen Akademie der Wissenschaften Unter den Linden verheiratet, einem Dr. Siegfried Sonnenfeldt. Vor mindestens sechs Monaten, als ich diese Geschichte hörte, hatte dieser Sonnenfeldt einen Brief aus Moskau erhalten, von einem gewissen Dr. Vyrzhikowsky oder so ähnlich, dem Direktor der sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Er behauptete, ein Kollege aus Leningrad wüsste von einem deutschen Wissenschaftler in Berlin, der ungeheuerliche Verbrechen begehen würde. Ich bin gerade von Sonnenfeldt gekommen, und er hat mir gesagt, dass das stimmte. Er hat das deutsche Begleitschreiben Vyrzhikowskys zusammen mit dem russischen Original des Briefes aus Leningrad an einen Kriminalbeamten hier im Berliner Polizeipräsidium geschickt, schon vor Monaten, aber nie eine Antwort erhalten. Aber Sonnenfeldts Sekretärin hat eine Kopie des Begleitbriefs angefertigt und sie mir geborgt.«
Fritz zog den Brief aus dem Umschlag und begann zu lesen:
Sehr geehrter Herr Dr. Sonnenfeldt,
als Kollege schicke ich Ihnen ein dringliches Schreiben meines Kollegen, des hoch geschätzten Vorsitzenden der physiologischen Abteilung am Institut für Experimentalmedizin in Leningrad. Es ist von größter Bedeutung, dass Sie diesen Brief so schnell wie möglich an einen fähigen Polizeibeamten weiterleiten. Da ich weiß, dass es bei Ihnen an russischen Emigranten nicht mangelt, erspare ich mir die Zeit, den Brief zu übersetzen. Sollte sich herausstellen, dass die schrecklichen Behauptungen, die dieser Dr. Spiegel in seinem Turm in Berlin erhebt, mehr als nur reine Erfindung sind, genügt es zu sagen, dass sie ein Verbrechen darstellen, das in den Annalen der wissenschaftlichen Geschichte beispiellos ist. »Ich verstehe nicht.« Kraus hatte sich aufgerichtet und wischte sich das Gesicht ab. »Was steht denn in diesem Brief aus Leningrad so Wichtiges?«
»Sonnenfeldt hatte keine Ahnung. Der Brief ist in Russisch abgefasst.«
Kraus seufzte, bereit, das alles als eine von Fritz’ trunkenen Phantasien abzutun, wenn da nicht der Turm erwähnt worden wäre.
»Also gut, an wen im Präsidium hat Sonnenfeldt denn diesen Brief geschickt?«
»Du wirst es nicht glauben, Willi: an Hans Freksa.«
Kraus hob verzweifelt die Hände. »Dann weiß nur Gott, wo er jetzt begraben liegt. In diesem Gebäude gibt es mehr Akten als im Nationalarchiv.«
»Ich werde ihn finden.« Gunther trat vor und warf Fritz seinen Mantel zu. »Wenn dieser Brief per Post gekommen ist, muss er durch die zentrale Annahmestelle gegangen sein, und zufälligerweise stehe ich mit einem der Mädchen da unten ziemlich gut.«
Fritz legte sich den Umhang über die Schultern und knöpfte ihn zu. »Und wenn er auf Russisch ist, wirst du einen hervorragenden Übersetzer benötigen. Madame Grzenskya, die du ganz sicher auf einer unserer Partys getroffen hast, war früher Kammerzofe der Zarin.«
Kraus saß einfach nur da und dachte: Großartig, Jungs, setzt euren männlichen Charme ein. Vögelt sie, bis sie schreien, wenn es sein muss. Aber bringt mir, was ich brauche. Und zwar schnell.
Er holte tief Luft und sah ihnen nach, als sie hinausgingen.
Als ein paar Minuten später zwei Jungen in der Tür auftauchten, von denen der eine etwas dicker war als der andere, wäre er fast vom Stuhl gesprungen, bis er erkannte, dass es nicht Heinz und Erich waren, sondern die Puppenjungs, Milo und Dolf, die Kai nachdrücklich ins Zimmer schob. Sie hatten wild abstehende Haare und wirkten fast wie Tiere; ihre runden, scharfen Augen verrieten, dass sie ganz eindeutig nicht besonders glücklich darüber waren, hier gelandet zu sein.
»Zufrieden, dass Sie uns das Mittagessen versaut haben?« Der Dürre wandte sich furchtlos an Kraus. »Ich war bei einem echten Millionär auf der Motzstraße, bis der Kerl hier an die Tür gehämmert hat.«
Kraus bewunderte unwillkürlich den Mumm des Jungen. Gleichzeitig tat er ihm leid, weil er wusste, dass auf der Motzstraße keine Millionäre lebten. Er langte trotzdem in seine Tasche, als er begriff, worum es ging. Aber Kai hielt ihn auf.
»Er bekommt seine Entschädigung, bevor er auch nur einen einzigen Knopf öffnet.« Der Häuptling versetzte seinem Untergebenen eine Kopfnuss. »Das haben wir ihm beigebracht. Und jetzt sag ihm, was passiert ist, Dolf. Es sei denn, du willst nicht, dass diese Hexe endlich erwischt wird.«
Dolf reagierte zwar mürrisch, schien aber einzulenken. »Also gut.« Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Es ist so gewesen, Inspektor. Milo und ich kamen von unserer Lieblingsbäckerei auf der Kochstraße zurück, als plötzlich dieser Eiswagen vorfuhr. Wir sind zwar klein, aber wir sind nicht dumm. Wir wissen, was passiert ist, und wir haben gesehen, dass die Rothaarige hinter dem Steuer saß, diese Frau mit der schlechten Haut, ganz in Weiß gekleidet, genau wie wir es gehört haben. Sie hat uns ganz lieb gefragt, ob wir Eis haben wollten, kostenlos, weil sie es loswerden müsste, bevor sie den Wagen wieder zurückbrachte. ›Fick dich, Hexe!‹, hat Miro geschrien, und dann haben wir beide angefangen zu rufen: ›Kinderfresser! Kinderfresser!‹ Da ist sie ganz schnell weggefahren, aber in dem Moment kam ein Lieferwagen, und wir sind auf das Trittbrett gesprungen und haben uns festgehalten und ganz dicht an das Auto gepresst, so dass sie uns nicht sehen konnte. Vielleicht zehn Straßen weiter ist der Lastwagen nach links abgebogen, deshalb mussten wir abspringen, damit wir sie nicht aus den Augen verlieren.«
Kraus fragte sich mittlerweile, ob er hier vielleicht selbst verschaukelt wurde und die beiden hungrigen Kinder nicht einfach nur irgendetwas erfanden für die Aussicht auf eine warme Mahlzeit.
»Zum Glück kam eine Straßenbahn, die in dieselbe Richtung fuhr, also sind wir aufgesprungen und auf der Kupplung zwischen den Waggons mitgefahren, bis zur Landsberger Allee.«
Kraus richtete sich auf. Landsberger Allee! »Und dann?«
»Dann haben wir sie aus den Augen verloren«, erklärte Dolf.
Sie verloren? Kraus’ Mund wurde trocken.
Der kleine Milo schüttelte jedoch den Kopf. »Ich habe sie nicht verloren. Ich habe gesehen, wohin sie gefahren ist.«
»Wohin, Milo? Wohin ist sie gefahren?«
»An diesen großen Ort mit den Mauern, wo sie all die Tiere töten.«
»Dieser Brief stammt von einem der berühmtesten Wissenschaftler der Welt.« Madame Grzenskya nahm die altmodische Brille von ihrem stark geschminkten Gesicht. »Der Direktor der Physiologischen Abteilung des Institutes für Experimentalmedizin in Leningrad ist niemand anders als Iwan Petrowitsch Pawlow.«
Pawlow, dachte Kraus. Das ist doch der Kerl, der Hunde für seine Experimente benutzt hat.
»Können Sie ihn uns bitte vorlesen, Madame ...«
Die Grzenskya kniff die Augen zusammen, während sie ihre juwelengeschmückte Brille hochhielt, dann riss sie die Augen auf, kniff sie anschließend noch enger zusammen – eine überaus dramatische Einleitung.
»›Ein höchst bestürzender Brief‹«, sie modulierte ihre Stimme bedeutungsvoll, »›ist Anfang der Woche in meinem Büro eingetroffen, und ich habe ihn umgehend ins Feuer geworfen.‹« Sie deutete die Tat mit einer Handbewegung an. »›Ein Schicksal, das aller unwillkommenen Korrespondenz widerfährt, die ich erhalte, vor allem von sogenannten Tierliebhabern. Als wäre ich nicht tierlieb! Ich verehre das erhabenste aller Tiere, und was ich tue, tue ich nur in seinem Dienste.‹«
Kann denn niemand, dachte Kraus, während er unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte, nicht einmal ein Nobelpreisträger, auf den Punkt kommen?
»›Doch noch Tage, nachdem dieser Brief in Flammen aufgegangen war, brannte die Nachricht in meinem Kopf weiter. Ich wollte nicht glauben, dass ein solcher Mann tatsächlich ein Wissenschaftler sein könnte, aber seine detaillierte Kenntnis meiner Arbeit ließen an seinem Sachverstand keinerlei Zweifel. Er nannte sich selbst Dr. Spiegel, ohne einen Vornamen zu nennen; die Absenderadresse lautete Turm-Laboratorien, Wasserstraße, Berlin.‹«
Ein Donnerschlag schien durch Kraus’ Hirn zu hallen. »Gunther, hol das Straßenverzeichnis und such nach jeder Wasserstraße in dieser Stadt – es müssen mindestens ein halbes Dutzend sein.«
»Wie wahr.« Die Grzenskya ließ ihre Brille sinken. »Diese hiesige Art und Weise, Straßennamen doppelt zu verwenden ...«
»Würden Sie bitte einfach fortfahren!«, fauchte Kraus.
Die Grzenskya zuckte zusammen. Wie konnte er es wagen, so mit ihr zu reden! Mit einer Hofdame der Romanows! Sie reckte jedoch nur hoheitsvoll das Kinn vor und setzte die funkelnde Brille wieder auf ihre Nase.
»›Dr. Spiegels Brief war in makellosem Russisch verfasst‹,«, fuhr sie sachlicher fort. »›Entweder kennt der Mann unsere Sprache ganz ausgezeichnet, oder er hatte einen hervorragenden Übersetzer ... Obwohl jeder, dem vor Augen gekommen wäre, was er schrieb, ganz gewiss zur Polizei gegangen wäre. Der Brief begann mit einem Lobgesang auf mich, und zwar nicht nur mit überschwänglichem Lob, sondern mit einem grandiosen, fast schon pathologischen Lobgesang. Er bezeichnete mich als einen der größten Wissenschaftler, den die menschliche Rasse jemals hervorgebracht hätte und der mehr als jeder andere dazu beigetragen hätte, den cartesianischen Mythos zu zerstören, dass Körper und Seele voneinander getrennt wären. Er kam erst nach vielerlei Umschweife zur Sache, dass er, indem er auf meine Schultern gestiegen wäre, so oder so ähnlich drückte er sich aus, weit über das hinausgelangt wäre, was ich jemals hätte erreichen können.‹
Was für eine Frechheit!«, platzte die Grzenskya unwillkürlich heraus, tat dann jedoch so, als hätte sie sich nur geräuspert.
»›Bis ins letzte Detail erklärte er, wie er in Berlin meinen berühmten Turm des Schweigens neu geschaffen hätte, der für die Experimente, die ich durchführe, so notwendig ist.‹«
Die Erkenntnis, wo sich dieser Turm befand, traf Kraus plötzlich wie ein Blitzschlag. Natürlich! Wieso war er nicht schon früher darauf gekommen? Wo sonst war Ilse mit ihrem Eiswagen hingefahren? Und von wo war all das ausgegangen? Als er das erste Mal dort gewesen war, war er ihm aufgefallen, dieser riesige, neogotische Koloss, der angeblich schon seit Jahren verlassen war – der alte Wasserturm des Centralviehhofs. Direktor Gruber selbst hatte gemeint, er könnte einen Schauplatz aus einem Vampirfilm darstellen.
»›Seine Experimente bewiesen zweifellos‹,«, die Grzenskya wurde bei jedem Satz, den sie las, blasser, »›dass die Großhirnrinde und ihre Substrukturen, genau wie ich vermutet habe, die Quelle aller höheren Nervenaktivitäten sind. Dass ich nicht in der Lage gewesen wäre, einen eindeutigen Beweis dieser Hypothese zu liefern, läge daran, dass ich meine Experimente auf Katzen und Hunde beschränkt hätte. Ungehindert von solchen Beschränkungen jedoch wäre ihm der Nachweis gelungen, indem er ...‹« Hier schien ihr Kehlkopf vollkommen seinen Dienst zu versagen, und ihr Gesicht war selbst unter den diversen Schminkeschichten bleicher als das Papier des Briefs. Die Grzenskya ließ die Brille langsam sinken, sah Kraus an und stieß dann hervor, »›Menschen für seine Experimente benutzt hätte, genauer, Kinder zwischen sieben und vierzehn Jahren.‹«
Spiegel, dachte Kraus. Spiegel bedeutet Reflexion. Dr. Spiegel.
»Weißt du, wer perfekt Russisch spricht?« Fritz’ Gesicht hatte sich verfinstert.
»Wenn wir in den Schädel hineinblicken könnten, würden wir vielleicht sehen, wie eine Person denkt ...« Kraus konnte sich noch genau an seine Worte erinnern.