6
Mit Pferden und Dienern, die sie in Schibenik gemietet hatten, schlugen Herr Carolus und Frau Sigrid die Straße nach Skradin ein. Der Satnik hatte eine Botschaft von der Stadt zur Burg vorausgeschickt, und der Zhupan stellte eine militärische Eskorte für seine vornehmen Besucher. Der Zug bot einen prächtigen Anblick, als er sich in die Berge hinaufwand, Metall schimmerte, Federn und Mäntel wehten in vielen Farben, Hufe klapperten, Harnische klirrten unter einem wolkenlosen Himmel. Die Wärme lockte starke, süße Düfte aus den Tieren, den reifenden Getreidefeldern und Heuwiesen zur Rechten, dem hohen grünen Wald zur Linken.
Trotzdem zog Tauno die Nase kraus. »Puh, dieser Staub!« sagte er in dänischer Sprache, die sich für solche Dinge besser eignete als die von Liri. »Mein Inneres hat sich in ... in eine ganze Ziegelei verwandelt. Kannst du glauben, daß sich Seevolk freiwillig an Land ansiedelt?«
Eyjan, auf einem Zelter neben seinem Wallach reitend, sah ihn aus dem Schleier, der ihre Mähne verbarg, steif an. »Vielleicht ist es nicht freiwillig gewesen«, antwortete sie. »Was hast du nun eigentlich herausgefunden?« Ihm als Mann war natürlich die Aufgabe zugefallen, mit den Leuten zu sprechen; Panigpaks Geschenk hing unter seinem Hemd. Die Kroaten waren so begierig auf eine Unterhaltung mit diesem Fremden gewesen, daß Tauno bisher kein Augenblick geblieben war, Eyjan ins Bild zu setzen.
»Wenig«, gestand er. »Ich wagte es nicht, immer wieder auf diese Frage zurückzukommen, weißt du, denn mit unseren angeblichen Geschäften hat sie ja nichts zu tun. Und ich bin nicht geschickt darin, jemandem die Würmer aus der Nase zu ziehen. Ich konnte nur so nebenbei bemerken, ich hätte Gerüchte gehört und sei neugierig. Die Leute wichen dem Thema aus. Mir schien es weniger daran zu liegen, daß es ihnen unheimlich vorkommt, sondern daß die Mächtigen hier es totschweigen möchten.«
»Aber hast du eine Bestätigung erhalten, daß dort, wohin wir wollen, Seevolk lebt?«
»Aye, und auch, daß sie manchmal zu zweit oder dritt an die Küste kommen und schwimmen. Das müßten sie natürlich ihrer Gesundheit wegen tun, aber es heißt, sie verrichten nützliche Arbeiten wie das Vermessen von Untiefen und das Erkunden von guten Fischgründen. Vor kurzem ist auch eine Anzahl von Männern im Dienst des Herzogs – oder wie der Titel hier lautet – auf Schiffen davongesegelt. Ein Krieg braut sich zusammen; mir ist nicht klargeworden, warum oder wer der Feind ist.« Tauno zuckte die Schultern. »Unser zukünftiger Gastgeber kann uns zweifellos mehr erzählen.«
Eyjan betrachtete ihn forschend. »Hinter diesem sauren Gesicht, Bruder«, sagte sie leise, »zitterst du vor Erwartung, sie wiederzusehen.«
»Du nicht?« fragte er überrascht. »Es ist eine mühsame Suche gewesen ...« – er schlug die Augen nieder, und seine Stimme sank zum Flüstern herab – »..., und diese letzte Reise war der einsamste Teil davon.«
Nun mußte Eyjan das Gesicht abwenden. »Ja. Auf der Herning und später in Dänemark hatten wir zwei, die uns liebten.«
»Aber unser eigenes Volk ...«
»Warten wir's ab.« Mehr wollte sie nicht sagen. Tauno fühlte sich richtig erleichtert, als der Kapitän der Wachen an seine Seite ritt und ihn in ehrerbietiger Faszination in ein Gespräch verwickelte.
Obwohl es in der Luftlinie von Schibenik nach Skradin nicht weit war, machte die Straße viele Windungen, um die Wälder zu umgehen, und der Aufbruch war etwas verzögert worden. So stand die Sonne schon niedrig, als die Gesellschaft das Dorf erreichte. Goldene Strahlen fielen durch kühle Luft, und die Schatten waren lang. Während die Kinder des Wassermanns eine Straße zur Burg hinaufritten, warfen sie interessierte Blicke nach allen Seiten, und ihre Herzen klopften schneller. Die Häuser waren aus Holz, mit Grassoden oder Stroh gedeckt wie im Norden, aber die Bauart und die fröhliche Bemalung, die die meisten zeigten, waren ebenso ausländisch wie die Kirche mit ihrem Zwiebelturm am anderen Ende der Stadt. Die Menschen, die stehenblieben und sich den Zug ansahen, waren oft groß und blond, hatten aber runde Schädel und hohe Wangenknochen. Ihre Tracht war auf eine Art geschnitten und ausgeschmückt, die es zu Hause nicht gab. Sie schienen gut genährt zu sein, und sie wichen nicht ängstlich vor den Soldaten zurück, sondern die Männer unter ihnen grüßten sie mit fröhlichen Zurufen. Wie überall in Dalmatien hielten sich die Frauen bescheiden im Hintergrund. Mehrere trugen schwerere Lasten, als es im Land der Brynhild üblich war.
Plötzlich fuhr Tauno im Sattel zusammen. Sein Blick wanderte von einem Gesicht mit Kopftuch, unter dem sich eine grünliche Locke hervorstahl, zu bloßen Füßen mit Schwimmhäuten unter dem Rock. »Raxi!« schrie er und riß an den Zügeln.
»Tauno, bist du es, Tauno!« rief die Frau in ihrer alten Sprache. Dann fuhr sie zurück, bekreuzigte sich immer wieder und wieder, und ein Strom hrvatskanischer Worte entrang sich ihr: »Nein! Gott, erbarme Dich, Jesus, erbarme Dich, ich darf nicht, Maria, hilf mir ...« Sie drehte sich um, rannte blindlings um eine Ecke und war außer Sicht.
Tauno wollte abspringen und ihr nachlaufen. Eyjan faßte sein Handgelenk. »Bleib hier, Dummkopf!« fauchte sie.
Er schüttelte sich, holte Atem, gewann die Ruhe zurück und trieb sein Pferd wieder an. »Sie sind schon ein überraschender Anblick«, bemerkte der Kapitän der Wachen. »Aber Ihr braucht Euch nicht vor ihnen zu fürchten, mein Herr. Sie sind jetzt gute Christen, gute Nachbarn, treue Untertanen des Königs. Tatsächlich denke ich daran, eine meiner eigenen Töchter mit einem jungen Burschen von ihnen zu verheiraten.«
Iwan Subitsch hieß seine Gäste zusammen mit einem Priester willkommen, und das war nicht der Burgkaplan, sondern ein robuster, bäuerlich gekleideter Graubart, den der Zhupan als Vater Tomislav vorstellte. Während ein Imbiß vorbereitet wurde und Frau Sigrid sich in dem ihr zur Verfügung gestellten Zimmer ausruhte, besprachen diese beiden sich mit Herrn Carolus.
Das geschah hoch oben im Wachturm, wo ein Raum einen herrlichen Ausblick auf die Landschaft gewährte. Im Westen war die Sonne hinter dem Wald, der den See verbarg, untergegangen. Das Licht berührte immer noch die Flügel der Schwalben und der Fledermäuse, die unter einem violetten Himmel hin und her flitzten. Dünne Nebel webten über den Feldern. Näher schimmerten die sich vereinigenden Flüsse, weiter nord- und ostwärts die Gipfel der Svilaja. Es war draußen sehr still geworden.
Die Dämmerung machte Iwans Narbengesicht weicher, aber es lag Eisen in seiner Stimme, als er, steif auf seiner Bank sitzend, den Austausch von Höflichkeiten mit den Worten beendete: »Ich habe nach Tomislav geschickt, Gospodar Carolus, weil er mehr als alle anderen über die Meerleute weiß – vielleicht mehr als sie selbst – , und wie ich den mir überbrachten Berichten entnahm, habt Ihr über sie Nachforschungen angestellt.«
»Das war freundlich von Euch, Herr«, erwiderte Tauno voller Unbehagen. Er netzte seine Lippen mit einem Schluck Wein. »Ihr hättet Euch weder soviel Mühe machen noch mich so genau beobachten lassen müssen, aber jedenfalls danke ich Euch.«
»Nichts ist zuviel Mühe für einen Edelmann aus dem Ausland, der Verbindungen mit uns anknüpfen möchte. Doch vielleicht ist es Euch gefällig, Gospodar, mir zu erzählen – denn es scheint doch mit dem Zweck Eures Besuchs gar nichts zu tun zu haben – , warum Ihr Euch für das Seevolk so interessiert?« Wie ein Peitschenknallen: »Ich kann mir nicht vorstellen, aus welchem anderen Grund Ihr zu diesem abgelegenen Ort gekommen seid.«
Taunos freie Hand fand Trost am Heft seines Messers. »Nun, wir haben in unseren nördlichen Gewässern eine Rasse der gleichen Art.«
»Pah!« entfuhr es Tomislav. »Hört mit dem Unsinn auf, alle beide! Iwan, was Ihr tut, ist abscheulich. Wenn Ihr diesen Mann als venetianischen Spion verdächtigt, sagt es gerade heraus wie ein ehrlicher Mensch.«
»O nein, o nein«, protestierte der Zhupan hastig. »Wir haben jedoch einen neuen Krieg, und in den letzten beiden Jahren hat sich soviel Unheimliches ereignet ... Es ist meine Pflicht, vorsichtig zu sein, Gospodar Carolus. Und um Euch die Wahrheit zu gestehen, Ihr müßtet Eure hrvatskanischen Verwandten besser kennen, als Ihr behauptet, wenn man bedenkt, wie vollkommen Ihr die Sprache beherrscht.«
»Macht ihn das zum Feind?« schnaubte der Priester. »Hört, die Meerleute haben nichts Böses getan, und dazu leisten sie uns noch unschätzbare Dienste. Und bestimmt lächelt Gott auf unser Land, weil so viele reine christliche Seelen zu ihm gekommen sind.« Seine Stimme veränderte sich, sie sank beinahe zum Flüstern herab, und es klang ein Schluchzen in ihr mit. Tauno sah, daß ihm Tränen in die Augen traten. Doch Freude stieg aus dem Herzen des Priesters auf: »Wenn Ihr ein Zeichen haben wollt, Iwan, bedenkt, daß die Vilja verschwunden ist. In diesem Frühling ist sie nicht aus dem Wasser gestiegen, um in den Wäldern zu spuken. Niemand hat eine Spur von ihr gefunden. Wenn ... wenn sie wirklich der Geist ... einer Selbstmörderin war ... verurteilt umzugehen ... dann muß Gott ihr verziehen und sie ins Paradies heim geholt haben – und aus welchem anderen Grund wohl, als daß Er erfreut über die Rettung des Seevolks war?«
Tauno fühlte sein Herz wie einen Stein in der Brust, als er langsam fragte: »Dann ist es wahr, was die Leute hier glauben? Sie sind getauft worden und haben alle Erinnerungen an das, was sie waren, verloren?«
»Ganz so ist es nicht«, antwortete Tomislav. »Durch einzigartige Gnade ist ihnen ihr früheres Leben geblieben und so auch die Kenntnisse und Fähigkeiten, mit denen sie unseren armen Landsleuten helfen können. Es ist eine lange, aber eine wundervolle Geschichte.«
»Ich ... würde sie gern hören.«
Die Menschen betrachteten Tauno ein Weile stumm, und währenddessen nahm die Dunkelheit zu. Iwans Blick verlor an Mißtrauen, Tomislavs gewann noch an Freundlichkeit.
Endlich meinte der Zhupan: »Nun, ich sehe keinen Grund, warum Ihr sie nicht hören solltet. Wie ich annehme, habt Ihr Euch das meiste davon schon selbst zusammengereimt. Auch glaube ich, daß Ihr uns die wirklichen Gründe für Euer Hiersein verschwiegen habt, aber ich hoffe sehr, daß sie harmlos sind.«
»Sie sind noch besser als nur harmlos«, fügte Tomislav hinzu. »An-drei – der früher Vanimen war – erzählte mir von seinen Kindern, die er zurücklassen mußte ... Ihr braucht nicht mehr zu sagen, Carolus, bis Ihr selbst die Überzeugung gewonnen habt, daß Ihr uns vertrauen könnt. Laßt mich Euch helfen zu begreifen, daß Ihr unter Freunden seid. Hört Euch die Geschichte an. Fragt mich, was Ihr wollt.«
Auch an Land konnte Tauno sich mit der Lautlosigkeit einer Schlange bewegen, wenn er wollte. Niemand sah ihn aus seinem Zimmer gleiten, einen Gang und eine Treppe hinunter, in Schatten und Nebel des Hofes hinaus, durch ein offenes Tor, wo zwei Schildwachen sich schläfrig auf ihre Piken stützten. Als er erst einmal zwischen den Häusern der Dorfbewohner war, ging er aufrecht, denn niemand war wach, und kein Hund würde es wagen zu bellen. Der Himmel war klar und voller Sterne. Die Abendkühle dämpfte den Gestank menschlicher Behausungen soweit, daß er die Gerüche fand, die er suchte. Es waren die Düfte eines Wassers, das größer und tiefer als ein Taufbecken war.
Schon lebten mehrere Meerleute in menschlichen Haushalten. Er ging an diesen Häusern vorbei. Auch zog er es nicht in Betracht, die Siedlung am Seeufer aufzusuchen, die andere, die jetzt Fischer waren. mit den Kindern Adams teilten. Ein paar kleine Wohnstätten, die nach frischem Holz rochen, waren am Rand Skradins für den Rest der Neuankömmlinge errichtet worden. Das waren hauptsächlich Meerfrauen ... nein, Menschenfrauen, dachte er, sterbliche Frauen, denen es der Anstand verbot, auf Abenteuer auszugehen.
Eine bestimmte Mischung kühler, fleischlicher Düfte führte ihn zu einer Tür, an die er klopfte. Die Ohren drinnen hatten ihre Feenschärfe behalten. Eine Stimme rief: »Wer ist da? Was wollt Ihr?«
»Ich bin es, Tauno, Vanimens Sohn«, antwortete er. »Laß mich ein, Raxi, die ich in Liri geliebt habe.«
Er hörte Geflüster, Schritte, Herumhantieren. Es schien endlos lange zu dauern, bis der Riegel klickte und die Querstange zur Seite schwang. Zwei standen hinter der Tür. Sie hatten Hemden übergeworfen, aber er erkannte sie sofort: Raxi, das lustigste Mädchen seines Stammes, und die schlanke blauhaarige Meiiva, die die besondere Freundin seines Vaters gewesen war.
Er merkte selbst, wie unsicher sein Lächeln war, als er die Arme ausbreitete. Das Mädchen keuchte auf, sprang zurück, begrub das Gesicht in den Händen. Ihre ältere Gefährtin blieb ruhig, doch es kostete sie Mühe zu sagen: »Willkommen, Tauno. Wir freuen uns, daß ihr noch lebt, du und Eyjan – und endlich hergekommen seid ... Aber du mußt dich bedecken.«
Tauno blickte nach unten. Als er sein Bett verließ, hatte er sich nicht damit aufgehalten, die Kleider bis auf den Messergürtel wieder anzulegen; der Talisman hing immer um seinen Hals. »Aber wir sind doch allein, Meiiva«, erwiderte er in einer Verwirrung, die zur Hälfte aus Furcht bestand, »und ihr kennt beide diesen Körper gut.«
»Ich bin nicht mehr Meiiva, Tauno, und sie, meine Schwester in Gott, ist nicht mehr Raxi. Wir sind Jelena und Biserka.« Die Frau drehte sich um. »Warte hier. Ich hole dir etwas zum Anziehen.« Die Tür schloß sich.
Bald darauf öffnete sie sich wieder um einen Spalt, und sie reichte ihm einen Mantel hinaus. Er gürtete ihn und roch mit einiger Erregung, daß er seinem Vater gehörte. Als Meiiva – Jelena – ihn in das bescheidene Häuschen einließ, unter dessen Dachbalken er den Kopf beugen mußte, hatte sie an dem Feuer im Herd eine Tonlampe angezündet. »So ist es besser«, meinte sie und berührte tatsächlich seinen Ellenbogen. »Du brauchst dich nicht zu schämen, du mußt ja alles noch lernen. Setz dich, mein Lieber, ich will dir einen Schluck Met ein. gießen.«
Benommen ließ er sich auf einer Truhe nieder. Biserka hatte sich in die entgegengesetzte Ecke gekauert. Der Blick, den sie zu ihm herüberschickte, war ... ängstlich? Sehnsüchtig? Er konnte nicht klug daraus werden, aber er hörte, wie schnell ihr Atem ging.
»Warum bist auch du hier?« fragte er ihre Hausgenossin.
»Andrei, dein Vater, mein Mann, ist in den Krieg gezogen«, erklärte Jelena. »Der Schicklichkeit wegen – wie auch, um uns gegenseitig zu helfen – , habe ich Biserka eingeladen, in der Zwischenzeit bei mir zu wohnen. Sie ist unverheiratet und ... nun ...« Die Offenheit früherer Zeiten war verschwunden, es kam sie schwer an zu enden: »Sie hat bei einer Familie gelebt, aber der älteste Sohn fing an, Verlangen nach ihr zu zeigen, und er wäre nicht die beste Partie, die sie machen kann.«
»Du, Raxi?« rief Tauno. »Und ich wollte heute nacht vor allen anderen zu dir kommen!«
Jelena seufzte, doch ihre Wangen glühten in dem trübgelben Licht. »Ich weiß. Mögen die lieben Heiligen mir helfen, mich zu erinnern, was du bist, damit ich dir keine Vorwürfe mache, sondern dir den Weg hinauf weise.« Sie hatte drei Becher mit Met gefüllt und reichte ihm einen. »Verbanne fleischliche Gedanken, Tauno. Dies ist nicht Lid, wir sind nicht mehr, was wir einst waren; Gott sei gepriesen.«
»Auch hier gibt es ein paar liederliche Personen!« entrüstete sich Biserka. Sie drückte sich gegen die Wand, bekreuzigte sich und setzte schnell hinzu: »Frag mich nicht nach ihren Namen.«
»Ganz gewiß wirst du keine unter uns finden, die wir Meerleute waren«, erklärte Jelena, vor Tauno stehend. »Wir sind eben erst neugeboren. Wie bete ich darum, daß wir die Seelen, frisch aus Gottes Hand erhalten, niemals beflecken werdenl« Sie hielt inne, sah an ihm vorbei und überlegte: »Aber wir werden es tun, fürchte ich. Uns unserer eigenen Tugend sicher zu sein, das wäre an sich eine Todsünde: Stolz. Aber möge uns immer die Gnade zuteil werden, daß wir bereuen, wenn wir fallen, und uns weiter bemühen.« Ihr Blick wurde scharf und durchbohrte ihn. »Wenn irgendein Mann uns zwingen wollte, sollte er daran denken, daß wir immer noch mit scharfen Waffen umgehen können.«
»Dann erinnert ihr euch an euer früheres Leben?« murmelte er.
Sie nickte. »Ja, auch wenn es uns seltsam und undeutlich vorkommt, wie ein Traum, der lang und lebhaft war, jetzt aber verblaßt.
Wir sind erwacht, siehst du. Dort vor dem Altar erwachten wir aus dem Halbleben der Tiere zum ewigen Leben.« Plötzlich begann sie, die so stark wie Vanimen gewesen war, zu weinen. »Oh, dieser Augenblick, dieser einzigartige erste Augenblick mit Gott! Wie können wir anders ... als ständig darauf zu hoffen ... daß uns diese Seligkeit für immer im Himmel zuteil wird?«
Ein abnehmender Mond war über die östlichen Berge gestiegen, als Tauno den Wald betrat. Er hatte nicht viel Zeit gebraucht, denn er war den ganzen Weg über die bebauten Felder gerannt; Halme und Ähren hatten ihm aus Rache für das Zertrampeln Striemen zugefügt. Doch es war spät geworden, als er sich endlich von den Frauen losmachen, seines Vaters Mantel vor der Tür abwerfen und davonstürzen konnte.
Es war nicht etwa so, daß sie ihn verfluchten. Voller Freundlichkeit hatten sie ihm zugesetzt, er möge doch ebenfalls das Geschenk einer unsterblichen Seele annehmen. Sie hatten sich auch nicht ganz und gar verändert, doch die einmal so köstlichen Körper beherbergten jetzt eine Fremdheit, die größer war als jene, die ihn vom Stamm Adams trennte. Es lag daran, daß sie – so dachte er irgendwo in seinem verwirrten Verstand – , daß sie zu Trägerinnen des Verhängnisses geworden waren. In ihnen lag die Zukunft, die keinen Platz für das Feenreich mehr enthielt. Er jagte nicht nur dahin, um die Verzweiflung abzuarbeiten, in der seine Suche geendet hatte. Er floh vor dem Unsichtbaren, während die Sterne herabblickten und zischten: »Da ist er, da läuft er, da ist seine Spur, der wir folgen werden.«
Sein Atem ging schwer, als er einen Unterschlupf fand. Das war unter einer Eiche, denn sie verbreitete Dunkelheit und trug Misteln in ihren Zweigen. Endlich schritt er hinaus in die Wildnis, auf den See zu, den er in der Ferne wahrnahm. Er wollte in seinen Wassern baden, wollte seine Lungen mit ihrer Sauberkeit füllen, vielleicht einen Fisch fangen und roh verzehren wie ein Seehund oder Mörderwal. Dadurch würde er neue Kraft gewinnen, so daß er zu der Burg und allem, was dort geschehen mochte, zurückkehren konnte.
Auf beiden Seiten des Wildpfades, dem er folgte, warfen Bäume Schatten, hielt Unterholz tiefere Finsternis umfangen. Mondlicht drang in Streifen durch die Kronen und schimmerte auf Dämpfe, die dicht über dem Boden strömten und wirbelten. Hier war es einen Hauch wärmer als draußen auf freiem Feld, feucht, nach schlafenden Pflanzen duftend. Es raschelte schwach, ein Luftzug, eine geisterhafte Eule, das Trippeln winziger Füße. Einmal schrie weit weg eine Wildkatze, und der Laut verschmolz mit der Musik, die die vielen Blätter ringsum erzeugten.
Ein gewisser Friede senkte sich auf Tauno herab. Hier war ein Überbleibsel seiner Welt, der wilden Welt, die völlig in sich abgeschlossen war, liebte, tötete, zeugte, litt, starb, geboren wurde, die phantastisch Zauber kannte, aber niemals versuchen würde, die Mysterien dahinter zu erforschen und zu zähmen oder sich einen Blick in die Ewigkeit selbst zu erzwingen. Hier waren Spuren des Feenreichs ..., der Geisterknochen sandte Namen in sein Bewußtsein, als habe er sie schon immer gekannt ... Leschi, Kikimora, auch eine gleitende Ruhelosigkeit, voll Scheu vor ihm und doch ...
Aber was nahm seine Nase außerdem wahr? Nein, diese Empfindung erhielt er auf andere Weise, sie stieg aus seinem Blut auf, teils Furcht und teils unaussprechliches Verlangen. Seine Pulse jagten; er beschleunigte den Schritt.
Der Pfad bog um ein Röhricht, und da begegneten sie sich.
Für eine Zeit außerhalb der Zeit blieben beide stehen. Ein Mensch wäre hier so gut wie blind gewesen, doch sie sahen sich weiß vor den sie umgebenden vielschichtigen Schatten, als habe sich der andere aus dem Nebel erhoben, der ihnen um die Füße wallte. Sie war viel bleicher als er; es war, als ströme das flüchtige Mondlicht durch dünngeschabten Alabaster, doch wenn sie sich bewegte, war es, als kräusele sich Wasser. Sehr schön war sie in ihrer Nacktheit mit den schlanken, makellosen Linien von Taille, Hüften, Schenkeln, jungfräulichen Brüsten, mit ihrem zartgeschnittenen Gesicht und den riesigen, leuchtenden Augen. Ihr Haar bildete in der Luft schwebend eine Wolke um sie. Keine Farbe war an ihr außer den leisesten Andeutungen von Blau und Rosa, wie auf Schnee unter den Vorläufern der Morgenröte.
»Oh«, hauchte sie. Entsetzen packte sie. »Oh, aber ich darf doch nicht!«
Er wiederum erinnerte sich daran, was er heute und in früheren Zeiten von seinem Vater gehört hatte. Er rief: »Eine Rousalka!« Dabei riß er sein Messer aus der Scheide. Er wagte es nicht, ihr den Rücken zu kehren.
Sie verschwand hinter dem Buschwerk. Er blieb angespannt, mit verzerrtem Gesicht stehen, bis er zu dem Schluß kam, sie sei fort, und die Klinge wieder einsteckte. Der Eindruck, den sie hinterlassen hatte, wehte überall in der Luft, so sanft, frisch, mädchenhaft, daß es einen um den Verstand bringen konnte. Aber er wußte wenig von solchen Wesen; ihre Spuren mochten eine Zeitlang verweilen ...
Wirklich?
Aber er konnte ja den Talisman fragen. Er brauchte sich nur zu entspannen, in hrvatskanischer Sprache an das zu denken, was er gesehen hatte, und das Wissen in sich einfließen zu lassen. Er lockerte Muskel für Muskel, bis er alles wußte und rufen konnte: »Vilja, bleib. Bitte.«
Sie lugte um das Gebüsch. Tauno konnte kaum ein Auge, den Schimmer einer Wange, die Zartheit eines Ellenbogens erkennen. »Bist du ein Christ?« flötete sie schüchtern. »Es ist mir verboten, Christen in die Nähe zu kommen.«
Also war sie keine Bedrohung; sie war nur schön. »Ich bin nicht einmal ein Sterblicher«, erklärte Tauno mit rasselndem Lachen.
Sie stahl sich näher heran und blieb auf Armeslänge vor ihm stehen. »Irgendwie habe ich das gefühlt«, flüsterte sie. »Möchtest du dich wirklich mit mir unterhalten?« Sie wurde fröhlicher, sie trillerte: »Oh, wundervoll! Ich danke dir, ich danke dir.«
»Wie ist dein Name?« Er mußte seinen Mut zusammennehmen, bevor er erklären konnte: »Ich heiße Tauno. Ich bin zur Hälfte ein Wassermann, zur Hälfte ein Mensch, gehöre aber ganz und gar dem Feenreich an.«
»Und ich ...« Sie zögerte länger als er. »Ich glaube, ich bin ... ich war Nada. Ich nenne mich Nada.«
Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie kam auf Zehenspitzen näher. Ihre Hände umschlossen einander. Nadas waren nachtkühl und irgendwie nicht ganz fest. Tauno fürchtete, wenn er richtig fest zugriffe, würden seine Finger sich begegnen. Deshalb hielt er seine Hand so locker, wie er nur konnte. Beide erbebten.
»Was bist du?« fragte er, denn er wollte es von ihren eigenen Lippen hören.
»Eine Vilja. Ein Ding aus Nebel und Wind und halb erinnerten Träumen – und so froh über deine Freundlichkeit, Tauno!«
Begehren, lange nicht befriedigt, wuchs in ihm. Er versuchte, sie an sich zu ziehen. Sie entfloh, sie wehte aus seiner Umarmung und verhielt zitternd außerhalb seiner Reichweite. Furcht und Kummer spiegelten sich in ihrem Gesicht, das jung anzusehen, aber innerlich alt geworden war. »Nein, Tauno, ich bitte dich. Um deiner selbst willen. Ich gehöre der lebenden Welt nicht mehr an. Du würdest sterben, du auch, wenn du es versuchtest.«
Tauno fiel ein, wie Herr Aage aus seinem Grab gestiegen war, um die geliebte Frau Else zu trösten ... sie nur in ihrem Elend zu trösten und was daraus entstanden war. Da wich Tauno vor Nada zurück.
Sie sah es. Ihre Einsamkeit wollte sie überwältigen, doch dann straffte sie die Schultern (gleich unter der Kehle befand sich eine so rührende Höhlung) und sagte mit bebendem Lächeln: »Aber wegzulaufen brauchst du ja nicht, nicht wahr, Tauno? Können wir nicht ein Weilchen zusammenbleiben?«
Das taten sie bis zum Morgen.