DREIUNDDREISSIG
Auf einem terrassenförmigen Hügel im ältesten Park der Stadt, dem Volkspark Friedrichshain, stand der Märchenbrunnen, Berlins größtes Denkmal für die Kindheit. Ein Wasserbecken mit vier Kaskaden war von neobarocken Arkaden umringt, die eine verzauberte Welt bildeten, voll von Travertinstatuen aus den Märchen der Gebrüder Grimm: Aschenputtel, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen ... ein bürgerlicher Schrein für Jugend und Fantasie, der vor dem Krieg mit großem Pomp enthüllt worden war. Kraus konnte sich noch sehr genau daran erinnern, wie er ihn das erste Mal mit seiner Schwester Greta besucht hatte. Damals war er achtzehn gewesen, hatte bereits die Aufnahmeprüfungen zur Universität absolviert, hielt jedoch die Ergebnisse noch nicht in Händen. Das war ein recht unangenehmer Schwebezustand auf seinem Lebensweg gewesen, wenn auch nicht zu vergleichen mit dem, was noch kommen sollte. Greta und er hatten Stunden in diesem Park verbracht, hatten die Statuen begutachtet und ihre Hände in die Becken gehalten, während Erinnerungen an die Zeit, als ihr Vater ihnen Märchen vorgelesen hatte, sie Mutters Kekse gegessen und lange Spaziergänge im Tiergarten unternommen hatten, sie überfluteten.
Als Kraus jetzt die Gesichter seiner Kinder betrachtete, wurde er jedoch nicht in die Vergangenheit zurückversetzt, sondern in die sonnige Gegenwart. Er vermochte das Glück nicht in Worte zu fassen, das er empfand, als er seine beiden Söhne wieder miteinander spielen sah, ihr Gelächter hörte, während sie mit den Wasser speienden Froschstatuen spielten. In einem Punkt hatte von Hessler recht behalten: Erich konnte sich nicht an seine Entführung erinnern. Nur noch an den Eiswagen, der neben ihnen angehalten, und an die Hände, die nach ihm gegriffen hatten. Dann war er erschöpft im Bett aufgewacht. Es blieb abzuwarten, welche Langzeitfolgen dieses Erlebnis zeitigen würde. Aber nach einem Monat war er anscheinend wieder vollkommen erholt und heiter. Wenn Kraus das doch nur von sich selbst auch hätte sagen können.
Es war ein warmer Oktobersonntag. Vicki und er saßen nebeneinander auf einer Bank am Springbrunnen, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, ob sie zu spät zum Geburtstag ihres Großvaters kamen oder die Jungs sich möglicherweise beim Spielen ihre Hosen schmutzig machten. Das wäre vor einem Monat noch anders gewesen. Diese Tortur, die sie hatten durchmachen müssen, hatte ihnen beiden die Vergänglichkeit des Lebens bewusster gemacht. Jetzt saßen sie nebeneinander und atmeten gleichmäßig im herbstlichen Sonnenschein. Nur Kraus’ Berühmtheit störte den Frieden.
»Inspektor Kraus, hab ich recht? Wie wundervoll! Würden Sie für ein Foto mit mir und meiner Frau posieren?«
Nachdem von Hessler hinter Gitter gebracht und der Rest des Falles öffentlich gemacht worden war, war Kraus zum berühmtesten Kriminalbeamten von Deutschland geworden. Sein Gesicht tauchte nicht nur in Nachrichtensendungen in ganz Europa, sondern sogar in Amerika auf. Die Berliner Illustrierte hatte eine Titelgeschichte über ihn gebracht. Und mehr als ein berühmter Produzent hatte Kontakt mit ihm aufgenommen und nachgefragt, ob er nicht in einem Film mitspielen wollte. Allein die Idee fand er schon lächerlich; wahrscheinlich würde er das Publikum in Tiefschlaf versetzen. Andererseits, wenn auch Conrad Veidt mitspielte ...
Immerhin, das gestand Kraus sich zu, hatte er in diesem Fall gute Arbeit geleistet. Außerdem hatte er eine Beförderung für sich herausgeholt und darüber hinaus einen verdammt guten Assistenten bekommen – also war es letztlich für ihn ein glückliches Ende. Der einzige Haken war natürlich die Hirtin. Sie war bis jetzt nicht gefunden worden. Man hatte sie nirgendwo gesehen und nach dem Feuer keine einzige Spur von ihr entdeckt, auch keine Überreste. Aber andererseits waren auch die sterblichen Überreste der Jungen im obersten Geschoss, die in ihren Glaskäfigen in jener Nacht eingesperrt gewesen waren, niemals identifiziert worden. Der ganze Turm war in einer Flammenhölle zusammengebrochen. Es hatte zahllose Zeugen gegeben, die diese mittlerweile berüchtigte Rothaarige gesehen haben wollten: in Frankfurt, in Leipzig, beim Mittagessen auf dem Potsdamer Platz. Aber da ihr Bild, ein altes Ausweisfoto, in ebenso vielen Zeitungen aufgetaucht war wie das von Kraus, war er persönlich davon überzeugt, dass die letzte Überlebende der Köhler-Geschwister sich hüten würde, ihr Gesicht noch einmal in Deutschland zu zeigen, falls sie überhaupt ihre Flucht durch das verqualmte Treppenhaus überlebt hatte.
Der Fall war gelöst. Gott sei Dank.
Aber nicht aller Verdienst gebührte Kraus.
Zwei Tage, nachdem er seinen Sohn wiederbekommen hatte, schlenderte Kraus über den Alexanderplatz zu der Stelle, wo die Statue der mittlerweile entfernten Berolina einmal gestanden hatte. Kai und seine Roten Apachen waren immer noch da, scharten sich um das leere Podest, lachten und sangen zu einer Gitarre, die einer von ihnen irgendwie organisiert hatte. Kraus nahm den Jungen zur Seite und bedankte sich bei ihm aus vollem Herzen.
»Aber wirklich, Inspektor.« Kai war nicht nur überrascht, sondern gerührt. »Sie haben mir geholfen. Ich habe Ihnen geholfen.« Sein rosa geschminkter Mundwinkel zitterte ein wenig. »So sollte es doch sein, nicht wahr?«
Seit der Junge die »Häuptlingswürde« angenommen hatte, schien er nicht nur an Selbstvertrauen gewonnen zu haben, sondern auch an Größe. Er ist bestimmt fünf Zentimeter gewachsen, schätzte Kraus. Seine Schultern wirkten breiter, sein Gesicht voller. Er trug immer noch Make-up, aber nicht mehr so viel wie vorher. Aus irgendeinem Grund wirkte es jetzt weniger wie eine Maske, sondern mehr wie ein Erkennungsmerkmal.
»Was du getan hast, erforderte Mut, Kai. Wärst du nicht gewesen, wäre ich jetzt tot. Und mein Sohn auch. Und außerdem noch viele andere Jungen.«
»Ich weiß einfach, wie es ist, wenn man Angst hat, das ist alles.« Kai sorgte dafür, dass keiner der anderen Jungen ihre Gespräche belauschen konnte. »Ich habe die Angst in Ihren Augen gesehen. Man denkt nicht klar, wenn man zu viel Angst hat. Also dachte ich mir, ich sollte besser ein bisschen auf Sie aufpassen.«
»Du wirst ein großartiger Anführer werden.« Kraus griff in seine Tasche. »Und ich finde, dein Mut sollte nicht unbelohnt bleiben.«
Er zog eine kleine Samtschachtel hervor und gab sie Kai. Er hatte während des Krieges zahlreiche Orden bekommen, nicht nur ein Eisernes Kreuz, sondern auch den goldenen Verdienstorden des Staates Preußen, Pour le Mérite. Das Malteserkreuz war blau emailliert und mit Gold bordiert. Auf dem oberen Balken war ein gekröntes F für Friedrich der Große eingraviert, und in den drei anderen die Worte Pour le Mérite. In den Winkeln befanden sich goldene Adler. Der Orden an sich war ein kleines Kunstwerk, und Kraus hatte vorgehabt, ihn seinen Söhnen zu schenken. Aber Kai hatte ihn verdient.
»Sie wollen mir das schenken?« Mascara flatterte in Streifen von seinen Augenlidern.
»Als eine Art Ehrenabzeichen.« Kraus salutierte und schlug klackend die Absätze zusammen. »Sollten es die Zeiten jemals erfordern, Kai«, murmelte er, während er dem Häuptling den Orden an die Brust heftete, »dürfte er ein üppiges Sümmchen auf bestimmten Märkten einbringen, wenn du weißt, was ich meine.«
Kinderlachen mischte sich in das Rauschen des Märchen-Springbrunnens. Aber Kraus fühlte sich bei aller Dankbarkeit auf dieser sonnigen Parkbank alles andere als glücklich. Zwischen ihm und Vicki klaffte immer noch eine stumme Kluft, und dieser Umstand schmerzte ihn höllisch.
Obwohl sie es bestritt, wusste er, dass sie nicht aufhören konnte, sich selbst die Schuld für das zu geben, was passiert war. Dass sie geschlafen hatte, während Heinz und Erich weggelaufen waren. Ebenso wenig konnte sie aufhören, die Winkelmanns dafür verantwortlich zu machen, dass sie die Jungen in eine Situation gebracht hatten, der sie zu entfliehen versucht hatten. Vor allem jedoch gab sie Kraus die Schuld ... weil er das alles überhaupt auf sie herabbeschworen hatte. Und er konnte diese Distanz zwischen ihnen nicht länger ertragen. Er sehnte sich selbst nach der kleinsten Berührung von ihr.
»Also gut, gehen wir.« Vicki klatschte in die Hände und sah zu, wie die Jungs vom Brunnenrand sprangen.
Die beiden waren sehr aufgeregt, weil sie nach dem Mittagessen zu einer Woche Ferien bei ihrer Tante und ihren Großeltern aufbrechen würden, und rannten fast den ganzen Weg zurück. Kraus hoffte, dass Vicki und er sich wieder versöhnten, wenn sie erst einmal weg waren.
Am Café am Teich, von dem aus man einen Blick über den Schwanenteich hatte, war es so warm, dass die Gottmanns Max’ vierundfünfzigsten Geburtstag auf der großen Terrasse feiern konnten. Rote Blumen blühten immer noch hier und da, obwohl bereits die ersten herbstlich gefärbten Blätter von den Bäumen herunterfielen. Alle schienen ausgezeichnete Laune zu haben, vor allem Max.
»Man singt ja Lieder über Paris im Frühling, Jungs.« Er schlang einen Arm um seine Enkel. »Aber wartet nur, bis ihr die Stadt im Herbst seht!«
»Ich liebe dein neues Kostüm, Vic«, erklärte ihre Schwester Ava und strich mit ihren Fingern über den Stoff.
Kraus sah, wie glücklich sich Vicki im Schoß ihrer Familie fühlte, und er beneidete sie nicht zum ersten Mal ein wenig darum. Gerade gestern erst hatte er die Gräber seiner Eltern auf dem großen jüdischen Friedhof in Weißensee besucht. Als er über die Pfade zwischen den großen Mausoleen aus schwarzem Marmor mit ihren vergoldeten Buchstaben und den Jugendstilmosaiken gegangen war, hatte er darüber nachgedacht, wie stolz sie darauf gewesen sein mussten, dass sie eine wenn auch winzige Grabstätte hier hatten erwerben können. Denn sie wussten, dass sie auf demselben Friedhof ihre letzte Ruhe finden würden wie zahlreiche Philosophen, Poeten und Kaufhausmagnaten.
»Was wir machen, wenn wir da sind?« Bette Gottmann wiederholte Stefans Frage. »Laut lachen, mein Kind, wie die Pariser das tun. Dann werden wir einen netten kleinen Besuch bei deiner Großtante machen, der Schwester meiner Mutter, die du ja schon einmal getroffen hast. Aber du kannst dich bestimmt nicht mehr an sie erinnern.«
»Mutter.« Ava ließ ihre Gabel sinken. »Da war er sechs Monate alt.«
»Danach werden wir zur Galerie Lafayette gehen und euch neue Kleidung kaufen. Ihr könnt nicht in deutscher Garderobe in Paris herumlaufen; sie wirkt dort immer ein bisschen altbacken.«
Vickis Mutter konnte gar nicht genug von Paris bekommen, das wusste Kraus, aber diesmal fühlte sich ihre Aufregung ein bisschen aufgesetzt an. Sie konnte ihren Wunsch, Berlin, und sei es auch nur für eine Woche, zu entkommen, kaum verbergen. Man konnte es ihr auch schwerlich verübeln. Denn die Anspannung hier in der Stadt ließ nicht nach, nicht einmal eine Stunde.
»Habt ihr Montagabend Radio gehört?« Ava brachte das Thema am Ende des Essens schließlich zur Sprache. »Habt ihr schon jemals etwas so Groteskes erlebt?« Sie sah die anderen der Reihe nach an.
Selbstverständlich spielte sie auf die Übertragung der Eröffnungssitzung des Reichstags an, zu der alle neuen Naziabgeordneten in Stulpenstiefeln und Uniformen aufgetaucht waren und sämtliche Beiträge mit lauten Zwischen- und Buhrufen unterbrochen hatten. Sie hatten ihrer Erklärung Nachdruck verliehen, dass sie nicht gekommen waren, um zu stützen, was zusammenzubrechen drohte, sondern um es endgültig niederzureißen. Das Parlament war nunmehr vollkommen gelähmt, es fanden nur noch Grabenkämpfe statt.
»Muss das sein, Liebling?«, bat ihre Mutter und streckte die Hand aus, um den Schal ihrer Tochter neu zu richten.
Aber Ava schien nicht bereit, die aktuellen Ereignisse einfach zu ignorieren. »Wenigstens kann man stolz auf Thomas Mann sein.« Sie schob die Hand ihrer Mutter weg.
Auf einer Sitzung der Preußischen Akademie hatte Deutschlands prominentester Schriftsteller den Demokraten zugerufen, ihre Differenzen zu überwinden und sich gegen die Bedrohung durch die Nazis zu vereinen. Selbst eine Rotte der Sturmabteilung, die sich in den Saal eingeschlichen hatte, hatte ihn nicht an seiner Rede hindern können, obwohl er Polizeischutz gebraucht hatte. Trotzdem, diese reaktionäre Welle hatte zweifellos eine Wirkung auf Berlins kulturelles Leben. Als bei der Premiere von Im Westen nichts Neues Stinkbomben eine Hysterie auslösten, hatten die Behörden, anstatt Widerstand zu leisten, eine frühere Entscheidung widerrufen und den Film als »schädlich für die öffentliche Moral« deklariert. Damit hatten sie sämtliche weiteren Vorführungen verboten.
»Das liegt am Börsenkrach.« Max faltete seine Serviette immer kleiner. »Die Menschen denken nicht mehr rational.«
»Selbst an der Universität«, räumte Ava ein, »glauben intelligente Leute, irgendetwas ›Mystisches‹ an den Nazis feststellen zu können.«
Die Geschwindigkeit ihres politischen Aufstiegs war allerdings tatsächlich bemerkenswert. Die Sozialdemokraten hatten jahrzehntelang um einen Block von Reichstagssitzen kämpfen müssen. Die Nazis hatten ein Viertel der Sitze bei einer einzigen Wahl erobert. Die Leute sagten, ein solcher Triumph könnte nicht auf gewöhnliche Weise erklärt werden. Sondern es wäre ein Wunder. Es hätte etwas Schicksalhaftes.
Kraus’ Cousin Kurt nannte es eine neurotische Abwehrhaltung in nationalem Ausmaß und gab sich keine Mühe, seine Niedergeschlagenheit über diese Tatsache zu verbergen. Er diagnostizierte einen Minderwertigkeitskomplex bei den Deutschen, der sie dazu brachte, ständig überzukompensieren und sich selbst mit einem Gefühl der Überlegenheit zu täuschen. Und wenn sich die Realität dann nicht mit ihren aufgeblasenen Egos deckte, gerieten sie in Wut. Es wäre genau die Art von Neurose, meinte Kurt, die es ihnen unmöglich machte, die Verantwortung für ihr eigenes Unglück zu übernehmen; daher bräuchten sie einen Sündenbock, dem man die Schuld an jeglichem Missgeschick aufbürden könnte.
Es bestand keinerlei Zweifel daran, wer dieser Sündenbock war.
Sicher, an ihrem zweiten Tag im Parlament verzichteten die Nazidelegierten auf ständige Buhrufe und machten sich an die Arbeit. Sie brachten eine ganze Reihe von antisemitischen Gesetzentwürfen ein, die in ihrem Ausmaß und Umfang selbst eingefleischte Judenfeinde beeindruckten. Ziel war die komplette »Eliminierung des jüdischen Einflusses« in Deutschland ... und zwar in allen Berufen und auf allen Regierungsebenen und im öffentlichen Dienst. Einschließlich der Polizei. Auch wenn eine solche Maßnahme wie die Ariergesetze nur minimale Chancen hatte, verabschiedet zu werden, fürchtete Kurt, dass, falls sich die wirtschaftliche Situation nicht stabilisierte, die Lage der sechshunderttausend Juden in Deutschland möglicherweise bald ziemlich bedrohlich werden könnte.
Kraus hatte in seinem Leben weit mehr Antisemitismus erlebt als Kurt, der als Psychiater in einem praktisch rein jüdischen Institut arbeitete. Aber auch wenn Kurts Analyse extrem klang, hegte Kraus viel Respekt für seine psychologischen Einsichten. Er hatte bei dem Kinderfresser-Fall ins Schwarze getroffen. Kraus war im Augenblick sehr empfindlich, was die Sicherheit seiner Familie anging, deshalb musste er darüber nachdenken, was zu tun war, falls sie dieses Land jemals verlassen mussten. Wohin sollten sie sich wenden? Sollte er zu seiner Schwester nach Palästina reisen? Die Briten hatten gerade die jüdische Immigration dorthin eingeschränkt. Und letztes Jahr waren zahllose Juden während der Araberaufstände in Stücke gehackt worden.
Natürlich war die Nazipartei noch weit davon entfernt, Deutschland zu beherrschen. Je größer die Bewegung wurde, desto mehr Risse tauchten darin auf. Erst neulich hatten Braunhemden der SA ihr eigenes Hauptquartier zertrümmert, weil sie über ihre spärlichen Wurstrationen wütend waren. Man hatte die Berliner Polizei rufen müssen, um zu verhindern, dass sie sich gegenseitig umbrachten. Alles schien möglich.
»Um Himmels willen«, warf Vickis Mutter ein und reichte eine große Schwarzwälder Torte herum. »Es ist Papas Geburtstag. Muss das wirklich sein?«
»Mama hat recht.« Vicki nahm ihr das Messer ab. »Reden wir doch über die Familie. Wie geht es Tante Hedwig und Onkel Albrecht?« Sie schnitt Kraus ein Tortenstück ab.
»Hervorragend.« Vickis Mutter zupfte an ihren Perlenketten. Trotz des Themenwechsels schien sie sich immer noch unbehaglich zu fühlen. »Aber erinnert ihr euch an dieses nette junge Paar neben ihnen, die Liebmanns? Das ist ja so schrecklich. Neulich ist er direkt nach dem Frühstück tot umgefallen.«
Vicki stellte den Kuchen weg. »Du meinst den Apotheker? Der mit der Brille?«
»Neununddreißig. Er hat seinen Toast gegessen und ist anschließend einfach tot umgefallen.«
Vicki warf Kraus einen kurzen Seitenblick zu. »Wie schrecklich.«
Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, als sie Erich und Stefan zum Abschied umarmten, die Tür von Gottmanns Mercedes schlossen und ihnen eine gute Reise wünschten. Als der Wagen davonfuhr, winkte Ava ihnen glücklich durch das Heckfenster zu. Sie war immer begeistert, wenn sie die Gelegenheit bekam, die Jungs zu bemuttern.
Als sie den Park verließen und die Schatten länger und länger wurden, rückte Vicki dichter an Kraus heran und schob dann langsam ihre Finger in seine Hand. Erleichterung durchströmte ihn, als sie den Kopf an seine Schulter lehnte. Dann blieben sie stehen, umarmten sich und standen lange regungslos dar.
»Ach, Willi. Ich habe so große Angst, dich zu verlieren.«
»Schh. Ich gehe nirgendwohin.«
»Aber du machst nie ...«
»Schh.«
Während sie auf die Straßenbahn warteten, versank die Sonne hinter den Bäumen, und ein kühler Wind frischte auf. Vicki schob ihre Hand in seine Jackentasche, damit Kraus sie warm hielt. Er blickte über geschäftige Alleen und sah die vielen Kamine, die sich auf dem Gelände des Centralviehhofs erhoben. Einen Moment lang war die Welt so, wie sie sein sollte.
Dann hämmerte etwas gegen sein Hirn.
Trommeln.
Und Trompeten. Klingende Glockenspiele.
Um die Ecke der Landsberger Allee bog eine braun-schwarze Mauer, die den Verkehr lahmlegte und eine Menge Schaulustige anzog. Die Uniformierten gingen jeweils zu viert nebeneinander, Stiefel knallten auf den Asphalt, und Fahnen zeigten Hakenkreuze auf blutrotem Grund. Die Präzision der Uniformierten erinnerte Kraus an die Tiller Girls in jener Nacht im Admiralspalast, in der Josephine Baker aufgetreten war. Die Zuschauer hier waren ebenfalls von der Gleichförmigkeit und Exaktheit der Bewegungen verblüfft.
Als die Abteilung schließlich an ihnen vorbeimarschierte, sahen sie, dass diese Reihe nicht aus disziplinierten jungen Männern bestand, sondern aus Kindern. Kraus hatte sie schon einmal gesehen, jugendliche Legionäre, denen sich Deutschland angeblich anschließen sollte, die Flugblätter verteilten und in den Sportpalast einmarschierten. Aber er hatte sie bislang nicht aus der Nähe wahrgenommen. Diese Jugendlichen hatten noch nicht einmal Flaum an ihrem Kinn. Einige wirkten kaum älter als Erich, und die Trommeln waren fast so groß wie sie selbst. Aber ihre Gesichter wirkten wie stählerne Mausefallen, die zugeschnappt waren, ihre Augen glühten wie Hochöfen, als wüssten sie nichts und sähen nichts als den erbitterten Feind vor sich.
Ihre Augen hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Blick von Irmgard und Otto an dem Morgen, als Heinz gestorben war.
Der arme, süße Nachbarsjunge. Kraus hatte ihn in jener Nacht vor den Flammen gerettet, aber anders als Erich und die anderen hatte er das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Die Schlafmittel, die von Hessler in seinen Körper gepumpt hatte, hatten ihn in ein Koma versetzt, aus dem er nicht wieder erwachte. Als Heinz schließlich gestorben war, verblasste ihr früherer Zwist angesichts des Hasses und der Wut, die ihre Nachbarn jetzt über sie ausschütteten. Dass sie ihre freundschaftliche Beziehung beendet hatten, das betonten sie wiederholt, war nur eine Frage des Selbstschutzes gewesen. Doch jetzt, nach dem Tod ihres einzigen Sohnes, schien ein uralter Hass an die Oberfläche zu steigen, wie aus einem tiefen, dunklen Brunnen.
»Es ist also wahr, was man sagt, ihr kümmert euch nur um euch selbst. Es ist euch gelungen, Erich zu retten, aber unser Junge ist tot. Das auserwählte Volk!«
»Wahnsinn«, sagte Vicki jetzt beim Anblick der Jugendlichen mit ihren penibel gekämmten Haaren und den grimmigen Gesichtern, die an ihnen vorbeimarschierten. »Ich verstehe das nicht, Willi. Was wollen sie denn? Noch einen Krieg?«
»Sie sind nicht einmal alt genug, um sich an den letzten Krieg zu erinnern«, erwiderte Willi und zog Vicki an sich. Er hielt sie fest und sah plötzlich nicht nur diese mechanisch marschierenden Reihen von trotzigen Jugendlichen, sondern all die heimatlosen, hungrigen Kinder von Berlin. Die Neun- und Zehnjährigen, die sich in der Lindenpassage aufgestellt hatten. Die elenden Gesichter auf dem illegalen Fleischmarkt hinter ihren stinkenden Fässern. Die erbärmlichen Sklaven in Magda Köhlers Horrorkabinett. Selbst den kleinen, pausbäckigen Heinz Winkelmann – mit brennendem Gesicht von einer Ohrfeige. All die Bestrafungen, die Rohrstöcke und Peitschen, die Prügel und Schläge. Das brutale Bestehen auf Unterwerfung. Ich hätte lieber einen toten Sohn als einen ungehorsamen.
»Willi, bitte, können wir jetzt gehen?« Vicki umklammerte seine Hand.
Er nahm ihren Arm und wollte losgehen, doch in diesem Moment ratterte die Straßenbahn um die Ecke. Sie sprangen auf, ergatterten zwei Plätze, sahen nach draußen auf diese grimmigen Kinder und hörten, wie sie Himmel und Erde mit ihrem Lied erschütterten:
Wir sind die Hitlerjugend
Und helfen euch befrei’n
Wir steh’n mit unserem jungen Blut
Für Volk und Heimat ein!