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Obwohl ihm noch viel zu lernen blieb, gewann Niels schnell an Weltklugheit. Er war eine Partnerschaft mit einem älteren Mann eingegangen, der zu dem Geld, das Niels in die Handelsschiffahrt stecken konnte, die Erfahrung mitbrachte. Wenn dieser Kaufmann in einigen Jahren so alt war, daß er sich zurückziehen wollte, und der jüngere das ganze Geschäft übernahm, würde ihre Gesellschaft so gut dastehen, wie es außerhalb der Hanse möglich war, und mit ihr konkurrieren können. In der Zwischenzeit kam er durch das Geschäft wie auch durch seine merkwürdige Allianz mit dem Bischof von Roskilde in Verbindung mit vielen Arten von Menschen. Außerdem hatte Niels Stellungen für seine Brüder und Schwestern gefunden, nach dem Gesichtspunkt ausgewählt, daß sie Zufriedenheit, Wohlstand und die Gunst mächtiger Männer gewinnen sollten. (Seiner Mutter ermöglichte er einfach ein Leben der Muße, das sie bald ihrem Garten und guten Werken widmete.)
Folglich konnte Niels herausfinden, was er nicht wußte, und was er nicht selbst tun konnte, von anderen tun lassen.
Natürlich ließ sich das nicht immer über Nacht bewerkstelligen, besonders dann nicht, wenn der seltsame Grund für ein Vorhaben geheimgehalten werden mußte. Sein Plan war: Tauno und Eyjan sollten zu Schiff nach Dalmatien reisen und mit Briefen von Kirche und Krone versehen werden, die ihnen nach ihrer Ankunft den Weg ebneten. Dazu war erforderlich, Identitäten zu erfinden, die einen einleuchtenden Grund dafür abgaben, daß sie ein Fahrzeug mieteten. Er mußte sich mit äußerster Vorsicht vorantasten, um bei niemandem Argwohn zu erregen. Dazu waren Wochen nötig, seine Anwesenheit in Kopenhagen – und auch die der Geschwister, damit sie sich besprechen konnten und die beiden Übung darin erhielten, sich wie richtige Sterbliche zu benehmen.
Außerdem hätten weder er noch Ingeborg Taunos und Eyjans Abwesenheit ertragen, da sie nun wieder in Dänemark waren.
»Ah, ah, ah«, seufzte die Frau. »Das war wundervoll. Du bist immer wundervoll.«
Warm, feucht, duftend, zerzaust drückte sie sich so eng sie konnte an den Sohn des Wassermanns. Er umschlang sie mit einem Arm, legte ein Bein über ihre Beine und spielte mit dem, was er von ihr erreichen konnte. Eine Wachskerze warf einen weichen Schein und die Schatten von Ungeheuern in das Schlafzimmer.
»Liebe mich noch einmal, sobald du kannst«, flüsterte sie.
»Wird es dir nicht weh tun?« fragte Tauno, denn er hatte die Kraft seines Vaters in den Lenden.
Ingeborgs leises Lachen kündete mehr von Verlangen als von Fröhlichkeit. »Das kann mir gar nicht weh tun.« Plötzlich hielt sie den Atem an, und er spürte, wie sie zusammenzuckte.
»Was ist denn?« rief er.
Sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter. Ihre Finger gruben sich in sein Fleisch. »Wenn du nicht da bist, das tut weh.« Ihre Stimme bebte. »Nie ist es weniger als ein Schmerz, der mir durch und durch geht; oft ist es wie ein Messer, das umgedreht wird. Gib mir alles von dir, Geliebter, solange du es noch kannst. Hilf mir heute nacht vergessen, daß du bald wieder gehen wirst. Dann wird Zeit genug für das Erinnern sein.«
Tauno runzelte die Stirn. »Ich dachte, du und Niels, ihr wäret glücklich zusammen.«
Ingeborg hob die Augen. Kerzenlicht zitterte auf den Tränen, die in ihnen standen. »Oh, wir mögen uns gern. Er ist freundlich, sanft, großmütig ... und, ja, er hat eine Begabung für die Liebe ... aber mit dir ist er nicht zu vergleichen! Und er ist auch nicht du in all deiner Schönheit und deinem Glanz. Es ist ein Unterschied, als ob ... als ob man auf einer Sommerwiese liegt und über sich die Wolken dahinziehen sieht – oder ob man mit dem Wind fliegt, der sie treibt, mit der Sonne, die sie leuchten läßt. Ich verstehe nicht, wie deine Mutter deinen Vater verlassen konnte.«
Tauno biß sich auf die Lippe. »Anfangs war sie froh, unter der Wasseroberfläche bei ihm sein zu können, doch als die Jahre vergingen, empfand sie es bis ins Mark hinein, daß sie nicht dem Feenreich angehörte. Immer hat eine solche Verbindung Unglück gebracht, einem oder allen beiden. Ich fürchte, ich habe das Unglück für dich bereits heraufbeschworen.«
»Nein!« Sie löste sich von ihm, setzte sich auf und starrte ihn entsetzt an. »Geliebter, nein!« Sie bezwang sich. »Sieh dich doch nur um. Sieh mich hier in einem schönen Haus, gutgenährt, gutgekleidet, kein billiges Stück Ware mehr. Und das alles ist im Grunde dein Werk, Tauno.«
»Nicht meines allein.« Er blieb ausgestreckt liegen, den Blick zur Decke gerichtet. »Außerdem hast du von hoffnungsloser Sehnsucht gesprochen – was deine Seele, wie ich vermute, in Gefahr bringen könnte ... Aye, am besten verweile ich hier nicht lange, so sehr ich wiederum dich vermissen werde.«
»Wirklich?« rief sie und beugte sich über ihn. Ihr Haar fiel herab und war wie eine Liebkosung. »Dann bin ich nicht schlecht für dich gewesen?«
»Nein, Ingeborg«, sagte er sehr sanft und sah ihr gerade in die Augen. »Du hast mir mehr gegeben, als du je wissen wirst. Deshalb sollte ich gehen, ehe ich dir eine Wunde zufüge, die die Ewigkeit nicht heilen kann.«
»Aber die heutige Nacht gehört uns!«
»Und der Morgen auch, ja, und weitere Morgen.« Er zog sie an sich.
Niels kam mit finsterem Gesicht aus der Kirche nach Hause. Eyjan, wie eine Dame gewandet, begrüßte ihn an der Tür, sah es und führte ihn schweigend in ein Nebenzimmer, wo sie ungehört sprechen konnten. »Was ist geschehen?« fragte sie.
»Heute wollte Vater Ebbe, mein Beichtvater, wissen, warum meine Hausgäste niemals zur Messe kommen«, teilte er ihr mit.
»Oh, er hat von uns gehört?«
»Wie wäre das zu vermeiden gewesen? Dienstboten und Nachbarn klatschen.« Niels hakte die Daumen in den Gürtel und richtete den düsteren Blick auf den Fußboden. »Ich habe erklärt ... ihr hättet geheime Geschäfte zu erledigen, denen es schadete, würde man euch erkennen ... und deswegen besuchtet ihr irgendwo anders eine Kapelle. Er sagte nichts mehr, aber seine Miene wurde ernster, als ich es an ihm kenne. Zweifellos weiß er, daß ich mit dir schlafe und Ingeborg mit Tauno ..., und das in der Fastenzeit, in der Fastenzeit ..., obwohl weder Ingeborg noch ich es ihm gebeichtet haben. Aber vor Ostern müssen wir es tun, damit wir zur Kommunion gehen können.«
»Wäre das so gefährlich? Ihr beiden lebt doch offen zusammen, ohne verheiratet zu sein.«
Er blickte hoch und lächelte schief. »Das ist nichts Ungewöhnliches. Er läßt uns dafür ein paar Aves sprechen, weil er die guten Werke, die wir mit unserem Geld tun, in Rechnung stellt. Aber wenn wir ihm sagen, daß wir wieder Bettgefährten von euch ... von euch Halbblutwesen sind ... und das ohne die Entschuldigung, es sei kein anderer Partner vorhanden – sondern aus freiem Willen, ohne Zwang ... Ich fürchte, er wird uns befehlen, euch auf der Stelle fortzuschicken. Sollten wir uns weigern ... eine Exkommunikation würde nicht nur unsere Seelen und unsere Sicherheit in diesem Leben gefährden, sondern es uns auch unmöglich machen, euch zu helfen.«
»Die Lösung ist doch nicht schwer«, meinte Eyjan ungerührt. »Gesteht, daß ihr mit uns schlaft, aber verschweigt, was wir sind. Außerdem können Tauno und ich mit zum Gottesdienst kommen – ich bezweifele, daß die Bilder sich von uns abwenden werden –, wenn du uns auseinandersetzt, wie wir uns in der Kirche zu verhalten haben.«
Er wich vor ihr zurück. »Nein!« würgte er entsetzt hervor. »Du weißt nicht, was du sagst!«
Ungeduldig schüttelte sie ihren roten Kopf. »Gut möglich. Wenig von deinem Christentum hat in meinen Augen Sinn.« Sie zupfte an ihrem Gewand und murmelte einen Fluch. »Könnte ich dieses stinkende Ding nur abwerfen und mich in den Wellen baden ...«
»Meine Schuld ist bereits groß genug.« Niels' Stimme bebte. »Doch sollte ich das Sakrament mit einer nicht gebeichteten Sünde nehmen – wenn der Satan mich so sieht, züngeln schon seine Höllenflammen nach mir.«
Das beunruhigte Eyjan doch. Sie trat vor und faßte seine Hände. »Das dürfen wir euch nicht antun, Tauno und ich. Wir werden unsern Weg nach Süden fortsetzen – morgen in aller Frühe aufbrechen ...«
»Nein.« Seine Worte überstürzten sich. »Ich soll meine beiden liebsten Freunde verleugnen? Niemals! Bleibt.«
Als inspiriere ihn ihre Anwesenheit, fuhr er, mit einem Mal beinahe glücklich, fort: »Paß auf. Ich werde dafür sorgen, daß wir erst kurz vor Ostern die Absolution erhalten, und ihr reist gleich danach ab. Ich glaube, dann wird Vater Ebbe die Buße nicht zu hart werden lassen. Er predigt gern darüber, was ein Mann seinen Schiffsgefährten schuldig sei.«
Eyjan bemühte sich, das zu verstehen. »Angenommen, du stirbst, bevor du diesen Ritus ausführen kannst – oder angenommen, er verlangt, du dürfest uns niemals wiedersehen, und das wäre nicht deine Absicht – wärst du dann nicht verdammt?«
Niels sann auf Spitzfindigkeiten. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich werde es riskieren. Und ich werde versuchen, später zu bereuen, doch nie wird es mir leid tun, daß ich dich geküßt habe.« Er sah ihre hohe, volle Gestalt mit einem Blick an, wie ihn ein zurückgekehrter Flüchtling haben mag, wenn er Schritt für Schritt über heimatlichen Boden geht. »Nein, ich werde mich nach dir sehnen, wachend und träumend, bei jedem Herzschlag, der mir bleibt, und ich werde um einen Tod und ein Begräbnis auf See beten, Eyjan, auf deiner See.«
»Für solche Gedanken ist es zu früh.” Sie schlang ihm die Arme um den Nacken. »Vergiß sie. Uns bleiben noch viele Küsse, die wir uns geben können, Niels.«
Dann lachte sie. »Mit dem Essen dauert es noch geraume Zeit, und hier steht ein Ruhebett. Ja, nehmen wir uns, was an unserm Weg liegt, bevor die Ebbe es aus unserer Reichweite spült.«
»Gute Neuigkeiten«, teilte der junge Mann Tauno mit. »Endlich haben wir christliche Namen für euch beide.«
»Aber ihr habt uns doch bereits welche gegeben«, antwortete sein Kamerad erstaunt.
Sie waren aus Kopenhagen hinausgeritten, weil sie allein sein wollten und weil es ein schöner Frühlingstag war. Der Gemeindeanger, den sie überquerten, prangte in frischem Gras. In der Ferne bildeten die jungen Blätter einen grünen Nebel über einem Stück Wald. Vor dem blauen Himmel zogen heimkehrende Störche dahin, Vorboten des Sommers, Glücksbringer. Der Wind war frisch, geräuschvoll, mit feuchten Düften gefüllt. Die Hufe waren auf dem weichen Boden fast nicht zu hören.
Niels fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Du wirst dich erinnern, daß das nur die besten Namen waren, die uns in aller Eile eingefallen sind. Ich habe nun verlauten lassen, sie seien falsch, von euch nur deswegen benützt, weil ihr in geheimen Angelegenheiten reist. Jetzt sind wir bereit, vor die Öffentlichkeit zu treten ...« – er grinste – »... weil wir eine angemessene Verkleidung zur Hand haben. Am besten besprechen du und ich es zuerst, weil du notwendigerweise die Rolle des Mannes spielen mußt.«
Taunos Reittier scheute. Er brachte es wieder unter Kontrolle, aber Niels schalt ihn, daß er den Zaum zu scharf angezogen habe. »Das Reiten ist auch eine Kunst, die du lernen mußt, wenn du zurechtkommen willst«, warnte der Mensch.
»Erzähl schon«, brummte der andere.
»Aye. Hauptsächlich hat es so lange gedauert, weil wir etwas aussuchen mußten, das euch nicht in Schwierigkeiten bringt. Wir wollen schließlich nicht Gefahr laufen, daß irgendwer, der euch begegnet, erklärt, er kenne euren Landstrich gut, habe jedoch nie von euch gehört. Auch bestimmte Dokumente sind ratsam, aber leichter zu beschaffen; mein Sekretär ist ein schlauer Schurke.
Also, du wirst Herr Carolus Brede sein, ein Landedelmann aus einer abgelegenen Ecke in Skania – das ist das dänische Gebiet jenseits des Sunds, wußtest du das? Ein Teil davon ist dicht bewaldet und hat wenig Verkehr. Du bist zwar nicht reich, aber von guter Herkunft. Einer deiner Vorväter war ein Edelmann im Dienst der Königin Dagmar geliebten Angedenkens, als sie vor hundert Jahren aus Böhmen kam, um König Waldemar den Siegreichen zu heiraten. Du hast erfahren, daß es noch weiter südlich in Kroatien Verwandte von dir gibt, und dich entschlossen, selbst nachzusehen, ob das stimmt und ob daraus irgendwelche Vorteile zu gewinnen sind. Das hast du geheimgehalten, um Agenten der Hanse nicht mit der Nase darauf zu stoßen, daß durch bestimmte Abkommen ein Handelsverkehr über Land quer durch das Deutsche Reich entstehen könnte, denn vielleicht hätten sie sogar versucht, dich zu ermorden, um es zu verhindern. Obwohl die Chance nicht groß ist, wie jeder vernünftige Mann erkennen wird, ist sie doch ein genügender Anreiz für meine Gesellschaft, etwas aufs Spiel zu setzen und dich mit einem Schiff und einer Mannschaft zu versorgen. Außerdem verlasse ich mich darauf, daß meine Leute mit irgendeiner Fracht zurückkommen, die sich hier gut absetzen läßt. Es liegt nun in meinem Interesse, dich mit königlichen und episkopalen Empfehlungsbriefen zu versehen, und du wirst sie schon aus dem Grund bekommen, weil die dänischen Herren neugierig sind, mehr über die Kroaten zu erfahren.«
Tauno lachte und schüttelte den Kopf. »Bei den Gebeinen meiner Mutter, hast du dich verändert!« rief er. »Aus all diesen eleganten Wörtern höre ich den einfachen Matrosen der Herning nicht mehr heraus. Sie reißen mich mit sich fort wie ein Strudel.«
Niels runzelte die Stirn. »Du wirst lernen müssen, sie und viele andere selbst zu gebrauchen. Andernfalls wirst du dich verraten, und das wird dich ... und Eyjan wahrscheinlich das Leben kosten.«
Über den Knöcheln der Hände, die die Zügel hielten, spannte sich die Haut. »Ja, und was ist mit ihr? Als was wird sie reisen?«
»Als Frau Sigrid, deine verwitwete Schwester, die dich mit dem ausgesprochenen Ziel einer Pilgerreise begleitet und dem unausgesprochenen, eine bessere Heirat abzuschließen, als sie es in Dänemark könnte.«
Tauno sah ihn durchbohrend an. »Meine Schwester? Warum nicht meine Frau?«
Niels gab ihm den Blick zurück. Unsichtbare Funken flogen. »Würdet ihr beiden das wirklich wollen?«
Der Liri-Prinz peitschte sein Pferd zum Galopp an.
Regen goß in Strömen vom Himmel, trommelte auf den Dächern, verwandelte die Straßen der Stadt in Flüsse. Blitze zuckten, Donner rasselte auf riesigen Rädern vorbei, Wind heulte.
Ein Kachelofen heizte den Hauptraum von Niels Jonsens Haus; Kerzen warfen Licht auf Täfelungen, Wandbehänge, geschnitzte Möbel. Ingeborg hatte die Dienstboten entlassen und die Türen geschlossen, damit sie den Unterricht fortsetzen konnte, den sie Eyjan im Benehmen einer vornehmen Dame erteilte.
»Natürlich bin ich selbst keine, aber ich habe diese Art beobachtet, ich habe mich darin geübt, sie nachzuahmen. Und du gehst zu stolz.«
»Hör auf!« rief die Tochter des Wassermanns aus. »Du hast mich schon ganz vollgestopft mit diesem Unsinn.« Sie brach ab, beruhigte sich, lächelte. »Verzeih mir. Ich weiß, du tust für uns, was du kannst. Aber hier drinnen ist es so heiß und so eng, die Wolle klebt und kratzt und erstickt meine Haut. Ich kann es nicht mehr aushalten.«
Ingeborg sah sie eine Weile an. Bis auf das Rütteln des Sturms an den Fensterläden war es ganz still. Schließlich sagte sie: »Du mußt es aushalten. Es ist das Los der Frauen, und du wirst eine Frau sein, solange eure Reise dauert. Vergiß das nie, oder du wirst Tauno dem Tod ausliefern.«
»Aber können wir nicht für heute Schluß machen?«
»Aye, das ist vielleicht am besten.«
»Laß mich ein- oder zweimal Luft holen, ehe wir uns weiter mit deiner Welt befassen«, bat Eyjan. Mit Bewegungen, die jetzt schon recht geschickt waren, zog sie ihre Kleider aus und warf sie heftig zu Boden. Nackt ging sie an ein Schränkchen und goß sich einen Becher Met ein. »Möchtest du auch etwas?«
Ingeborg zögerte, und dann antwortete sie: »Ja, bitte. Aber hüte dich davor, dich zu betrinken. Das ist etwas für Huren und Schlampen – und Männer.«
»Ist in eurer christlichen Welt alles für Männer?«
»Nein, das nicht.« Ingeborg nahm das Glas, das Eyjan ihr reichte, und setzte sich auf einen Sessel. »Wir lernen es, wie wir ihnen eine ganze Menge abschmeicheln können.«
»Im Meer hatte es niemand nötig, einem andern etwas abzuschmeicheln.« Eyjan schubste einen Sessel an den richtigen Platz und setzte sich ihrer Gastgeberin gegenüber.
»Aber wir auf dem Land sind mit dem Fluch Evas belastet. Wie oft habe ich das Wort Gottes gehört: Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären; und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, und er soll dein Herr sein.« Ingeborg umklammerte die Armlehnen ihres Sessels. Sie würde niemals Kinder gebären.
Eyjan sah es und versuchte unbeholfen, sie zu trösten. »Du hast es besser getroffen als viele, nicht wahr? Niels ist ein Mann, mit dem angenehm zu leben ist, und ich habe festgestellt, daß er in verschiedenen Dingen deinen Rat sucht; du bist nicht bloß sein Spielzeug.«
»Das ist wahr. Und trotzdem bin ich eine ausgehaltene Frau, mit der keine ehrbare Ehefrau etwas zu tun haben will, wenn es sich irgend vermeiden läßt. Und natürlich auch kein ehrbarer Mann. Sie grüßen mich wohl höflich, diese Kaufleute und Edelleute und Schiffskapitäne, aber mit dem Grüßen ist auch Schluß. Was sie mit Niels besprechen, erfahre ich hinterher von ihm oder auch nicht. Und er ist vielbeschäftigt, muß viel von zu Hause fort sein. Ich kann seine Stellung nicht beeinträchtigen, indem ich mich mit irgendwem unter unseren Dienstboten anfreunde. Oh, weniger einsam war es in meiner Hütte am Strand.« Ingeborg lachte auf. »Auch wenn du für das, was du hast, Eyjan, kein Dankgebet sprechen wirst, sei froh darüber.«
»Dann erhoffst du dir vom Schicksal nichts Besseres mehr?« fragte die Prinzessin von Liri leise.
Die Frau zuckte die Schultern. »Wer weiß? Mir ist durchaus klar, wieviel Glück ich gehabt habe, und ich habe schon vor Jahren gelernt, immer Obacht zu geben, um mir die nächste günstige Gelegenheit, die sich bieten mag, nicht entgehen zu lassen.«
»Als Niels' angetraute Frau ...«
Ingeborg schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Er hat es mir angeboten, aber ich habe gesehen, wie erleichtert er war, als ich es ablehnte. Was soll er auch mit einer früheren Hure, die keine verwandtschaftlichen Beziehungen hat und ihm nicht einmal Söhne schenken kann? Nein, wenn er heiratet, gehe ich ... oh, ruhig, in allen Ehren, und seine schützende Hand bleibt mir erhalten, solange wir beide leben, und vielleicht können wir hin und wieder der alten Zeiten wegen miteinander schlafen – doch gehen werde ich.«
Sie kämpfte mit sich, bevor sie es herausbrachte: »Wenn er je heiratet. Seine Leidenschaft für dich mag in ihm zu stark werden. Mit mir kann er offen darüber sprechen; oft ist es geschehen, daß ich ihn in meine Arme genommen habe, während er um dich weinte; aber eine andere ... Erspare ihm das, Eyjan, wenn es dir irgendwie möglich ist.«
»Wie?« fragte sie. »Eure Wege sind nicht die meinen.« Nach einem Augenblick: »Ist diese unsterbliche Seele, die du hast, es wirklich wert, das Leben einer Frau führen zu müssen?«
Ingeborg erschauerte. »Gott verzeihe mir«, flüsterte sie, »ich weiß es nicht.«
Der Frühling kam stürmisch mit Blumen und Vogelgesang, eine Jahreszeit der Liebe, eine Jahreszeit des Vergessens und des Abschiednehmens. Die Kogge Brynhild zog ihr Segel auf, warf die Leinen los und legte mit der Flut ab. Bis sie außer Sicht war, standen Ingeborg und Niels am Kai und winkten.
Dann: »Wenigstens haben wir sie für diese Zeit gehabt«, sagte sie.
Seine Faust war geballt, als wolle er zuschlagen, sein Blick verlor sich am Horizont. »Sie hat mir versprochen zurückzukommen«, murmelte er. »Zumindest noch einmal, um mir zu berichten, wie es ihr geht. Wenn sie kann. Wenn sie am Leben bleibt.«
»In der Zwischenzeit hast du deine Arbeit«, stellte Ingeborg scharf fest. »Ich ... sollte mehr über meine eigene Nase hinaussehen, als ich es bisher getan habe.« Sie nahm seinen Arm. »Es hat keinen Sinn, hier herumzustehen. Komm, gehen wir nach Hause.«
Auf Deck sah Tauno Land, Wasser und Segel vorüberziehen, trank in tiefen Zügen die Luft und sagte: »Endlich sind wir aus diesem Stinkloch heraus! Es war höchste Zeit. Ich hatte schon das Gefühl, ich finge an zu verfaulen.«
»Geht es uns hier besser?« entgegnete Eyjan. »Diese beiden hängen an uns.«
»Ja, sie haben sich als treu und zuverlässig erwiesen.«
»Mehr als das. Was sie uns von sich selbst gegeben haben – wo können wir das jemals finden?«
»Bei Leuten unserer eigenen Art.« »Wenn sie noch so sind, wie wir sie in Erinnerung haben. Und selbst wenn ...« Eyjan verstummte. Nach einer Pause, in der das Schiff weiter aufs Meer hinausfuhr, bis kein Turm von Kopenhagen mehr zu sehen war, schloß sie: »Dies wird eine lange Reise werden, mein Bruder.«
Als die Tage zu Wochen wurden, merkten die Männer der Brynhild, daß an ihren Passagieren irgend etwas unheimlich war. Zunächst einmal waren Herr Carolus und Frau Sigrid kurz angebunden und geradezu launisch. Sie konnten Stunden hintereinander über die Wellen hinweg oder hinauf zu den Sternen blicken. Oder sie schlossen sich in ihren Kabinen ein und gaben Befehl, es solle ihnen weder Fleisch noch Getränk gebracht werden. Dazu kam, daß mehrere Matrosen den Eindruck hatten, er oder sie sei gelegentlich bei Nacht heimlich über Bord gesprungen. Keiner hatte sie je wieder hinaufklettern sehen. Doch hatte der Schiffseigner den merkwürdigen Befehl gegeben, daß ständig eine Strickleiter am Heck nachgeschleppt werden sollte, falls ein Matrose ins Meer fiele – als ob Seeleute schwimmen könnten! Ob das nun etwas zu bedeuten hatte oder nicht (und Kapitän Asbern Riboldsen hielt seiner Mannschaft vor, sie seien ein abergläubischer und einfältiger Haufen), die beiden nahmen niemals am gemeinsamen Gebet teil. Sie behaupteten, sie zögen es vor, ihre Andacht allein zu halten. Aber wen beteten sie an? Es wurde gemunkelt, man habe einen Zauberer und eine Hexe an Bord genommen.
Doch mangelte es an schlüssigen Beweisen. Carolus und Sigrid taten vor Zeugen nichts Anstößiges, und das Schiff geriet auch nicht in nennenswerte Schwierigkeiten. Gleichzeitig bewiesen ungünstige Winde und Windstillen, daß niemand das Wetter verhexte. Zudem waren Niels Jonsen und sein Partner als feine Kerle bekannt, die arme Seeleute bestimmt nicht hinterrücks mit dem Bösen in Verbindung bringen würden. Niels hatte die Mannschaft warnen lassen, dies werde eine völlig andere Fahrt als alle, von denen sie schon gehört hätten, abenteuerlich wie ein Würfelspiel in einer Kneipe in Visby ... aber gut bezahlt, sehr gut bezahlt.
So sehr sich die Männer auch den Kopf zerbrachen, im ganzen verhef die Reise friedlich: durch die Nordsee und den englischen Kanal, um die Bretagne, den Golf von Biscaya hinunter, an den iberischen Küsten entlang – wo mit aller Wachsamkeit nach maurischen Kreuzern aus Afrika Ausschau gehalten werden mußte – und durch die Tore des Herkules. Hier nahm Kapitän Asbern einen Lotsen an Bord, der ihnen den weiteren Weg zeigen sollte. Eine große Hilfe war, daß Herr Carolus die Sprache dieses Abenteurers aus Mallorca kannte (woher bloß?). Und so erreichte gegen Mittsommer die Kogge Dalmatien und segelte die Küste hinauf.