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Feensinne fanden Spuren, die von Sterblichen nie entdeckt worden wären. Tauno und Eyjan brauchten nur zwei Tage – doch sie reisten auch während des größten Teils der langen Spätherbstnächte – , um das neue Lager der Inuit zu entdecken.
Es lag in einem kleinen Tal, das sich an eine Bucht mit hohem Ufer schmiegte. Von der Wiese wand sich ein Pfad zum schimmernden Wasser hinunter. Eine frische Quelle sprudelte aus einem Rasen, der trocken geworden war, aber sich unter den Füßen immer noch weich anfühlte. Zwergbirken und -weiden standen verstreut und hielten ihre letzten paar gelben Blätter fest. Überall erhoben sich Berge, graublau, wo kein Schnee lag. Durch eine Kluft im Osten blitzte das geheimnisvolle Grün des Inlandeises. Eine von einem Dunstkreis umgebene Sonne sandte vom Westen her Strahlen durch die funkelnde, atemlose, boreale Luft.
Hunde bellten, als die beiden hohen Gestalten in ihren Fischhauthemden näher kamen, fingen dann den Geruch auf und verstummten; sie schlichen sich aber nicht weg wie die Hunde der weißen Männer. Jäger kamen heraus mit Harpunen, Messern und Bogen; ihre Haltung war nicht prahlerisch. Frauen setzten ihre Arbeit fort und forderten die Kinder auf, dicht bei ihnen zu bleiben; niemand äußerte Furcht oder Haß.
Alle schienen sich zu Hause zu fühlen und sich des Überflusses zu erfreuen, den eine gute Jagd eingetragen hatte. Fleisch von Seehund und Eisbär kochte über Feuern und sandte würzige Düfte aus. Weiteres Fleisch war der Sicherheit wegen auf Stangen gehängt. Die größeren Felle wurden sauber abgekratzt, und die Frauen hatten begonnen, die kleineren zu kauen, um sie geschmeidig zu machen. Es standen Steinhütten für den Winter da, aber bis jetzt benutzten die Familien noch ihre spitzen Zelte. Als Tauno und Eyjan an einem von diesen vorbeikamen, sahen sie eine halb fertiggestellte Arbeit, einen in Elfenbein geschnitzten Moschusochsen. Er war wunderschön.
Sie hoben die Handflächen und riefen: »Frieden! Ihr wißt doch, wir waren in eurem Umiak. Wir sind eure Freunde.«
Waffen sanken oder fielen zu Boden. Bengtas Mann ergriff das Wort: »Wir konnten euch nicht richtig erkennen. Die Sonne blendete uns. Jemand schämt sich.«
Bengta selbst eilte herbei, um die Geschwister zu begrüßen. »Ihr werdet uns doch nicht an die Norweger verraten, nicht wahr?« flehte sie in ihrer Muttersprache.
»Nein«, antwortete Tauno. »Aber wir haben eine Botschaft von ihnen.«
»Und schlechte Neuigkeiten für dich, Liebes«, setzt Eyjan hinzu Sie faßte Bengtas beide Hände. »Dein Vater ist tot. Der Tupilak zerriß ihn, als er und Tauno mit ihm kämpften. Aber er ist gerächt, das Ungeheuer ist tot, und ehe er starb, segnete er dich.«
»O – o – oh ...« Lange Zeit stand die junge Frau bewegungslos. Ihr Atem bildete eine Dampfwolke in der knisternden Kälte, bis er sich in einem Himmel verlor, der die Farbe ihrer Augen hatte. Rauch hatte ihr Haar gedunkelt, das sie jetzt nach Art der Inuit in einem Knoten trug. Aber sie stand aufrecht und gesund da, in Pelzen, die eine Königin sich hätte wünschen mögen. »Oh, Vater, ich hätte nie gedacht ... « Sie weinte. Eyjan umarmte und tröstete sie.
Minik hatte dem Gespräch zugehört. Unbeholfen klopfte er ihre Schulter. »Entschuldigt sie«, sagte er in seiner eigenen Sprache. »Sie ist ... nicht so bewandert im richtigen Benehmen ... wie jemand hofft, daß sie es zu angemessener Zeit sein wird. Kuyapikasit, meine erste Frau, wird für euch Essen kochen und Bettzeug ausrollen.« Er lächelte, verhalten, weil er ihretwegen Kummer empfand.
Panigpak, der Angakok, trat ebenfalls aus dem Kreis der Zuschauer hervor. Beunruhigung lag auf seinem verrunzelten Gesicht. »Jemand glaubt, er habe etwas über einen Tupilak gehört«, begann er das Gespräch. Auch wenn Tauno hoch über ihn emporragte, waren Blick und Haltung des Schamanen ruhig.
»Du hast richtig gehört«, erwiderte Tauno. Er und Eyjan hatten sich vorher überlegt, was sie den Inuit sagen wollten. So berichtete er jetzt kurz und bündig von dem Kampf.
Entsetztes Stimmengewirr erhob sich unter den Leuten. Panigpak war am schlimmsten getroffen. »Ich bin ein Narr«, stöhnte er. »Ich habe diese Gefahr über dich gebracht, der du uns nie ein Leid angetan hast.«
»Wer konnte es vorhersehen?« tröstete Tauno ihn. »Und, höre, da ist noch mehr.
Als wir zurückkehrten, sandte Jonas Haakonssohn seine Knechte aus, um die Männer von Vestri Bygd zu einem Thing zusammenzurufen, einem Treffen, wo Entscheidungen gefällt werden. Er hatte meine Schwester angehört, als sie ihm Rat gab, und sprach nun, wie sie vorgeschlagen hatte. Die übrigen hörten auf mich. Wir flößten ihnen Angst ein, verstehst du, auch wenn sie glaubten, wir seien von der Großen Natur ...« – das war der Begriff der Inuit, der dem Wort »Gott« am nächsten kam – ,,... zu ihrer Rettung geschickt worden.«
Tauno fuhr fort: »Wir erkannten bald, daß hauptsächlich Haakons Führereigenschaften sie veranlaßt hatten, an jenem Ort zu bleiben. Sie schlugen unsere Warnung nicht in den Wind. Wir hatten nämlich von weisen Meeresbewohnern gehört, daß dieses Land immer ungeeigneter für sie werden wird, bis diejenigen, die dort bleiben, verhungern müssen.
Sie erklärten sich dafür, nach dem Süden zu ziehen. Sie alle. Dazu müssen sie als erstes die Gewißheit haben, daß ihre Boote nicht angegriffen werden. Diesen Auftrag haben meine Schwester und ich erhalten: euer Versprechen einzuholen, daß ihr ihnen im Sommer den Weg freigebt. Danach gehört das ganze nördliche Land euch.«
Die Leute brüllten, tanzten, sprangen umher, und doch schienen sie eher aufgeregt als fröhlich zu sein und fröhlich eher aus dem Grund, daß die Fehde beendet war, als daß sie den Sieg davongetragen hatten. »Ich will, ich will!« schluchzte Panigpak. »Ja, mein Sendling wird so bald wie möglich aufbrechen, um mit Sedna um ruhiges Wetter und viele Fische zu verhandeln. Und mein Sendling wird ebenfalls fragen, ob sie, die die Tiefen beherrscht, etwas von eurem Volk weiß.«
»Dann, Bengta«, sagte Eyjan leise, »mußt du über deine eigene Zukunft und die deines Kindes eine Entscheidung fällen.«
Haakons Tochter machte sich von ihr los. Die Tränen hatten Rinnen durch den Ruß auf ihrem Gesicht gezogen; die Haut leuchtete hell wie Weißdornblüten. Aber sie weinte nicht mehr, sie hielt den Kopf hoch erhoben, ihr Norwegisch klang wie eine Glocke: »Das habe ich letztes Jahr getan, als ich für uns beide Minik wählte.«
Die Besucher betrachteten sie erstaunt. Sie ballte die Fäuste und erwiderte ihren Blick. Schweigen senkte sich auf die Inuit herab.
»Ja«, sagte sie. »Habt ihr gemeint, er habe mich der Lust wegen entführt? Niemals würde er eine Frau zwingen oder täuschen; er weiß gar nicht, wie man das macht. Und wir waren einmal Spielgefährten. Er hätte Hallfrid und mich zu meinem Vater gebracht. Ich bat ihn, es nicht zu tun, und aus Erbarmen gab er nach. Aus Erbarmen! Er hatte bereits eine gute und tüchtige Frau – und sie hieß mich ebenfalls willkommen. Wenige Inuit wollen zwei Frauen, weil sie sich notfalls eine leihen können. Ich denke, ihr aus dem Feenreich versteht, daß das eine saubere Hilfe unter Freunden ist. Ich? Ich verstand mich auf keine der vielen Künste, die eine InukFrau beherrschen muß. Ich konnte nur schwören, ich wolle versuchen, sie zu erlernen. Gebt mir Zeit, und ich hoffe, daß ich ihm eines Tages keine Last mehr sein werde.«
»Dann liebst du ihn?« murmelte Eyjan.
»Nicht so, wie ich Sven liebte«, erwiderte Bengta. »Aber Minik liebe ich auf andere Weise – für das, was er ist.«
Es war nicht klar, wie gut ihr Mann dem Wasserfall von Worten hatte folgen können. Doch er errötete und sah auf verschämte Weise erfreut aus.
»Meine Hoffnung und die Hallfrids liegt bei ihm«, fuhr Bengta fort. »Wo sonst ist Hoffnung für uns? Ich habe mit diesen Leuten mein ganzes Leben gesprochen, jede Stunde, die es mir möglich war. Wie euch ist auch mir klargeworden, daß der Fimbul-Winter auf dem Weg ist. Sie haben mir erzählt, wie sie Jahr für Jahr die Gletscher größer werden sehen, und das Meer friert jedes Jahr früher und taut später auf. Als ich endlich in einem schlechtgebauten Haus saß, ohne Feuer, zusammen mit drei Leichen, und mein Kind, schwach vor Hunger, in meinen Armen weinte, war ich überzeugt, wir müßten sterben. Wir in Vestri Bygd konnten uns an unser Elend klammern, bis es uns umbrachte, oder nach Süden ziehen, uns den beiden anderen Siedlungen – wenn die Bewohner aushalten – anschließen und Bettler sein. Die Inuit hingegen ... Seht euch um! Sie haben etwas getan, wozu die Norweger immer zu stur sein werden, sie haben gelernt, wie man in diesem Land leben kann, das schließlich meine Heimat ist – und gut leben kann
Wenn du an meiner Stelle wärst, Eyjan, hättest du nicht freudig die Gelegenheit ergriffen, dich ihnen anzuschließen?«
»Natürlich«, antwortete Eyjan. »Aber ich bin auch keine Christin.«
»Was bedeutet mir die Kirche?« rief Bengta. »Das Gefasel eines zittrigen Dummkopfes. Ich nehme das Risiko der Höllenflammen aof mich, ich, die ich durch das Eis der Hölle gegangen bin.«
Ihr Stolz fiel von ihr ab. Plötzlich bedeckte sie die Augen und stöhnte: »Aber daß ich den Tod meines Vaters verschuldet habe ... dafür werde ich lange Buße tun.«
»Warum?« fragte Eyjan. »Als du davonliefst, überfiel er unschuldige und hilflose Leute. Ich zweifle, ob du je geahnt hast, daß dieser strenge Mann eine so heftige Liebe für dich empfand. Als die Bluttat geschehen war – hatten die Verwandten der Erschlagenen da nicht das Recht, Rache zu nehmen und der Bedrohung ein Ende zu bereiten?«
»Der Tupilak war mein Werk!« schrie Bengta. »Mir ist das eingefallen, als sie mich, um Frieden zu haben, zurückschicken wollten. Ich habe Panigpak zugesetzt, bis er ihn machte. Ich war es!«
Sie sank auf die Knie. »Ich habe ihm und allen anderen gesagt ... was sie auch täten, das Kämpfen und Töten werde mit den schlechter werdenden Jahren immer schlimmer werden, solange die Norweger im Land blieben ... aber wenn wir sie vertrieben, auch wenn es einigen von ihnen das Leben kostete – auch für diese würde es eine Gnade sein –, und ich glaubte es! Heilige Maria, Mutter Gottes, bezeuge, daß ich es geglaubt habe!«
Eyjan hob sie auf und nahm sie von neuem in die Arme. Tauno sagte langsam: »Ich verstehe. Du wolltest, daß deine Verwandten, die du in deiner Jugend geliebt hast, das Land verließen, bevor es zu spät war. Und im nächsten Frühling hätte der Angakok, was auch geschehen mochte, sein Geschöpf zurückgerufen und auseinandergenommen, nicht wahr?«
»J – j – ja«, stammelte sie an Eyjans Brust. »Doch dann tötete es meinen Vater!«
»Wir sagten dir doch, er hat dich vor seinem Tod gesegnet«, erklärte Tauno. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Locken. »Und doch ... seltsam ... wie seltsam ... daß der Tupilak nicht aus Haß, sondern aus Liebe gesandt wurde.«
Schließlich hatte sich Atitak, Miniks zweite Frau, soweit beruhigt, daß sie bei der Zubereitung eines Festmahls helfen konnte. In dieser Nacht traten die Nordlichter in solchem Überfluß auf, daß sie die Hälfte des Himmels bedeckten.