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Die Insel, die die Menschen Laesö nennen, liegt vier Seemeilen östlich vom nördlichen Jütland. Bedeckt von Sand und Heidekraut, vom Skagerrag wie vom Kattegat her vom Wind gefegt, hat sie nur wenige Bewohner. Und doch haben ihre kleinen Kirchen das Seevolk für immer von einem Ort verbannt, der einmal sein größter Versammlungsplatz war – denn damals hieß sie Hlesey, Hiers Insel, wobei Hler ein anderer Name für Ägir ist. Schon früh hatten christliche Priester mit Glocke, Buch und Kerze alle Wesen des Heidentums von dort vertrieben.
Aber gerade unterhalb dieser Insel liegt das Inselchen Hornfiskrön, wie ein Walkalb sich an seine Mutter schmiegt. Es ist kaum mehr als ein Riff, mißt vom einen Ende zum anderen etwa eine halbe Seemeile, und doch ist es dünn mit Heidekraut bewachsen. Nie hatte hier jemand gelebt oder daran gedacht, die Unheiligkeit auszutreiben. Es schwebte noch genug von den älteren Mächten der Meeresgötter um diesen Ort, daß sich das Seevolk vom Süden her nähern und an Land gehen konnte.
Hierhin hatte Vanimen, der König, an einem Tag, als Regen vom Westen herangetrieben wurde, den Liri-Stamm gebracht. Sie waren längere Zeit unterwegs gewesen, als ein gesunder Erwachsener gebraucht hätte, denn sie hatten viele Kinder bei sich. Außerdem konnte eine so große Schar nicht gut während der Reise aus dem Wasser leben, und bald schwächte der Hunger alle.
Als sie an Land wateten, fühlten sie den Wind kalt über ihre Körper streichen und die ersten stechenden Tropfen des Regens. Der Sturm heulte, kreischte und pfiff, während zu ihren Füßen stählerne Wellen mit fliegenden Mähnen tobten und grollten. Sand zischte weiß. Im Westen türmte sich Dunkelheit, durch die der Blitz Runen zeichnete; der östliche Himmel wurde von niedrigen Wolken verborgen.
Vanimen stieg auf die höchste Düne in der Nähe – der körnige Sand verletzte die Schwimmhäute zwischen seinen Zehen – und wartete, bis seine Gefolgsleute sich niedergelassen hatten. Einen majestätischen Anblick bot er ihnen, wie er mit dem Dreizack in der Hand da stand. Er war größer als die meisten anderen und mit Muskeln bepackt unter der schneeweißen Haut. Seine Narben erinnerten daran, wie viele Jahrhunderte er schon erlebt, wie viele furchtbare Schlachten er schon geschlagen hatte. Goldenes Haar hing ihm naß bis über die Schultern herab und um ein Gesicht, das dem seines Sohnes Tauno sehr ähnlich war, nur daß der König seegrüne Augen hatte. Ruhe lag in ihnen, Kraft, Weisheit.
Das war eine Maske, die er angelegt hatte. Sie hatten keine Hoffnung mehr, sie waren zum Untergang verurteilt. Zerbrochen von dem, was geschehen war, richteten sie in ihrem Elend die Augen auf ihn allein.
Allein fürwahr, dachte er. Je länger er lebte, desto einsamer wurde er. Wenige aus dem Seevolk erreichten sein Alter; in Liri war es niemandem gelungen. Irgend etwas holte sie, öfter früh als spät, es sei denn, sie hatten Glück und eine außergewöhnliche Geschicklichkeit. Kein Freund aus seiner Knabenzeit war übriggeblieben, und seine erste Liebste war seit Hunderten von Jahren nur noch ein Traum. Eine kurze Zeit lang hatte er zu glauben gewagt, mit Agnete hätte er das gefunden, was die Sterblichen Glückseligkeit nennen. Er hatte genau gewußt, daß es nur einen Augenblick an Zeit dauern konnte, bis ihr Fleisch verwelkte und sie dorthin ging, wohin die Menschen gehen mochten. Er hatte sich ausgemalt, ihre Kinder würden ihm ein Maß an Freude schenken. (Oh, vielleicht am bittersten von allem war, daß er die Gräber der drei, die gestorben waren, nicht mehr pflegen konnte.) Tauno, in dem sich die Begabung zum Barden, deren Ansätze sich schon beim Vater zeigten, voll entwickelt hatte; Eyjans gesunde Schönheit; die Hoffnung, die Kennin gab; Yria, voller Vertrauen, im Aussehen ihrer Mutter so ähnlich – aber sie waren fort, zurückgelassen worden, und konnten sie denn die weiten Meere absuchen, um sich dem Stamm und dem Vater wieder anzuschließen?
Er durfte nicht schwach werden, erinnerte Vanimen sich. Als sei es eine körperliche Anstrengung, schob er sein Leid beiseite und wandte die Aufmerksamkeit seinem Volk zu.
Es waren ungefähr sieben mal zwanzig, sah er. Vielleicht war es das erste Mal, daß sich irgend jemand die Mühe machte, sie zu zählen, und selbst heute war er der einzige, der daran dachte. Sein langes Leben und das ständig anwachsende Gewicht der Erfahrung sowie des Nachdenkens über diese Erfahrungen hatte ihn der Unkompliziertheit beraubt, die seiner Rasse zu eigen war, und ihm einen Geist verliehen, der grübeln konnte wie der eines Menschen.
Mehr als die Hälfte der Versammelten waren Kinder. (Und was die Kinder betraf, so waren mehrere auf der Flucht hierher gestorben.) Sie drängten sich um ihre Mütter – ein Säugling an einer Brust, ein Krabbelkind, das die Mutter vor dem Unwetter abzuschirmen versuchte, ein Kleines, dessen Glieder sich bereits streckten, das sich aber immer noch in einer Locke ihres Haares festhielt und mit großen Augen in eine Welt hinausstarrte, die unfreundlich und fremd geworden war ... Erwachsene Männer und Frauen ohne Kinder standen abseits von diesem Haufen. Unter dem Seevolk war die Vaterschaft so gut wie immer bloße Vermutung und niemals von Wichtigkeit. Die Nachkommen wurden von den Müttern wie auch von den Liebhabern, die sie zur Zeit gerade hatten, den Freundinnen der Mütter und deren Liebhaber, im Grunde von dem ganzen Stamm aufgezogen.
Ausgenommen Agnetes Kinder natürlich ... Wie sie sich bemüht hatte, in ihnen den Sinn dafür zu erwecken, was sie für richtig und anständig hielt! Nachdem sie fortgegangen war, hatte Vanimen ihnen von ihrem menschlichen Erbe mitgegeben, was er konnte; schließlich hatte er im Laufe der Jahrhunderte einiges von Menschenart gelernt. Jetzt fragte er sich, ob er ihnen damit einen Dienst erwiesen hatte.
Wie dem auch sein mochte, diese hohlen Gesichter hier waren ihm zugewandt. Er mußte ihnen mehr anbieten als das leere Heulen des Winds.
Er füllte die Lungen und rief mit Donnerstimme: »Volk des untergegangenen Liri, hier müssen wir uns entscheiden, welchen Weg wir einschlagen wollen. Wenn wir blindlings umherziehen, werden wir sterben. Doch jede Küste, von der wir wissen, daß wir uns dort ernähren könnten, ist entweder für Wesen des Feenreichs verboten – die meisten sind es – , oder es gibt dort schon so viele von unserer Art, wie dort leben können. Wohin also sollen wir uns wenden?«
Ein junger Mann rief eifrig: »Brauchen wir eine Küste? Ich habe mich schon wochenlang im offenen Ozean ernährt.«
Vanimen schüttelte den Kopf. »Du könntest es nicht jahrelang tun, Haiko. Wohin wolltest du gehen, wenn du Ruhe oder eine Zuflucht brauchst? Wo wolltest du ein Heim errichten oder auch nur das dazu notwendige Material finden? Wir können die Tiefen für kurze Zeit aufsuchen, aber wir können nicht dort bleiben. Sie sind zu kalt, zu dunkel und zu unfruchtbar; Schlick bedeckt alles, was wir von Schären und Kliffs und Sandbänken ausgraben. Ohne einen wohnlichen Ort, und besonders ohne Werkzeuge und Waffen, wärest du nichts anderes als ein Tier, schlechter für das Leben gerüstet als der Hai oder der Mörderwal, die dich jagen und töten würden. Und noch eher als du würden die Kinder, die Hoffnung unseres Blutes, sterben. Nein, wir sind wie unsere Vettern, die Seehunde, wir brauchen die Erde und die Luft ebenso, wie wir das Wasser brauchen.«
Das Feuer, dachte er bei sich, war den Menschen vorbehalten.
Er hatte von den Zwergen gehört, aber der Gedanke, unter der Erde zu leben, ließ ihn schaudern.
Eine schlanke Frau mit blauem Haar ergriff das Wort. »Bist du sicher, daß wir in der Nähe keinen Ort finden können? Ich habe den Finnischen Meerbusen durchquert. An seinem Ende sind reiche Fischgründe, die niemand von unserer Art bewohnt.«
»Hast du jemals gefragt, warum, Meiiva?« entgegnete Vanimen. Überrascht antwortete sie: »Ich wollte es immer tun, doch dann habe ich es wieder vergessen.«
»Die sorglose Art des Feenreichs«, seufzte er. »Ich habe es herausgefunden. Es hat mich beinahe das Leben gekostet, und noch Jahre danach habe ich deswegen Alpträume gehabt.«
Die auf ihn gerichteten Blicke verloren ihre Stumpfheit. Das war wenigstens besser als die Gleichgültigkeit der Verzweiflung. »Die Sterblichen dort sind Russen«, erklärte er ihnen, »ein anderes Volk als die Dänen, Norweger, Schweden, Finnen, Letten und Lappen, die sonst in diesen Gegenden wohnen. Die Wesen der Halbwelt, die das Land mit ihnen teilen, sind ... ebenfalls anders: manche freundlich, aber andere unheimlich und noch andere fürchterlich. Mit einem Vodianoi könnten wir es vielleicht aufnehmen, aber eine Rousalka ...« Die Erinnerung fiel über ihn her, kälter als der Wind und der stärker werdend Regen. »Jeder Fluß scheint eine Rousalka zu haben. Sie tritt in der Gestalt eines Mädchens auf, und es heißt, sie sei früher einmal eines gewesen, bevor sie ertrank. Aber sie lockt Männer in die Tiefen und hält sie für entsetzliche Foltern gefangen. Auch ich wurde in einer Mondnacht, als die Flut flußaufwärts wanderte, verlockt, und was dann geschah und was ich sah – kurz, ich entkam. Aber an Küsten, wo diese Gefahren lauern, können wir nicht leben.«
Schweigen herrschte; der Regen peitschte nieder. Es gab keine Farben mehr, das Auge fand nichts anderes als Grautöne und Dunkelheit. Nahebei zuckten Blitze auf, der Donner rollte vom unsichtbaren Himmel herab.
Endlich ließ sich einer der älteren Männer hören, der geboren worden war, als Harald Blauzahn in Dänemark regierte. »Ich habe unterwegs darüber nachgedacht. Wenn wir an einem Ort, wo unsere Art wohnt, nicht als Gruppe Zuflucht finden können, wäre es dann nicht möglich, daß wir einzeln oder zu zweit in die verschiedenen Gegenden ziehen? Ich glaube, so Person für Person könnte man uns aufnehmen. Vielleicht würden sich die anderen über das Neue, das wir mitbringen, sogar freuen.«
»Für einige von uns mag das die Antwort sein«, mußte Vanimen einräumen. Er hatte erwartet, daß dieser Vorschlag gemacht werden würde. »Aber nicht für die meisten von uns. Denke daran, wie wenige Nester des Seevolks noch übrig sind. Wir waren die letzten an einem dänischen Strand. Ich glaube nicht, daß sich alle von uns auf sie aufteilen hellen, ohne daß sie darunter zu leiden hätten. Ganz bestimmt würden sir sich weigern, unsere Kleinen aufzunehmen, die erst noch jahrelang gefüttert werden müssen, ehe sie eine Hilfe bei der Nahrungsbeschaffung sind.«
Er reckte sich, um so groß wie möglich im Sturm dazustehen. »Und außerdem«, rief er ihnen zu, »sind wir das Liri-Volk. Wir haben unser Blut, unsere Sitten, unsere Erinnerungen gemeinsam, alles das, was uns zu dem macht, das wir sind. Wollt ihr euch von euren Freunden und Geliebten trennen, wollt ihr alte Lieder vergessen und niemals ganz richtig irgendwelche neuen lernen, wollt ihr das Liri eurer Vorfahren – die dort gelebt haben, seit das Große Eis sich zurückzog – sterben lassen, als sei es nie gewesen?
Sollen wir einander nicht helfen? Sollen wir es wahr werden lassen, was die Christen behaupten, Feenleute könnten nicht lieben?«
Mit offenem Mund starrten sie ihn durch den Regen an. Mehrere Säuglinge schrien. Endlich antwortete Meiiva: »Ich kenne dich, Vanimen. Du hast einen Plan. Laß uns ihn beurteilen.«
Ein Plan ... Er hatte nicht die Macht, Befehle zu erteilen. Liri hatte ihn zum König erwählt, nachdem die Knochen des letzten Führers auf einem Riff gefunden worden waren, eine Harpunenspitze zwischen den Rippen. Er hatte den Vorsitz bei selten vorkommenden Streitgesprächen. Er entschied bei Zwistigkeiten, obwohl nichts außer dem Wunsch, sich die allgemeine Achtung zu erhalten, den Verlierer zwingen konnte, sich nach diesem Urteil zu richten. Er verhandelte im Namen seines Volkes mit Siedlungen an anderen Orten – das war nur selten erforderlich. Er führte die wenigen Unternehmungen an, die ihre vereinten Kräfte erforderten. Er war der Leiter ihrer Feste.
Seine wichtigsten Aufgaben lagen außerhalb der Tradition. Er muß; te ein Gefäß der Weisheit, ein Ratgeber für die Jungen und die Zweifelnden sein, ein Bewahrer und Lehrer der alten Bräuche. Als Hüter der Talismane, als Zauberkundiger bewahrte er Liri vor Ungeheuern, böser Magie und der Menschenwelt. Er verkehrte mit den Mächten ... aye, er hatte Ran selbst zu Gast gehabt ...
Zum Lohn hatte er in einer Halle wohnen dürfen anstatt in dem einfachen Haus eines gewöhnlichen Wassermannes, es wurde für seinen Unterhalt gesorgt, wenn es nicht sein Wunsch war, selbst auf die Jagd zu gehen, er erhielt Kostbarkeiten zum Geschenk (allerdings wurde auch von ihm erwartet, daß er großzügig und ein guter Gastgeber war), er wurde von einem Stamm, der im allgemeinen nicht viel von Ehrerbietung hielt, hoch geachtet.
Alle diese Vorteile hatte er eingebüßt bis vielleicht auf diesen letzten, und er war Bestandteil der schweren Pflichten, die immer noch auf ihm lasteten.
Er sprach: »Dies ist nicht das ganze Universum. In meiner Jugend bin ich weit gewandert, wie einige unserer Rasse es zuweilen zu tun pflegen. Westwärts bin ich bis nach Grönland gekommen, wo ich erfuhr, daß es in den Ländern noch weiter im Westen sowohl Seevolk als auch Menschen gibt. Weder von der einen noch von der anderen Rasse hatte je ein lebendes Mitglied dort einen Besuch gemacht, aber die Kunde war gewiß, und die Delphine bestätigten es mir. Viele von euch werden sich daran erinnern, daß ich hin und wieder davon gesprochen habe. Es sollen dort wunderbare Strände und seichte Gewässer sein, von denen die Christenheit so gut wie nichts weiß und so auch keine Herrschaft darüber ausübt. Wenn wir in diese Gegenden gingen, hätten wir sie für uns selbst – Weite, Leben und Schönheit, um darin zu wachsen, frei und im Frieden.«
Das Erstaunen machte sich in Stimmengewirr Luft. Haiko war der erste, der ausrief: »Gerade noch hast du behauptet, mitten im Ozean könnten wir nicht lange bleiben. Können wir – vor allem die Kinder unter uns, und auch die meisten Erwachsenen – eine so lange Reise überleben? Da hast du den Grund, warum niemand von unserer Art dort wohnt!«
»Wahr, Wahr.« Der König hob seinen Dreizack. Schweigen trat ein. »Aber hört mich an«, sprach er. »Auch ich habe nachgedacht. Wir könnten den Weg ohne Verluste oder doch mit nur geringen zurücklegen, wenn es unterwegs Inseln gäbe, auf denen wir uns ausruhen, neue Kräfte sammeln und bei Gefahr Zuflucht suchen könnten. Es gibt aber keine? Nun, was haltet ihr von einer schwimmenden Insel, die wir mitnehmen? Eine solche Insel wird ein Schiff genannt.
Die Menschen haben uns, die wir ihnen nie etwas angetan haben, soviel Leid zugefügt, daß sie uns etwas schuldig sind. Ich sage: Nehmen wir ihnen ein Schiff weg und steuern wir es nach Westen – in die Neue Welt!«
Am Abend hatte der Sturm sich gelegt, und ebenso war es mit dem Sturm, der unter dem Liri-Volk getobt hatte. Nach Stunden des Für und Wider hatten sie zugestimmt. Die meisten von ihnen versuchten gegen Morgen, Schlaf zu finden, und rollten sich hinter den Dünen zusammen. Ein paar aber jagten nach Wild, von dem sie sich ernähren konnten.
Vanimen schritt mit Meiiva immer wieder rund um das Inselchen. Sie standen einander nahe, waren vor und nach Agnete oft Liebende gewesen. Weniger flüchtig, mit mehr Gefühl begabt als die anderen, konnte sie ihn häufig aufheitern.
Im Osten bildete der Himmel einen veilchenblauen Kelch für die ernten Sterne. Im Westen strömte es in Rot, Purpur und heißem Gold. Das Wasser bewegte sich leuchtend und einschläfernd. Die Nacht war ruhig und etwas milder als bisher; sie roch nach Tang und Ferne. Man konnte schon Hunger, Müdigkeit und Weh beiseite schieben, um sich einer Stunde der Hoffnung zu erfreuen.
»Bist du ehrlich überzeugt, es sei zu schaffen?« fragte Meiiva.
»Ja«, erklärte der König. »Ich habe dir ja erzählt, wie ich die Umgehung dieses Hafens in der letzten Zeit immer wieder und wieder ausgekundschaftet habe. Wir müssen uns eben auf die Lauer legen und eine günstige Gelegenheit abwarten. Doch zu dieser Jahreszeit glaube ich nicht, daß es lange dauern wird; die Stadt betreibt viel Handel. Niemand wird es wagen, uns des Nachts zu verfolgen, und bei Sonnenaufgang werden wir weit fort und nicht mehr aufzuspüren sein.«
»Weißt du, wie man mit einem Schiff umgehen muß?« wollte sie wissen. »Das ist heute überhaupt nicht zur Sprache gekommen.«
»Nun, ich weiß nur wenig – das, was ich selbst gesehen oder von Menschen erfahren habe. Ich hatte früher gelegentlich Freunde unter ihnen, wie du dich erinnern wirst«, antwortete Vanimen »Aber wir können es lernen. Die Gefahr dabei sollte nicht groß sein, wenn wir achtgeben, nicht zu nahe an eine Küste zu kommen. Auch sollten wir ohne Hast vorgehen.« Schneller fuhr er fort: »Denn wir werden unsere Insel bekommen. Wenn wir uns abwechselnd auf ihr ausruhen können, brauchen wir weniger Nahrung; so können wir uns durch die Jagd ernähren. Und natürlich brauchen wir uns keine Sorgen um Süßwasser zu machen wie die Menschen. Und wir finden unseren Weg besser als sie. Außerdem wissen wir, daß sich dort, wohin wir steuern, nicht der Rand der Welt befindet, über den die Wasser tosend in den Abgrund stürzen, sondern sicheres Land, und das allein schon bedeutet den Unterschied, der uns retten wird.«
Sein Blick wanderte vom Sand und mageren Pflanzenwuchs zu dem schimmernden Sonnenuntergang am westlichen Horizont. »Ich weiß nicht, ob ich die Kinder Adams bemitleiden oder beneiden soll«, mumelte er. »Wirklich, ich weiß es nicht.«
Meiiva ergriff seine Hand. »Du fühlst dich auf seltsame Weise von ihnen angezogen«, meinte sie.
Er nickte. »Aye, und im Fluß der Jahre immer stärker. Ich spreche nicht darüber, denn wer würde es verstehen? Doch ich spüre ... ich weiß nicht ... daß mehr in der Schöpfung ist als unser glitzerndes, unstetes Feenreich. Es kommt nicht darauf an, daß die Menschen unsterbliche Seelen haben. Wir haben das immer für ein zu niedriges Entgelt dafür gehalten, daß sie ans Land gefesselt sind. Aber ich habe oft darüber nachgedacht ...« – seine freie Hand ballte sich zur Faust, in seinem Gesicht arbeitete es – ,,... was haben sie in diesem Leben, hier und jetzt, inmitten allen Elends, was können sie schauen, für das wir auf immer blind sind?«
Stavanger im Süden Norwegens träumte unter einem abnehmenden Mond. Sein Licht baute eine unterbrochene Brücke über den Fjord, wo kleine Inseln dunkle Erhebungen bildeten, versilberte das Stroh und die Schindeln der Dächer, machte die Steine der Kathedrale weich und wurde in den Fenstern lebendig, und es verwandelte die Straßen unter den Galerien der Häuser in noch tiefere Abgründe der Schwärze. Es berührte die Galionsfigur und Masten der Schiffe am Kai ...
Auf dem Achterdeck eines bestimmten Schiffes fiel Kerzenlicht durch dünngeschabtes Horn. Das Schiff kam aus der Hansestadt Danzig und war einmastig wie eine Kogge, aber länger und schlanker, von der neuen Art, die man Hulk nannte. Am Tag hätte man sehen können, daß sein Rumpf eine leuchtend rote Beplattung mit weiß-gelber Trimmlinie hatte.
Mondstrahlen tanzten über die verstohlen herbeischwimmenden Wassermänner. Sie empfanden keine Kälte, keine Furcht; sie waren auf Beute aus.
Vanimen führte sie ans Ziel. Das Freibord lag höher, als er springen konnte, aber er war zuvor an Land gewesen und hatte gestohlen, was er brauchte. Ein Wurfhaken faßte mittschiffs die Reling. Von ihm baumelte eine Strickleiter, an der er emporkletterte.
So leise er war, wurde der Wachtposten doch auf ein Geräusch aufmerksam. (Die Mannschaft besuchte die Kneipen und Bordelle.) Dieser Wachtposten nun kam mit Laterne und Pike vom Heck herunter. Grau fing sich das Mondlicht auf dem Stahl und den Streifen in seinem gart. Er war kein junger Mann mehr, sondern dick und langsam. »Wer ist da?« rief er auf deutsch, und als er sah, was da an Bord gekommen war, schrie er entsetzt: »O Jesus, hilf mir! Hilfe, Hilfe ...«
Sie durften nicht zulassen, daß er den ganzen Hafen zusammenschrie Vanimen ergriff den Dreizack, den er an einer Schlinge auf dem kacken trug, und stieß zu. Blut spritzte, der Wachtposten fiel auf das Deck. Er wand sich. »Johanna, Peter, Maria, Friedrich«, keuchte er
waren es die Namen seiner Frau und seiner Kinder? Er wandte die Augen Vanimen zu, hob halb die Hand. »Gott verfluche dich dafür«, stieß er hervor. »St. Michael, mein Namenspatron, Streiter des Herrn, riehe ...«
Vanimen stieß nochmals zu und der Wachtposten verstummte. Wassermänner kletterten die Leiter hinauf. Sie achteten kaum auf die Worte des Sterbenden; niemand außer ihrem König verstand Deutsch. Vanimen blieb einen Augenblick stehen. Das Herz tat ihm weh. Dann warf er die Leiche über Bord und übernahm das Kommando auf dem Schiff.
Es war keine leichte Aufgabe, denn seine Gefolgsleute waren völlig ahnungslos, was sie zu tun hatten. Ihr ungeschicktes Hantieren erzeugte Lärm, der bestimmt irgendwelche Ohren an Land erreichen mußte. Sie waren bereit zu kämpfen, wenn sie mußten. Aber es tauchten keine weiteren Menschen auf. Unklug war es, in der Nacht nachzusehen, was los war, wenn sich irgendein Aufruhr hören ließ, und falls es eine Bürgerwehr in Stavanger gab, so kam sie zweifellos zu dem Schluß, es gehe nichts Ungewöhnliches vor – vielleicht eine Rauferei unter Betrunkenen.
Die Vertäuungen wurden losgeworfen. Das Segel entfaltete sich und füllte sich mit der Landbrise, deretwegen Vanimen bis zu dieser späten Stunde gewartet hatte. Für Feenaugen gab es genug Licht, um danach steuern zu können. Der Hulk stahl sich die Bucht hinunter. Als er an einer Insel vorbeikam, gingen die Meerfrauen und ihre Kinder an Bord.
Bei Sonnenaufgang lag Norwegen weit hinter ihnen.