11
Der Sommer war vergangen, es war wieder Herbst. Das dänische Heidekraut blühte purpurn, die Beeren der Eberesche leuchteten, die Espen zitterten im Goldschmuck. Vom Mond der Jäger herab tönte das einsame Wanderlied der Gänse. Am Morgen dampfte der Atem, und gefrorene Pfützen knirschten unter den Füßen.
Sonnenschein und Wolkenschatten jagten sich auf den Flügeln eines kalten Windes über das Land. Das Asmild-Kloster schenkte dem keine Beachtung. Viereckig, unter Eichen, deren letzte Blätter fielen, schienen seine Ziegelsteine vor der Heide, die sich dahinter erstreckte, doppelt rot zu sein. Das Kloster blickte über einen kleinen See auf Viborg – die Türme der Kathedrale und das Türmchen der Kirche von den Schwarzen Brüdern, die Mauern einer Schutzburg – , als sei die Marktstadt dort drüben unwirklich. Das galt nicht für die Schwestern selbst, die viele Werke der Nächstenliebe verrichteten, aber hier hatten sie ihren Zufluchtsort, dessen Harmonie die Welt nicht stören konnte.
Wenigstens hatte es so den Anschein gehabt.
Drei kamen von Viborg geritten, wie durch hin- und hergehende Botschaften zuvor ausgehandelt worden war. Sie machten in ihren guten, aber schlichten Kleidern und den Pferden von bester Rasse einen höchst ehrbaren Eindruck. Vor dem Nonnenkloster stieg der schlanke junge Mann mit dem flächsernen Haar ab und half der hübschen Frau, die offensichtlich älter war als er, mit gebotener Höflichkeit aus dem Sattel. Sein Diener, der sich um die Tiere kümmerte, war ein stämmiger Bursche, der auch den Leibwächter zu spielen hatte, und seine eigenen Manieren waren schicklich. Die beiden ersteren baten um Einlaß und traten mit der schuldigen Ehrerbietung ein.
Trotzdem empfing die Priorin sie unfreundlich. »Ich muß dem Befehl des Bischofs gehorchen. Doch die Heiligen sind Zeugen, daß dies äußerst ungewöhnlich ist. Wisset, ich werde beten, daß es Euch nicht gelingen möge, uns unseres schönsten Juwels zu berauben.«
»Das ist nicht unser Ziel, Ehrwürdige Mutter«, antwortete Niels Jonsen in seinem sanftesten Ton. »Ihr werdet Euch aus unserm Briefwechsel erinnern, daß wir beide eine Ehrenschuld bezahlen.«
»Wenig genug ist mir zum Lesen gegeben worden, und das so, als sei es ein Palimpsest«, fauchte die Priorin. »Ich bin nicht so unschuldig, daß ich nicht merke, wenn mit allen Mitteln intrigiert worden ist ... da wurden Geschäfte gemacht, Druck ausgeübt, Köder ausgehängt – ja, sogar unter den Herren der Kirche!«
»Das sind schwere Anschuldigungen, Ehrwürdige Mutter«, warnte Ingeborg Hjalmarstochter. Die Priorin wurde sich bewußt, daß sie tatsächlich zuviel gesagt hatte, und erbleichte. Ingeborg lächelte. »Ich verstehe. Ihr habt das Mädchen liebgewonnen, habe ich recht? Dann wird es Euch sicher freuen, daß sie jetzt eine Wahl hat, die ihr zuvor nicht freistand, und wenn sie sich dafür entscheidet hierzubleiben – was gut sein kann – , dann geschieht es aus echter Frömmigkeit.«
»Ihr sprecht von Frömmigkeit, Ihr? Ich habe Nachforschungen anstellen lassen. Eure Anwesenheit besudelt dieses Haus.«
»Mir ist immer gesagt worden, Zorn sei eine der Todsünden«, warf Niels ein, die eigene Stirn gerötet. »Sollen wir mit unsern geschäftlichen Angelegenheiten fortfahren, Ehrwürdige Mutter?«
Also geschah es nach dem Willen des Bischofs. Niels und Ingeborg wurden in den Hof geführt. Niemand sonst blieb da, um zuzuhören, obwohl bestimmt einige der Nonnen außer Hörweite aus den Fenstern spähten.
Margrete, deren Körper Yria gewesen war, trat unter die Arkaden des Klosters und blieb stehen. Noch keine Novize, trug sie ein Gewand mit Schleier, das dem schwarzen Habit der Augustinerinnen ähnelte. Obwohl sie ein paar Zoll gewachsen war und sogar diese formlose Tracht nicht ganz verbergen konnte, wie Brüste und Hüften sich rundeten, war es doch, als stehe dort ein Kind mit großen Augen in einem zarten Gesicht, die Lippen schüchtern ein wenig geöffnet.
Ingeborg trat zu ihr und ergriff ihre Hände. »Margrete, meine Liebe«, grüßte sie sie. »Ihr kennt uns nicht, aber Ihr wißt von uns. Wir sind Eure Freunde, gekommen, Euch zu helfen.«
Das Mädchen wich zurück. »Man hat mir gesagt, ich müsse Euch sehen«, flüsterte sie.
»Ha! Was hat man Euch sonst noch über uns erzählt?« schnaubte Niels. »Ihr seid ein Besitz, den sie nicht gern aufgeben wollen. Der Handel mit den Pilgern ...«
Ingeborg sandte ihm über die Schulter ein Stirnrunzeln zu. »Still«, verwies sie ihn. »Jetzt ist nicht die Zeit, sich herumzustreiten.« Zu Margrete: »Alles, was wir von Euch wollen, ist, daß Ihr uns zuhört und nach Eurem Belieben Fragen stellt. Wir treffen uns ohne Zeugen, weil es Personen gibt, die zu Schaden kommen könnten, würde die Geschichte sich verbreiten. Ihr müßt schwören, daß Ihr selbst kein Wort verraten werdet, es sei denn, es wäre eine Sünde, wolltet Ihr schweigen, weil Ihr mit Eurem Wissen etwas Schlechtem entgegentreten könntet. Ihr sollt keine Sünde begehen, das verspreche ich Euch. Ich will Euch von denen erzählen, denen Euer Wohlergehen so sehr am Herzen liegt, daß sie dafür ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben – von Euren Brüdern und Eurer Schwester, Margrete.«
»Ich habe keine«, stammelte die Jungfrau. »Nicht mehr.«
»Wollt Ihr sie verleugnen? Hört, Ihr würdet heute im Meer leben, falls Ihr nicht längst gestorben wäret, wie ein Tier stirbt, wenn sie Euch nicht an Land gebracht hätten. Setzt Euch.« Ingeborg drückte Margrete auf eine Bank. »Paßt auf.«
Ein Windstoß fuhr in den Hof, kalt und frech. Eine Wolke segelte über ihnen dahin wie ein weißes Banner. Krähen lachten.
Die Geschichte von den Kindern des Wassermanns war schnell erzählt, denn Niels und Ingeborg milderten sie sehr ab. Anfangs wurde Margrete noch bleicher, doch später stieg ihr, deutlich sichtbar, das Blut in die Wangen.
»Das Ergebnis ist folgendes«, schloß Niels. »Die weltlichen und geistlichen Herren, die mit dieser Angelegenheit in Berührung gekommen sind, wissen nur soviel, daß ich das einem Kameraden gegebene Gelübde erfüllen möchte und daß mein Beichtvater mir Absolution erteilt hat. Der Bischof von Roskilde hat mir große Hilfe geleistet; wir sind in gewisser Art Freunde geworden. Außerdem bringen Stiftungen in meinem Namen, aus ... hm ... Dankbarkeit gegenüber den Heiligen ... der Kirche im Ganzen sehr viel Gold ein, ohne gefährliche Aufmerksamkeit zu erregen. Der Bischof stimmt auch zu, daß es nur recht und billig ist, wenn Ihr ein Erbe von Eurer Familie erhaltet – denn natürlich weiß er inzwischen, daß sie, die Halbblutgeschwister, die Unternehmung angeführt haben, obwohl ich mich gehütet habe, ihn mehr erfahren zu lassen.
Nun, Euch erwartet in Kopenhagen ein Vermögen. Bischof Johan hat eine Familie gefunden – der Mann ist ein reicher Kaufmann – , die Euch gern adoptieren, für Euch sorgen, eine gute Heirat für Euch zustandebringen will. Wenn Ihr möchtet, könnt Ihr gleich mit uns kommen.«
»Ich habe die Familie kennengelernt«, setzte Ingeborg hinzu. »Es sind gute, freundliche, verständige Menschen. In ihrem Heim herrscht Friede.«
»Leben auch«, lächelte Niels. »Ihr werdet viel Freude dort haben.« »Sind sie fromm?« erkundigte sich Margrete.
»Der Bischof hat sie ausgesucht, nicht wahr?«
Das Mädchen saß eine Weile stumm da, in Kälte und Wind. »Vor so etwas bin ich gewarnt worden«, sagte sie schließlich, den Blick auf das Kopfsteinpflaster gerichtet. »Mutter Ellin war ganz und gar dagegen ...«
»Seid Ihr glücklich hier?« forschte Ingeborg.
»Was ist aus ihnen geworden ... aus Tauno und Eyjan?«
Margrete bemerkte den schmerzlichen Ausdruck der beiden anderen nicht. »Wir wissen es nicht«, antwortete Niels. »Seit mehr als einem Jahr haben wir nichts mehr von ihnen gehört.«
Ingeborg legte dem Mädchen einen Arm um die Schultern. »Seid Ihr glücklich hier?« wiederholte sie. »Wenn Ihr es wirklich und wahrhaftig seid, dann bleibt. Ihr könnt Euer Erbe dem Kloster übereignen oder sonst damit tun, was immer Ihr wollt. Wir sind nur gekommen, um Euch Eure Freiheit zu geben, Liebes.«
Margrete sog scharf die Luft ein. Mit den Händen umklammerte sie die Knie. »Die Schwestern ... sind ... freundlich. Ich ... lerne viel ...« Ingeborg nickte. »Aber Ihr teilt Taunos Blut.«
»Ich sollte bleiben. Mutter Ellin sagt, ich muß!«
»Solche, die im Rang über ihr stehen, sagen, Ihr braucht es nicht«, erinnerte Niels sie.
»Oh, ich hätte so gern Kinder ...« Die leichte Gestalt beugte sich vor und weinte.
Ingeborg versuchte, sie zu umarmen. Margrete entzog sich ihr, stand auf, wich an eine Säule zurück und schlang die Arme um den Stein. Schluchzen schüttelte sie. Der Mann und die Frau warteten.
Schließlich wandte die Jungfrau sich um. Immer noch schluchzte sie hin und wieder auf, aber sie hatte eine innere Ruhe gewonnen. Sie sprach: »Ich muß darum beten, recht geführt zu werden, aber ich glaube, ich werde gehen. Doch am besten wird es sein, nicht mit Euch. Könnt Ihr mir eine andere Begleitung für ... oh ... nächste Woche besorgen?«
»Wir können solange in Viborg bleiben«, bot Niels an.
Margrete stand steif vor ihnen und preßte heraus: »Nein, bitte nicht. Ich darf Euch beide nicht öfter sehen, als unbedingt notwendig ist. Denn ich bin ein lebendes Zeichen von Gottes Gnade, und Ihr – ich habe von Eurem Lebenswandel gehört – oh, bessert ihn, heiratet! Meidet auch diese Halbblutwesen, Eures Seelenheils wegen, falls Ihr sie nicht dazu bewegen könnt, sich taufen zu lassen. Aber ich glaube nicht, daß Ihr das könnt, und ja, sie waren sehr gut zu mir, ich werde für sie beten, wenn der Priester es mir erlaubt – aber Christenmenschen dürfen keinen Umgang mit Unreinheit und seelenlosen Dingen aus dem Heidentum haben, nicht wahr?«