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Der alte Priester Knud wurde von einem Klopfen aufgeweckt. Er kletterte aus seinem Alkovenbett und legte, im Dunkeln umhersuchend, sein Gewand an, denn das mit Asche bedeckte Herdfeuer spendete kaum Licht. Dann tastete er sich zur Tür. Seine Knochen schmerzten, seine Zähne klapperten vor Kälte. Er fragte sich, wer im Sterben liegen mochte. Er hatte jeden Spielgefährten überlebt ... »Ich komme, in Jesu Namen, ich komme.«

Der Vollmond war spät aufgegangen. Er warf eine quecksilberne Brücke über das Kattegat und ließ den Tau auf den Hausdächern glitzern. Aber die beiden sich kreuzenden Straßen von Alsen lagen in völliger Finsternis, und das Land dahinter war zum Tummelplatz für Wölfe und Trolle geworden. Merkwürdig ruhig waren die Hunde, als fürchteten sie sich zu bellen. Die ganze Nacht war von knisternder Stille erfüllt. Nein, irgendwo ertönte ein Geräusch. Es klang hohl. Ein Pferdehuf? Das Höllenpferd, das zwischen den Gräbern weidete?

Vier standen in einer Wolke aus ihrem eigenen Atem, so ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit war die Nacht. Vater Knud holte tief Atem und bekreuzigte sich. Er hatte, außer dem einen, der in seine Kirche gekommen war, niemals Meerleute gesehen – es sei denn, ein in seiner Kindheit erhaschter flüchtiger Blick war mehr als ein wundersamer Traum gewesen. Doch was konnten die da anderes sein? Er hatte genug Berichte von denen unter seinen Pfarrkindern gehört, die sich dann und wann mit ihnen trafen. Die Gesichtszüge des Mannes und der Frau zeigten diesen fremdartigen Schnitt, bei dem Jungen fiel es weniger auf, und dem Mädchen war kaum etwas davon anzumerken. Doch auch von ihr tropfte schimmerndes Wasser, auch sie trug ein Hemd aus Fischhaut und hielt einen Speer mit Knochenspitze in der Hand.

»Ihr, ihr, ihr müßtet doch ... fort sein.« Die Stimme des Priesters klang dünn in der frostigen Stille.

»Wir sind Agnetes Kinder«, erklärte der große Mann. Er sprach Dänisch mit einem singenden Akzent, der in der Tat, so dachte Knud, wild, ausländisch klang. »Ihres Erbteils wegen hat der Zauber uns nicht berührt.«

»Kein Zauber – ein heiliger Exorzismus ...« In Gedanken rief Knud Gott an. Er straffte die mageren Schultern. »Ich bitte euch, werft keinen Zorn auf meine Pfarrkinder. Es war weder ihr Werk noch ihr Wunsch.«

»Ich weiß. Wir haben ... einen Freund gefragt, was geschehen ist. Bald gehen wir fort. Doch zuerst möchten wir Yria in Eure Pflege geben.«

Das und auch die Tatsache, daß die nackten Füße seiner Besucher, wie er sehen konnte, von menschlicher Form waren, erleichterte den Priester ein wenig. Er bat die vier herein. Sie folgten ihm ins Haus, und sie rümpften die Nase über den Schmutz und die Gerüche in dem einzigen Raum, dessen sich das Pfarrhaus rühmen konnte. Knud schürte das Feuer, zündete ein Binsenlicht an, stellte Brot, Salz und Bier auf den Tisch und setzte sich – die Besucher füllten die Bank – auf einen Schemel, um mit ihnen zu reden.

Lange dauerte dieses Gespräch. Auch als er schon versprochen hatte, sein Bestes für das Mädchen zu tun, dauerte es noch an. Ihre drei Geschwister würden eine Zeitlang verweilen, um sich dessen zu vergewissern. Er sollte Yria jeden Abend in der Dämmerung zum Strand gehen lassen, damit sie sich mit ihnen treffen konnte. Vater Knud bat sie inständig, ebenfalls an Land zu bleiben, aber das wollten sie nicht. Sie küßten ihre Schwester und nahmen Abschied. Yria weinte leise und hoffnungslos, bis sie einschlief. Der Priester deckte sie zu und versuchte, auf der Bank noch ein bißchen zu schlafen.

Am nächsten Tag und je weiter der Sommer fortschritt, war Yria besseren Mutes. Schließlich war sie ganz fröhlich. Agnetes Verwandte hielten sich von ihr fern und fürchteten sich zuzugeben, daß sie ihr Blut in sich trug. Aber Vater Knud sorgte so gut für sie, wie es seine mageren Mittel erlaubten. Er half, daß die anderen Halbblutkinder bei ihren regelmäßigen Treffen – schnell wurden sie zu kurzen Begegnungen – frischgefangene Fische mitbrachten. Für Yria war das Land so neu und wundervoll, wie sie selbst es für die Jugend des Dörfchens war. Es dauerte nicht lange, und sie war tagsüber der Mittelpunkt einer übermütigen Schar. Was die Arbeit anging, so wußte sie nichts über menschliche Pflichten, aber sie war willig zu lernen. Kirsten Pederstochter unterrichtete sie im Weben und meinte, sie könne ein ungewöhnliches Geschick erwerben.

In der Zwischenzeit hatte der Priester einen jungen Mann nach Viborg geschickt und anfragen lassen, was mit dem Mädchen geschehen solle. Konnte ein Halbblut getauft werden? Er betete darum, dem möge so sein, denn andernfalls wußte er nicht, was aus dem armen, lieben Ding werden sollte. Der Bote war schon zwei Wochen weg; sie mußten im Bischofssitz sämtliche Bücher wälzen. Endlich kehrte er zurück, diesmal zu Pferde, begleitet von Wachen, einem klerikalen Famulus und dem Profos.

Knud hatte Yria in der Christenlehre unterrichtet, und sie hatte ihm mit großen Augen und meistens schweigend zugehört. Jetzt prüft Erzdiakon Magnus sie im Pfarrhaus. »Glaubst du wahrhaftig an den einen Gott«, fuhr er sie an, »den Vater und den Sohn, der Unser Herr und Heiland Jesus Christus ist, und den Heiligen Geist, der von ihnen ausgeht?«

Seine Strenge schüchterte Yria ein. »Ich verstehe es noch nicht so recht«, flüsterte sie, »aber ich glaube, guter Herr.«

Nach weiterer Befragung teilte Magnus unter vier Augen Knud mit: »Es kann nichts schaden, sie zu taufen. Ein unvernünftiges Tier ist sie nicht, obwohl sie dringend weiterer sorgfältiger Unterweisung bedarf, bevor sie konfirmiert werden kann. Ist sie ein Köder des Teufels, wird das heilige Wasser sie von hinnen treiben; ist sie nichts weiter als seelenlos, wird Gott einen Weg finden, es uns wissen zu lassen.«

Die Taufe wurde für den kommenden Sonntag nach der Messe angesetzt. Der Erzdiakon gab Yria ein weißes Kleid, das sie anziehen sollte, und wählte den Namen einer Heiligen für sie: Margrete. Ihre Furcht vor ihm verlor sich ein wenig, und sie stimmte zu, die Nacht vom Samstag zum Sonntag im Gebet zu verbringen. Am Freitag nach Sonnenuntergang drängte sie ihre Geschwister, zum Gottesdienst zu kommen – die Priester würden es sicher erlauben, weil sie auch sie zu gewinnen hofften –, und sie weinte, als Tauno, Eyjan und Kennin ihr die Bitte abschlugen.

Und so kniete Yria an einem Morgen, als der Wind weiße Wolken über den Himmel jagte und die Wellen tanzten und glitzerten, vor den Bewohnern von Alsen in der Holzkirche unter dem Schiffsmodell, das im Mittelschiff aufgehängt war, während Christus über dem Altar hing. Vater Knud führte sie und die Paten durch das Ritual, schlug das Kreuz über ihr und verkündete voller Freude: »Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«

Sie schrie auf. Ihre leichte Gestalt fiel in sich zusammen. Aus den

Kirchenbänken waren das Zischen scharf eingezogenen Atems, ein paar Schreie und heisere Rufe zu hören. Der Priester bückte sich, vergaß seine Steifheit in seiner Hast und zog sie an sich. »Yria!« rief er. »Was fehlt dir?«

Sie keuchte und blickte sich um, und in ihren Augen stand ein großes Nichtbegreifen. »Ich ... bin ... Margrete«, sagte sie. »Wer seid Ihr?« Profos Magnus ragte über ihnen auf. »Wer seid Ihr?«

Knud wandte seine von Tränen überfließenden Augen dem Erzdiakon zu. »Bedeutet das, daß sie – daß sie tatsächlich seelenlos ist?«

Magnus wies auf den Altar. »Margrete!« sprach er sie mit soviel Eisen in der Stimme an, daß das rauhe Fischervolk verstummte. »Sieh dahin! Wer ist das?«

Ihr Blick folgte dem knotigen Finger. Sie erhob sich auf die Knie und schlug das Kreuz. »Das ist unser Herr und Heiland Jesus Christus«, antwortete sie in ziemlich festem Ton.

Magnus hob die Arme. Auch er weinte, aber des Wunders wegen. »Sehet, ein Wunder!« rief er. »Ich danke Dir, allmächtiger Gott, daß Du mich, den elendsten aller Sünder, zum Zeugen dieses Zeichens Deiner unendlichen Gnade gemacht hast.« Er wandte sich an die Versammelten. »Kniet nieder! Lobpreist Ihn! Lobpreist Ihn!«

Später, als er mit Knud allein war, erklärte er, ruhiger geworden: »Der Bischof und ich dachten uns, daß etwas in dieser Art geschehen könne. In Eurer Botschaft teiltet Ihr uns mit, daß sich die heiligen Bilder nicht von ihr abgewendet hätten. Zudem fanden wir in den Archiven Legenden aus den Tagen, als Ansgar und Poppo die Dänen missionierten. Bisher galten die Legenden als zweifelhaft, doch sie scheinen einige Wahrheit zu enthalten. Deshalb kann ich deuten, was wir gesehen haben.

Mischlinge haben wie der Elternteil aus dem Feenreich keine Seelen, und zweifellos sind ihre Körper ebenso alterslos. Doch Gott ist bereit, auch diese Wesen anzunehmen, sogar dann, wenn sie schon erwachsen sind. Als Margrete getauft wurde, verlieh Er ihr eine Seele, wie Er es bei einem neugeborenen Kind tut. Sie ist ganz und gar menschlich geworden, sterblich im Fleisch, unsterblich im Geist. Wir müssen gut darauf achten, daß sie ihr Seelenheil nicht verliert.«

»Warum kann sie sich nicht erinnern?« fragte Knud.

»Sie ist wiedergeboren. Sie hat die dänische Sprache behalten und dazu alle irdischen Fähigkeiten, die sie sich erworben hatte. Aber von allem, was in irgendeiner Weise Verbindung zu ihrem früheren Leben hat, ist sie gereinigt worden. Das muß die Gnade des Himmels sein, denn jetzt kann der Satan das Heimweh nicht mehr dazu verwenden, das Lamm von der Herde wegzulocken.«

Der alte Mann schien eher beunruhigt als erfreut zu sein. »Ihre Schwester und ihre Brüder werden das übel aufnehmen.«

»Ich weiß Bescheid über sie«, erklärte Magnus. »Sagt dem Mädchen, sie soll sich mit ihnen am Strand vor jenen sieben Bäumen treffen, die niedrig und dicht beieinander wachsen. Ihre Zweige werden meine Männer verbergen, die dort mit gespannten Armbrüsten ...«

»Nein! Niemals ! Ich will es nicht haben!« würgte Knud hervor, der wohl wußte, wie wenig Machtbefugnis er in dieser Sache hatte. Schließlich gelang es ihm, Magnus zu überreden, die Halbblut-Geschwister nicht aus dem Hinterhalt zu überfallen. Sie verließen die Gegend bald. Und wie mochte die Wirkung auf Margretes neue Seele sein, wenn eine Bluttat so gut wie das erste Erlebnis war, dessen sie sich erinnerte?

Deshalb befahlen die Priester den Bewaffneten, sie sollten nur auf ausdrücklichen Befehl schießen. Alle warteten hinter den Bäumen; es war kalt, windig und dunkel. Margretes weißes Gewand schimmerte schwach von der Stelle her, wo sie verwirrt, aber gehorsam stand, die Hände über einen Rosenkranz gefaltet.

Durch das Seufzen der Blätter und das Klatschen der Brandung war ein neues Geräusch zu hören. Aus dem Wasser wateten der große Mann, die große Frau und der Junge. Man konnte gerade noch erkennen, daß sie unbekleidet waren. »Unzüchtig!« zischte Magnus zornig.

Der Mann sagte etwas in einer unbekannten Sprache.

»Wer bist du?« entgegnete Margrete auf Dänisch. Sie wich vor ihnen zurück. »Ich kann dich nicht verstehen. Was willst du?«

»Yria ...« Die Frau breitete ihre nassen Arme aus. »Yria.« Sie sprach jetzt dänisch, und in ihrer Stimme schwang die Qual mit. »Was haben sie dir angetan?«

»Ich bin Margrete«, antwortete das Mädchen. »Sie sagten mir, ich ... müsse tapfer sein ... Wer seid ihr? Was seid ihr?«

Der Junge knurrte und sprang auf sie zu. Sie hob das Kruzifix. »In Jesu Namen, hebt euch hinweg!« schrie sie entsetzt. Er hätte ihr nicht gehorcht, aber sein Bruder hielt ihn zurück. Der große Mann stieß einen erstickten Laut aus.

Margrete fuhr herum und floh über die Dünen auf das Dorf zu. Ihre Geschwister blieben eine Weile stehen. Sie sprachen verwirrt und betrübt miteinander, und dann kehrten sie ins Meer zurück.