3
In den acht Jahren, die sie unter Wasser lebte, gebar die schöne Agnete sieben Kinder. Das war weniger, als eine Meerfrau vollbracht hätte, und vielleicht hatte die unausgesprochene Verachtung dieser Frauen sie ebenso auf das Land zurückgetrieben, wie die Glocken der kleinen Kirche und der Anblick strohgedeckter Holzhäuser sie angezogen hatten.
Denn wenn auch das Seevolk wie andere Bewohner des Feenreichs das Altern nicht kannte (als entschädige sie Der, Dessen Namen sie nicht nannten, auf diese Weise für das Fehlen unsterblicher Seelen), so hatte ihr Leben doch seine Härten. Haie, Mörderwale, Zahnwale, Rochen, Seeschlangen und ein Dutzend anderer tödlicher Fische jagten sie; die Geschöpfe, die wiederum von ihnen gejagt wurden, waren oft gefährlich; heimtückische Winde und Wellen konnten ihnen den Tod bringen; viele wurden ein Opfer von giftigen Zähnen und Stacheln, von Kälte, Krankheit und Hunger. Besonders galt das für die Kinder. Man mußte damit rechnen, bis auf einige wenige alle zu verlieren. Der König hatte mit denen, die seine menschliche Gefährtin ihm schenkte, Glück gehabt. Hinter seinem Haus waren nur drei Gräber, auf denen er die Seeanemonen nie hatte sterben lassen.
Die vier Kinder, die übriggeblieben waren, trafen sich in den Ruinen von Liri. Um sie lagen in chaotischen Haufen die Überreste der Halle und der geringeren Heimstätten. Schon welkten die Gärten, schon zerstreuten sich die Fischherden. Trümmerstücke schwammen umher, Krabben und Garnelen schwärmten durch die Nahrungsvorräte, wie an Land die Raben über eine Leiche herfallen. Der Treffpunkt war dort, wo die Haupttür gewesen war. Der Albatros lag schwingenlos. Der freundliche Herr Ägir war auf das Gesicht gefallen, die Herrin Ran, die Menschen in ihren Netzen fängt, stand grinsend oben. Das Wasser war kalt, und die Wellen, die über ihnen ein Sturm aufgewirbelt hatte, schluchzten um Liri.
Die Kinder des Wassermanns waren unbekleidet, wie es unter Wasser außer bei Festen üblich war. Doch sie hatten sich mit Messern, Harpunen, Dreizacks und Stein- und Knochenäxten versorgt, um gegen die Bedrohung gewappnet zu sein, die sie außerhalb ihres Gesichtskreises enger und enger einschloß. Keines von ihnen sah ganz und gar nach Seevolk aus. Aber die älteren drei hatten die hohen Wangenknochen, die schrägen Augen und im Falle der beiden Jungen die Bartlosigkeit ihres Vaters geerbt. Sie kannten die dänische Sprache und einiges vom Leben der Dänen, aber als sie sich jetzt unterhielten, taten sie es nach Art des Seevolks.
Tauno, der älteste unter ihnen, ergriff das Wort. »Wir müssen uns entscheiden, wohin wir gehen wollen. Schwer war es schon, dem Tod zu wehren, als alle noch hier waren. Allein halten wir es nicht lange durch.«
Er war auch der größte, hochgewachsen, breit in den Schultern, vom lebenslangen Schwimmen mit Muskeln bepackt. Sein Haar, von einem mit Perlen besetzten Stirnband zusammengehalten, fiel ihm bis auf die Schlüsselbeine. Es war gelb mit einem ganz leichten Hauch von Grün. Seine Augen waren bernsteinfarben und standen weit auseinander. Mund und Kiefer unter der stumpfen Nase waren schwer. Da Tauno viel Zeit an der Oberfläche oder an Land verbracht hatte, war seine Haut braun.
»Sollen wir denn unserm Vater und unserm Stamm nicht folgen?« fragte Eyjan.
Sie zählte neunzehn Winter. Für eine Frau war auch sie groß. Ihre Kraft lag unter den vollen Kurven ihrer Brüste, Hüften und Schenkel verborgen, bis sie einen Liebhaber fest an sich drückte oder eine Lanze in ein sich herumwälzendes Walroß trieb. Sie hatte die weißeste Haut, denn ihr Haar war bronzerot. Bis auf Schulterlänge floß es an ihren kühnblickenden grauen Augen und dem regelmäßig geschnittenen Gesicht vorbei.
»Wir wissen nicht, wohin sie gegangen sind«, erinnerte Tauno sie. »Weit weg muß es sein, denn das hier waren die letzten guten Jagdgründe, die rund um Dänemark für unsere Art noch übriggeblieben waren. Sicher können andere Stämme des Seevolks, die in der Ostsee oder entlang der norwegischen Küste leben, ihnen unterwegs weiterhelfen, aber für so viele zusätzliche Leute, wie es die von Liri sind, haben sie keinen Platz. Das Meer ist sehr groß für eine Suche, meine Schwester.«
»Wir können uns doch aber erkundigen«, fiel Kennin ungeduldig ein. »Sie werden Spuren hinterlassen. Die Delphine wissen bestimmt, in welche Richtung sie sich gewandt haben.« Ein Funkeln sprang in seine Augen und machte sie noch sommerblauer als sonst. »Ha, welch eine Gelegenheit umherzustreifen!«
Er zählte sechzehn Winter, war noch nicht weit von zu Hause fort gewesen und spürte nur den jugendlichen Drang, die Welt jenseits des Horizonts zu erkunden. Er hatte seine volle Größe noch nicht erreicht und würde niemals groß oder breit werden. Andererseits war er ein beinahe ebenso behender Schwimmer wie die vollblütigen Wassermänner. Sein Haar war von einem grünlichen Braun, sein Gesicht rund und sommersprossig, sein Körper mit den farbenprächtigsten Mustern bemalt, die die Bewohner von Liri kannten. Seine Geschwister trugen keine Bemalung. Tauno war zu düsterer Stimmung, Eyjan hatte immer die Mühe gescheut, die dies kostete, und Yria war schüchtern.
Diese Jüngste flüsterte: »Wie kannst du scherzen, wenn ... wenn ... alles verschwunden ist?«
Die anderen scharten sich enger um sie. Für sie war Yria immer noch die Kleine, in ihrer Wiege von einer Mutter zurückgelassen, der sie ständig ähnlicher wurde. Sie war klein und schmal, ihre Brüste begannen eben erst zu knospen. Ihr Haar war golden, ihre Augen blickten riesig aus dem spitzen Gesicht mit den leicht geöffneten Lippen. Stets hatte sie sich von Lustbarkeiten ferngehalten, soweit dies der Tochter eines Königs möglich war; nie war sie allein mit einem Jungen weggegangen. Jeden Tag hatte sie Stunden damit verbracht, die weiblichen Künste zu erlernen, über die Eyjan nur spottete, und weitere Stunden in der Kuppel, die einmal Agnete gehört hatte, wo sie mit Agnetes Schätzen spielte. Oft lag sie auf den Wellen, blickte zu den grünen Hügeln und den Häusern am Strand hinüber, lauschte dem Glockengeläut, das das christliche Volk zum Gebet rief. In letzter Zeit war sie mit diesem oder jenem ihrer eigenen Art, wenn diese es erlaubten, mitgegangen, war im Dämmerlicht über einen Strand gehuscht oder hatte sich hinter einem vom Wind verkrüppelten Baum, im Heidekraut versteckt wie ein furchtsamer Schatten.
Eyjan umarmte sie schnell und rauh. »Du hast einen zu großen Anteil von unserm sterblichen Erbe mitbekommen«, erklärte die ältere Schwester.
Taunos Gesicht war finster. »Das ist eine schreckliche Wahrheit. Yria ist nicht stark. Sie kann nicht schnell schwimmen und ohne Ausruhen und Essen auch nicht weit. Und wenn wir von Tieren angegriffen werden? Wenn der Winter uns fern von den warmen, seichten Gewässern überrascht? Wenn die aus Liri Vertriebenen sich zur Arktis durchschlagen? Ich weiß nicht, wie wir sie auf unsere Reise mitnehmen können.«
»Können wir sie nicht bei irgendwelchen Pflegeeltern hierlassen?« fragt Kennin.
Yria schmiegte sich in Eyjans Arme. »O nein, nein«, flehte sie. Es war kaum zu hören.
Kennin wurde über seine eigene Torheit rot. Tauno und Eyjan sahen sich über die gebeugten Schultern ihrer kleinen Schwester hinweg an. Es gab nur wenige unter dem Seevolk, die einen Schwächling aufnehmen würden, wo doch die Starken schon genug Mühe hatten, für sich selbst zu sorgen. Hin und wieder mochte ein Wassermann es tun, aber dann geschah es aus Verlangen. Sie konnten nicht wirklich hoffen, einen zu finden, der dieses Kind haben wollte, wie ihr Vater eine bestimmte erwachsene Jungfrau begehrt hatte, und etwas Gutes taten sie dem Kind damit auch nicht an.
Tauno mußte seine ganze Willenskraft zusammennehmen, um es auszusprechen. »Ich glaube, bevor wir aufbrechen, sollten wir Yria am besten zu dem Volk unserer Mutter bringen.«