8

Am Festtag des Apostels Matthäus wurde die Tochter Andreis und Agnetes von Vater Tomislav in seiner Kirche getauft. Der Name, den sie sich erwählt hatte, war Dragomir. In Dänemark war daraus Dagmar geworden, was bedeutet: Tagmädchen.

Groß stand sie vor dem Altar, in Weiß gekleidet wie zu ihrer Hochzeit, die rötlichen Locken eingeflochten und bedeckt, wie es sich für eine Frau im Haus Gottes schickt. Neben ihr standen ihr Vater, für diesen Augenblick noch einmal aus dem Krieg zurückgekehrt, seine Frau Jelena, Iwan Subitsch und seine Frau. Das dunkle kleine Gebäude war voll von Bewohnern der Zadruga und den Verwandten aus Liri, so viele sich nur hineindrängen konnten. Ganz vorn stand Luka mit einem Ausdruck hoffnungsloser Sehnsucht. Hinten stand Tauno. Einige hatten gesagt, es sei nicht richtig, ihn hereinzulassen, aber der Priester hatte erwidert, er sei ihr Bruder, und bei diesem Ritus könne viel Unvorhergesehenes geschehen. Vielleicht – wer konnte es wissen? – löste der Anblick durch plötzliche Gnade das Siegel in seiner Brust. Tauno hatte die Arme verschränkt. Sein Gesicht war ausdruckslos.

Kostbar war der Weihrauch, der die Luft erfüllte, ein Geschenk des Zhupans. Glühend war das Gebet, das Tomislav eigens für diesen Anlaß sprach, und leuchtend sein Gesicht, als er zum Niederknien aufforderte, das Wasser nahm und auf Eyjans Stirn das Kreuz zeichnete. »Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«

Dagmar keuchte und wäre beinahe gefallen. Andrei legte die Arme um sie und hielt sie aufrecht. Den Blick zum Himmel gerichtet, flüsterte er: »Agnete, freue dich.«

Dann war es schnell vorbei. Dagmar vergoß Tränen, aber nur, weil sie keine andere Möglichkeit hatte, ihre Seligkeit zu äußern. Das Schluchzen verstummte, als sie sich erhob, und nachdem sie alle umarmt hatte, schritt sie in aufrechter Haltung hinaus.

Das Wetter war für die Jahreszeit zu kalt geworden. Der Wind trieb Wolken über einen bleichen Himmel und seufzte in Blättern, die schnell die Farbe wechselten. Schatten kamen und gingen. Leute, die an der Tür gewartet hatten, drängten sich herbei, um Dagmar zu segnen und in der Christenheit willkommen zu heißen. Sie hatten ein bescheidenes Festmahl vorbereitet. Am Morgen mußten die Besucher abreisen – sie zum Hafen, wo die Brynhild zum Segeln bereit war.

Tauno, der den, der sein Vater gewesen war, kaum gegrüßt hatte und in der Kirche nicht niedergekniet war, stand abseits unter einer Kiefer. Es dauerte einige Zeit, bis Dagmar sich von den Menschen, die ihr Glück wünschten, freimachen und zu ihm treten konnte. Niemand folgte ihr, denn er stand da wie ein böses Vorzeichen, in grober Kleidung und mit einem Speer bewaffnet.

Sie blieb vor ihm stehen und hielt ihm ihre Hände entgegen. Er rührte sich nicht. Ihr Schleier und ihr Gewand flatterten wild und drückten den Stoff gegen Hüften und Busen. Trotzdem war sie jungfräulich. Vielleicht lag es an einer inneren Feierlichkeit, die kein Wesen aus dem Feenreich je kennenlernen würde.

Da er weiterhin schwieg, holte sie Atem und sagte: »Ich danke dir, daß du gekommen bist. Ich wünschte, ich wüßte, was ich sonst noch sagen könnte.«

»Ich mußte meiner Schwester doch Lebewohl sagen«, antwortete er. »Sie war mir teuer.«

Ihre Lippen zitterten. »Aber ich bin deine Schwester!«

Er schüttelte den Kopf. »Du bist eine Fremde. Aye, wir, die wir einen Mutterleib geteilt haben, teilen auch Erinnerungen. Doch Dagmar ist keine Meerfrau; sie ist eine Heilige.«

»Nein, das darfst du nicht glauben. Dieser Tag heiligt mich wie ein Kind, das durch die Taufe in die christliche Herde aufgenommen wird ... aber ich werde immer wieder straucheln ... wenn ich auch hoffe, daß ich dann bereuen und Verzeihung erlangen werde.«

»Da hat nicht Eyjan gesprochen«, stellte er trocken fest.

Sie ließ den Kopf hängen. »Dann weist du die Erlösung von dir?« Er lehnte sich auf seinen Speer. »Wenigstens kannst du mich nicht daran hindern, für dich zu beten, Tauno.«

Er verzog das Gesicht. »Ich habe nicht den Wunsch, dir Schmerz zu bereiten.«

»Ich wäre so froh, wolltest du mit mir nach Hause kommen.«

»Nein. Ich habe hier ein bestimmtes Versprechen zu erfüllen. Aber warum wartest du nicht bis zum Frühling? Jetzt könnte es eine stürmische Fahrt werden.«

»Wir stehen in Gottes Hand. Ich muß zu meinem rechtmäßigen Mann, damit er nicht in seinen Sünden stirbt.«

Tauno nickte. »Du bist wahrhaft Dagmar. Nun, grüße sie beide von mir, und möge das Glück mit euch allen schwimmen.«

Er drehte sich um und ging in den Wald. Sobald er außer Sicht war, rannte er wie gehetzt los.

 

Nada war nicht auf der Lichtung, wo sie und Tauno sich für gewöhnlich trafen, und auch nirgendwo in der Nähe. Er strengte seine Sinne an, die von Feenart waren, fand jedoch nur die denkbar schwächste Spur. Oft war sie unterbrochen, und er mußte in weitem Umkreis suchen, bis er sie wieder aufnehmen konnte. An dem dauernden Hin und Her und anderen Merkmalen erkannte er, daß sie wie verrückt umher-getobt sein mußte, und das machte ihm Angst.

Er brauchte zwei Tage und Nächte, bis er sie entdeckte. Das geschah am Abend des Äquinoktiums. Bis dahin war er außer sich und taumelte vor Müdigkeit.

Die Kälte hatte zugenommen und fraß sich durch die windstille Luft. Der Himmel war niedrig und eintönig grau. Sie stand am Ufer des Sees, der sich stählern vor einem braun und gelb gewordenen Wald erstreckte. Nur hier und da war ein blutfarbener Ahorn oder ein dunkles Immergrün zu sehen, viele Äste waren schon ganz kahl Sie stand da – winzig, verloren, ein bleicher Hauch.

»Nada, oh, Nada«, rief er und stolperte auf sie zu. Seine Stimme war heiser vom vielen Rufen während seiner Suche.

»Tauno, Geliebter!« Sie eilte in seine Arme. Er legte sie mit äußerster Vorsicht um ihre Zartheit. Sie fühlte sich beinahe so gefroren an wie der Tag und zitterte an seiner Brust. Ihre Tränen vermischten sich, als sie sich küßten.

»Wo bist du gewesen?« fragte er. »Was ist los?«

»Ich hatte Angst ...« hauchte sie.

Er fuhr zusammen. »Wovor?«

»Daß du nicht zurückkommen würdest ...«

»Liebling, du wußtest doch, ich würde zurückkommen ...« »... bevor ich untergehen muß.«

»Untergehen?«

»Ich hätte mich nicht fürchten sollen. Es tut mir leid. Ich hätte dir vertrauen sollen. Aber ich konnte nicht besonders gut denken, es war so trostlos.« Sie drückte sich noch enger an ihn. »Du bist hier.«

Erschreckt fragte er in ihre Distelflaumlocken: »Was hast du gemeint? Was mußt du tun?«

»Untergehen. Im See oder einem Fluß. Wußtest du das nicht?« Sie strebte von ihm fort, ganz sacht, aber doch deutlich genug, daß er es merkte. Er gab sie frei, und sie trat einen Schritt zurück, um ihn anzusehen. Was in ihren großen Augen an Blau gelegen hatte, war fast verblaßt.

»Im Winter ist die Sonne auf dem Wasser nicht zu hell für mich«, berichtete sie ihm, »aber der kahle Wald bietet mir keinen Schutz mehr vor ihr. In den Tiefen finde ich Schatten. Sicher hast du davon gehört.«

»Ja ...« Er blickte nach Osten. Der Speer, den er fallen gelassen hatte, lag zwischen ihnen. »Ja, aber ...«

»In früheren Jahren konnte ich länger wachbleiben. Dieser Herbst geht sofort in den Winter über.« Ein totes Blatt trieb von seinem Zweig vor ihre Füße.

»Wann mußt du gehen?«

Sie schlang die Arme um ihre Schultern vor Kälte. »Bald. Heute. Wirst du im Frühling hier sein, Tauno?«

Er löste seinen Gürtel. »Ich werde bei dir bleiben.«

Sie schüttelte den Kopf. Jetzt, da er zitterte und stammelte, hatte sie eine seltsame Klarheit gewonnen (und sah sie nicht durchscheinender als je aus, wie ein Nebelgeist?). »Nein, Liebster. Ich werde in Träumen dahintreiben. Du könntest mich selten aufwecken und nie für lange. Und in dieser Grabesstille gibt es nichts, was du in deinem Meer gewohnt warst. Du würdest wahnsinnig werden.«

Er fuhr fort, seine Kleider abzulegen. »Ich kann von Zeit zu Zeit an Land gehen.«

»Ich glaube, das wäre schlimmer, als wenn du während der ganzen dunklen Zeit dort bliebest.«

Eine Weile sah die Vilja den Sohn des Wassermanns unverwandt an. Sie war weise geworden, die kleine Nada, in dieser Dämmerung ihres Jahres.

»Nein«, entschied sie endlich. »Warte auf meine Rückkehr. Das ist mein Wunsch.« Nach einer weiteren Pause: »Aber warte nicht in den Wäldern. Gehe zu den Menschen ... denn wir haben in diesen Bergen keine Elfenfrauen wie die, von denen du mir erzählt hast ... und wie oft habe ich dein Verlangen gesehen, das ich niemals stillen kann. Meine Träume dort unten werden glücklicher sein, wenn ich weiß, du bist mit einem lebendigen Menschen zusammen.«

»Ich will keinen.«

Entsetzen packte sie. Sie duckte sich wie unter einer Peitsche und jammerte: »Oh, Tauno, was habe ich dir angetan? Geh, solange du es noch kannst. Komm niemals zurück!«

Er ließ das letzte Kleidungsstück fallen. Sein Messer lag über dem Speerschaft, und er trug nichts mehr als den Geisterknochen. Sie wich noch weiter zurück und bedeckte die Augen. »Geh, geh«, flehte sie. »Du bist zu schön.«

Wie sich hohe Wellen vereinigen, traf ihre Verzweiflung auf seine und überwältigte ihn. »Bei den Netzen Rans«, stieß er hervor, »du bist mein! Ich mache dich dazu.«

Er sprang vor und packte sie. Sie entzog ihren Mund seinen wilden Küssen. »Es ist der Tod für dich!« schrie sie.

»Wieviel besser ist es zu sterben ... dann ist alles vorbei ...«

Sie kämpften miteinander. Er war sich unklar bewußt, daß er zu wild mit ihr war, aber er war besessen. »Nada«, hörte er sich selbst rasen, »ergib dich, sei gut zu mir, das ist es, was ich will, und du wirst dich erinnern ...«

Sie hatte sich aus seinem Griff gelöst, sie war ihm entschlüpft wie der Wind. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte auf das welke Gras. Als erden Kopf hob, sah er sie mehrere Schritte entfernt. Sie stand weiß vor dem farblosen Wasser und Himmel, den dunklen Bäumen, der gnadenlosen Kälte, in der sich um sie keine Atemwolke zeigte. Von ihrer rechten Hand hing der Talisman.

Er richtete sich auf und taumelte in ihre Richtung. Sie glitt zurück. »Ich kann dir leicht davonlaufen«, warnte sie. »Lieber ist mir, wenn ich es nicht tun muß.«

Er hielt inne und blieb schwankend stehen. »Ich liebe dich«, entrang es sich ihm.

»Ich weiß«, sagte sie mit unendlicher Zärtlichkeit. »Und ich liebe dich.«

»Ich wollte dir nichts antun. Ich wollte nur einmal, ein einziges Mal, wirklich mit dir zusammen sein – wenn wir uns für immer trennen müssen.«

»Es gibt einen dritten Weg.« Ganz ruhig war sie geworden; sie lächelte. »Du hast mir von diesem Ding erzählt. Ich werde hineingehen, und dann kannst du mich immer bei dir haben.«

»Nada, nein!«

»Kann ich mir mehr Glück erhoffen, als an deinem Herzen zu liegen? Und vielleicht wird eines Tages ...« Sie brach ab. »Bleib stehen, wo du bist, Tauno«, bat sie. »Laß mich dich ansehen, so lange ich kann, und das soll das Hochzeitsgeschenk sein, das du mir gibst.«

Er konnte nicht einmal weinen.

Zuerst richtete sie ihre Augen ebensooft auf ihn wie auf das Stück Knochen aus eines toten Mannes Schädel, das sie in der Hand hielt. Aber langsam ergriff der Vogel aus der anderen Welt Besitz von ihr, bis sie schließlich nur noch auf ihn schaute, der über den zunehmenden Mond flog. Tauno sah, wie ihre jungfräuliche Gestalt immer geisterhafter wurde, bis er die Wildnis durch sie erkennen konnte, bis sie nur noch ein ganz schwacher Schimmer in der sich herabsenkenden Dunkelheit war. Und dann war sie verschwunden. Der Talisman fiel zu Boden.

Er blieb noch eine Viertelstunde auf dem gleichen Fleck stehen, bis er es fertigbrachte hinzugehen. Er nahm das Amulett auf, küßte es und hängte es wieder dahin, wohin es gehörte.