4

Das Schiff der Liri-Leute hatte schon mehr als die halbe Strecke an der dalmatinischen Küste entlang zurückgelegt, als die Sklavenfänger es entdeckten.

Anfangs fürchtete keiner des Seevolks etwas Böses, nicht einmal Vanimen. Seit sie das Tor des Herkules hinter sich gelassen hatten, waren ihnen viele Schiffe begegnet; das hier waren vielbefahrene Gewässer. Da Vanimen acht darauf gab, sich ein gutes Stück vom Land entfernt zu halten, griff sie niemand an. Ebenfalls aus Vorsicht hatte er befohlen, daß jeder tagsüber an Deck Kleider zu tragen hatte, die aus den Truhen der Seeleute stammten, und daß die Schwimmer bis nach Eintritt der Dunkelheit unter Wasser bleiben mußten. Das Nordland-Fahrzeug, offensichtlich vom Sturm angeschlagen, zog Neugier und manchmal – so glaubte Vanimen – Hilfsangebote auf sich. Hielt ein Schiff auf sie zu, dann winkte er ab und rief hinüber, so gut er es auf Latein konnte, sie benötigen nichts und seien unterwegs zu einem nahe gelegenen Hafen. Das tat seine Wirkung, auch wenn er nicht sicher war, ob es daran lag, daß seine Sprache der hier gebräuchlichen nahe genug kam oder daß die Skipper einer so zerlumpten und merkwürdig aussehenden Gesellschaft, wie sie da erblickten, lieber aus dem Weg gingen. Aus der Anwesenheit von Frauen und Kindern, die er mit Absicht an Deck weilen ließ, ging jedoch klar hervor, daß sie keine Piraten waren. Deshalb kam kein Kriegsschiff längsseits.

Wäre das geschehen, dann hätten sie das Schiff verlassen. In allen anderen Fällen war Vanimen dagegen. Das Schiff blieb trotz seines schlechten Zustands, seiner Langsamkeit, Schwerfälligkeit und der unaufhörlichen Arbeit an den Pumpen ihr Zufluchtsort – und diente ihnen auf dem engen Meer, das Christen und Muselmanen voneinander trennte und in dem kein Angehöriger des Feenreichs überlebt hatte, als Tarnung. Deshalb ließ er es weiterfahren, Tag und Nacht, Tag und Nacht. Trat Windstille ein und war die Sonne untergegangen oder waren keine Menschen in der Nähe, dann ließ er das Schiff von seinem Volk ziehen. So entfaltete es eine größere Geschwindigkeit als jede sterbliche Mannschaft aus ihm herausgeholt hätte. Trotzdem waren es ermüdende Wochen, bis sie den Eingang zum Adriatischen Meer erreichten. Hätten die Wanderer nicht in den Wellen jagen, tollen und sich regenerieren können, wären sie wohl an der Verzweiflung zugrundegegangen.

Nun wurde die Fahrt noch langsamer und vorsichtiger, denn sie mußten sich eng an die östliche Küste halten, damit einzelne Gruppen die Gegenden erforschen konnten. Diese Route erhöhte die Wahrscheinlichkeit, daß sie von einem Schiff des Herrschers dieses Landes angehalten und untersucht wurden. Trotzdem stieg die Stimmung, Gesang klang auf, denn dies hier war ein schönes Land, steil, bedeckt mit Wäldern, reich an Fischen. Vanimen wollte weitersegeln, so lange es mit dem Schiff möglich war, es sei denn, er fand vorher eine vollkommene Stelle. Aber es würde jetzt keine Katastophe mehr bedeuten, wenn sie den Hulk aufgeben mußten.

So dachte er.

Tatsächlich lebte die Halbwelt immer noch an diesem Küstenstreifen und bestimmt auch in den Bergen, die sich dahinter erhoben. Als Vanimen zum Ufer schwamm und am Strand aus dem Wasser stieg, spürte er Magie wie ein Singen in seinem Blut, nachdem er in letzter Zeit auf ihrer Reise nichts als Öde empfunden hatte. Er erspähte Wesen, die scheu oder ihm nicht wohlgesinnt, auf jeden Fall aber nicht aus gewöhnlichem Fleisch und Blut waren. Fremd waren sie ihm, und wenn sie nicht davonflitzten, als hätten sie Angst, dann drohten sie ihm, und er zog sich zurück. Aber sie waren von seiner Art, ihm ähnlicher als Agnete, die letzten Endes erkannt hatte, daß sie der Halbwelt nie richtig angehören konnte.

Ein paar Stellen waren durch Exorzismus unzugänglich gemacht worden. Was an Fragezauber in seiner Macht lag, wandte er an, und so erfuhr er, daß dies meistenteils in den letzten Jahren geschehen war.

Ein neuer Glaube schien unter den Menschen aufgetaucht zu sein, oder vielmehr eine neue Sekte – denn er bemerkte nirgendwo etwas anderes als das Kreuz – , und dieser lehnte die lässigere Art der früheren Christen ab. Öfter noch stellte Vanimen fest, daß es einfach zuviel Ackerbau oder eine aufblühende Stadt gab, die allein durch ihr Vorhanden sein die Gründung einer Kolonie unmöglich machte. Nun ja, die Delphine hatten ihm gesagt, er müsse weiter nördlich suchen.

Als er dies tat, kamen sie allmählich zu der Vielzahl von Inseln, von denen die Delphine gesprochen hatten. Keine war von den Priestern mit ewigen Flüchen belegt worden. Der Glaube, der voller Haß gegen alles zu Felde zog, was nach Lebensfreude schmeckte, konnte noch nicht bis hierher vorgedrungen sein. Denn so hatte Vanimen es sich zurechtgelegt: Der eigentliche Grund, warum das Feenvolk, das nur zu gern Freundschaft mit den Menschen geschlossen hätte, von diesen verfolgt wurde, war, daß es Freude am Leben hatte, auch wenn es dadurch der Seele verlustig ging. Irgendwo in dieser Gegend, so wagte er zu hoffen, lag das Ziel seiner Träume.

Sein Verstand setzte hinzu: Es wird auch höchste Zeit! Der Hulk fiel nämlich unter ihm in Stücke. Die Pumpen konnten das Wasser nicht mehr zurückhalten. Das Schiff sank täglich tiefer, war immer schwerer zu manövrieren, wollte sich von keinem Wind mehr vorantreiben lassen. Bald würde es ganz und gar nutzlos geworden sein. Doch dann konnte sich seine Schar ohne Hilfe auf die Suche machen ...

So war der Stand der Dinge, als die Sklavenjäger das Schiff entdeckten.

 

Es war ein Tag, an dem die Fischer zu Hause und die Kaufleute an den Landungsplätzen blieben. Immer stärkere Böen pfiffen von Westen heran, trieben weiße Schaumkronen auf dem Wasser und Regenschauer am grauen Himmel vor sich her. Vanimen versuchte, vom Lee-Ufer Abstand zu halten, mußte jedoch bald einsehen, daß das nicht möglich war. Zwei Meilen aufrührerischen Meers voraus lag eine große Insel dicht vor dem Festland. Er schätzte, daß ihm die Einfahrt in den dazwischen liegenden Kanal gelingen würde. Dort waren sie geschützt. Hausdächer waren ein warnendes Zeichen, daß dort Menschen wohnten, aber es ließ sich nicht ändern, und viele waren es nicht.

Vanimen stellte sich auf das Achterdeck, wo er Ausschau halten und der Mannschaft, die sich inzwischen ein wenig Geschicklichkeit erworben hatte, Befehle zurufen konnte. Die Männer, alle nackt, führten verschiedene Arbeiten durch oder warteten auf neue Aufgaben. Viel größer war die Zahl der Frauen und Kinder, die er nach unten geschickt hatte, damit sie nicht im Weg waren. Es stand ihnen frei, sich den Schwimmern anzuschließen, und ein paar hatten es auch getan. Aber die meisten Mütter fürchteten, daß Gegen- und Unterströmungen ihnen die Kleinen zwischen den Felsen dieser unbekannten Küstengewässer von der Seite reißen könnten.

Ein anderes Schiff tauchte am verschwimmenden Horizont auf, während das Seevolk seine Vorbereitungen traf. Es war eine Galeere, schlank, rot und schwarz gestrichen. Das Segel war eingerollt; sie wurde durch Ruder wie Spinnenbeine bewegt. Die Galionsfigur glänzte golden durch die Gischt, ein geflügelter Löwe. Daraus und aus dem Kurs erriet Vanimen, so wenig Informationen er über diesen Gegenstand hatte, daß es ein venetianisches Schiff auf dem Weg nach Hause war. Nachdenklich zog er die Stirn in Falten. Es war kein Frachtschiff – und wäre das der Fall gewesen, dann wäre es in einem Geleitzug gefahren – , aber für ein Kriegsschiff sah es zu geräumig aus.

Er riß sich aus seinen Gedanken und wandte seine Aufmerksamkeit der Rettung seines eigenen Fahrzeugs zu. Für die Befehle, die er dem Mann am Ruder und den Leuten auf Deck zu erteilen hatte, brauchte er Erfahrung und Verstand und ebenso ein angeborenes Gefühl für die Elemente. Deshalb achtete er in der nächsten Stunde kaum auf das fremde Schiff ... bis Meiiva, die am Bug Wache gehabt hatte, nach achtern zu ihm kam.

Sie zog ihn am Ellenbogen, zeigte mit dem Finger und rief aufgeregt: »Sieh mal dorthin, ja? Sie wollen uns den Weg abschneiden.«

Vanimen stellte fest, daß sie die Wahrheit sprach. »Gerade dann, wenn wir keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben, unsere wahre Natur zu verbergen!« rief er aus. Nach einem Augenblick, in dem er versuchte, gegen mehr als das Rollen und Stampfen festen Stand zu behalten, entschied er: »Wenn wir in aller Eile Kleider anlegten, könnte das merkwürdiger wirken, als wenn wir bleiben, wie wir sind. Hoffen wir darauf, daß sie nur denken, wir seien lieber unbedeckt; wir haben, wie du dich erinnern wirst, selbst schon nackte Seeleute gesehen, seit wir vom Ozean her durch die Enge gekommen sind. Höchstwahrscheinlich will der Herr des Schiffes nur fragen, wer wir sind. Er wird kaum nahe genug herankommen, um zu erkennen, daß wir nicht von seiner Art sind – zu gefährlich in diesem Wetter – , und nassem Haar sieht man nicht gleich an, ob es blau oder grün ist.

»Sag den Leuten auf dem Deck Bescheid, sie sollen Obacht geben, wie sie sich benehmen.«

Als Meiiva wieder zu ihm zurückkehrte, kam die Galeere mit dem Wind auf sie zu, und Vanimen zog die Nase kraus. »Puh!« sagte er. »Riechst du das? Sie stinkt nach Schmutz, nach Schweiß, aye, und nach Elend. Welche Teufelei hat sie an Bord?«

Meiiva spähte hinüber. »Ich sehe einige, die Metall tragen, und ich sehe Waffen«, antwortete sie. »Aber was sind das für welche, die sich mittschiffs, in Lumpen gekleidet, zusammendrängen?«

Das wurde ihnen klar, als die Entfernung sich verringert hatte. Männer, Frauen, Kinder mit dunkler Haut und stumpfen Gesichtern trugen Ketten an Hand- und Fußgelenken. Sie standen, saßen, lagen, zitterten vor Kälte, suchten das bißchen Trost, das ihnen die Nähe der anderen geben konnte. Neben ihnen glänzten die Piken der Wachen, die von hellerer Hautfarbe waren. Unbehagen beschlich Vanimen. »Ich glaube, ich weiß es«, sagte er zu Meiiva. »Es sind Sklaven.«

»Was?« Dies Wort aus der Menschensprache hatte sie noch nie gehört.

»Sklaven. Leute, die gefangengenommen wurden, die verkauft und erworben und zur Arbeit gezwungen werden wie die Tiere, die Pflug und Karren ziehen, was du sicher schon beobachtet hast. Daß es so etwas gibt, habe ich von Menschen gehört, mit denen ich gesprochen habe. Zweifellos kehrt das Schiff dort von einem Überfall auf Ausländer im Süden zurück.« Vanimen spuckte leewärts und wünschte sich, er könne es nach der anderen Seite tun.

Meiiva zuckte zusammen. »Ist das wahr?«

»Aye.«

»Und trotzdem zieht der Schöpfer der Sterne diese Rasse allem anderen in der Welt Vor?«

»Ich verstehe es auch nicht ... Hoi, sie rufen uns an.«

Über die Grenzen hinweg, die der Wind und die Sprachschwierigkeiten setzten, konnte keine richtige Unterhaltung geführt werden. Ein magerer Mann, glattrasiert, in einem Brustharnisch und einem Helm mit wildem Federschmuck, musterte sie, bis Vanimen die Haut kribbelte. Doch endlich fiel die Galeere zurück, und der Liri-König gönnte sich einen Atemzug der Erleichterung.

Aber inzwischen ragte die Insel genau vor ihnen auf, und an ihrem Fuß brodelte eine gefährliche Brandung Vanimens ganze Aufmerksamkeit war erforderlich, um den Hulk in die Sicherheit des Kanals zu manövrieren. Rechts das Ruder! Rahnock einhieven! Schothorn an Steuerbord fortschieben! Ein Ruck durchlief die Planken – kratzte der Kiel über etwas hinweg? Plötzlich trat Windstille ein, doch das bedeutete weniger Raum zum Manövrieren ...

Unglaublicherweise blieb das Schiff stehen.

Vanimen blickte hierhin und dahin. Sie waren in einem Wasserstreifen, der nur kleine Wellen warf. Auf beiden Seiten stiegen die Ufer auf wie Mauern. Der Sturm heulte, konnte jedoch bis auf wenige bösartige Regentropfen, die er schleuderte, nicht an sie heran. Die Luft fühlte sich hier weniger scharf an als draußen. Das Festland war hinter einem Streifen Sand bewaldet. Bäume und Klippen verbargen halb eine Gruppe von Gebäuden auf der Insel. Weder Menschen noch Hunde waren in Sicht. Auch war kein weiteres Schiff zu sehen, während Vanimen damit gerechnet und entsprechende Pläne zur Hand gehabt hatte.

Er richtete seine Meer-Sinne auf das Wasser selbst und stellte fest, daß sein Salzgehalt geringer war. Ein bißchen weiter nördlich mußte ein Fluß von dem Kontinent ins Meer münden. Sicher lag dort ein Hafen, und zwar, wie er vermutete, von beträchtlicher Größe; Abfall und Teerkügelchen tanzten in seinem Sichtkreis. Dort würden die Schiffe der Menschen anlegen. Doch ein Landvorsprung verbarg den Hafen vor seinen Augen und ihn vor ihm.

Er war überzeugt, der Sturm werde vor dem Abend enden. Dann konnte die Suche fortgeführt werden. Inzwischen ... Er lehnte sich gegen das Heckbord. Inzwischen war hier Friede. Er wollte schlafen. Das Bedürfnis nach Schlaf überflutete ihn wie eine Woge.

Meiiva schrie.

Vanimen fuhr hoch, hellwach. Um eine Klippe bog die Galeere. Ihre Ruder erzeugten ihren eigenen Sturm. Sie war über dem Hulk, bevor das Seevolk unter Deck aus den Luken gekommen war. Dem König blieb ein Augenblick, sich zu erinnern, daß er ein Schiff befehligte, auf dem ein von ihm Ermordeter ihn verflucht hatte.

 

Enterhaken bissen sich fest. Eine Verbindungsbrücke klappte herab. Darüber tobten, gerüstet und bewaffnet, die Venetianer. Sie hatten ihre menschliche Ware in den Frachtraum geschickt und waren nach mehr aus.

Als sie plötzlich die Fremdartigkeit ihrer Opfer bemerkten, die Schwimmhäute an den Füßen, die Haarfarben, die elfenhaften Gesichtszüge, schreckten einige von ihnen zurück. Sie schrien auf, bekreuzigten sich und wollten Hals über Kopf davonlaufen. Beherztere Naturen brüllten, schwangen die Schwerter hoch, drängten zum Angriff. Der Anführer riß sich ein Kruzifix vom Hals und hielt es neben seine Klinge. Das gab ihm Mut. Ihre Opfer waren nackt, fast alle unbewaffnet, die meisten Frauen und Kinder.

Befehle ertönten, die Angreifer schwärmten aus, bildeten eine Reihe, schritten vor und drängten Vanimens Gefolgsleute zum Heck zurück. Waffen, Helme, Rüstungen – bloße Kraft konnte dagegen nichts ausrichten. Außerdem verstand das Seevolk nichts vom Kriegshandwerk. Die sich auf Deck befanden, zogen sich voller Entsetzen zurück, die noch nicht nach oben gekommen waren, tauchten wieder im Frachtraum unter.

Schwimmer kamen an die Oberfläche und schossen herbei. »Tut es nicht!« rief der König, als sie die Strickleiter emporklettern wollten. »Es ist euer Tod oder Schlimmeres!«

Leicht wäre es gewesen, sich ihnen anzuschließen und zu entfliehen. Vanimen sah die ersten Leute vom Deck springen. Aber was sollte aus denen werden, die unten in der Falle saßen, durchfuhr es ihn. Schon hatte der Feind die Luken umkreist.

Er selbst würde sich in die gegen ihn gereckten Speerspitzen stürzen, bevor er sich in Fesseln schlagen ließ und den Markt, Staub und Kot, die Peitsche und die Sehnsüchte ertrug, die sein Leben als Sklave ausmachen würden. Oder man würde ihn zur Schau stellen ... einmal, als er an Land gegangen war, hatte er einen Bären gesehen, Eiter um den Ring in seiner Nase, der ohne Hoffnung am Ende einer Kette tanzte, während die Zuschauer lachten ... Hatten diejenigen, die ihm vertrauten, kein Recht auf die gleiche Wahl?

Und sie verkörperten zuviel von Liri. Die Meerfrauen im Wasser waren zu wenige, als daß sie den Stamm hätten am Leben erhalten können.

Er war ihr König.

»Vorwärts!« rief er. Die Planken donnerten, als er vorwärtsstürmte.

Sein Dreizack lag in einer Kabine, aber er hatte seine Muskeln und Sehnen. Eine Pike wurde nach ihm gestoßen. Er ergriff den Schaft, riß ihn seinem Träger aus der Hand, wirbelte das stumpfe Ende herum und erschlug damit den Gegner. Schlagend, stechend, tretend, stampfend, brüllend, watete er hinein in die Feindesschar. Ein Mann gelangte hinter ihn und hob seine Axt, um ihm das Rückgrat zu spalten. Schon war Meiiva da, das Messer in der Hand, riß das Kinn des Mannes zurück und legte seine Kehle bloß. Wassermänner, die auf dem Deck gearbeitet hatten, schlossen sich Vanimen und Meiiva an, warfen ihre Kraft und tiefverwurzelte Vitalität gegen gezückten Stahl. Sie säuberten einen Platz rings um eine der Luken Vanimen rief die Meerfrauen herbei. Sie und ihre Kinder strömten heraus, liefen an die Reling und sprangen über Bord. Für sie wehrte die kleine Schar die Menschen ab.

Vom Deckaufbau der Galeere zielten Armbrustschützen.

Das Seevolk hätte die Schlacht wohl gewinnen können – wenn das Kriegführen bei ihnen eine Tradition gehabt hätte. Sie hatten jedoch keine Ausbildung, keine Fertigkeit im Abschlachten von Leuten, die sie nie zuvor gesehen hatten. Vanimen hätte die Schwimmer nicht auffordern sollen, im Wasser zu bleiben. Das wurde ihm klar, als er erneut von Waffen bedrängt wurde, und er rief sie zu Hilfe. Aber bei dem Lärm hörten sie ihn nicht, sie schwammen ratlos hin und her. Einige wurden von Pfeilen getroffen, als die Armbrustschützen sie bemerkten.

Zwei oder drei an Bord starben auf die gleiche Weise. Die Venetianer formierten sich neu, gingen zum Gegenangriff über. Das Kampfgetümmel verschmierte das Deck mit Blut. Die meisten der Gefallenen waren Frauen und Kinder, die auf dem Weg ins Wasser gewesen waren, aber die Venetianer töteten jeden Wassermann an Bord außer Vanimen.

Er merkte kaum, daß er durchbohrt und zerfetzt wurde. Irgendwie – an seiner Seite Meiiva, die wie eine Wildkatze kämpfte – erzwang er sich einen Weg. Zusammen erreichten sie die Reling und sprangen.

Salzwasser umfing ihn, wie es einst seine Mutter getan hatte. Er sank in kühle grüne Tiefen, seine Freunde schwärmten herbei, außer den Toten war niemand zurückgelassen worden. Er hatte sie vor der Sklaverei gerettet, seine Arbeit war getan, und nun konnte er ausruhen.

Nein. Das Blut strömte aus ihm heraus, dunkel anzusehen, bitter zu schmecken. Es waren große Wunden; er mußte an Land gehen, wo das Blut gestillt werden konnte, oder sich zu den Erschlagenen gesellen. Anderen ging es ebenso, wie er durch Wogen der Dunkelheit erkannte. Jede Frau, jedes Kind, alle waren sie verletzt worden.

»Kommt«, sagt er zu ihnen oder glaubte es gesagt zu haben.

Sie erreichten das Festland, husteten ihre Lungen leer und krochen aus ihrem Meer.

Zweifellos waren auch die Venetianer von der Begegnung erschüttert. Sie blieben eine Stunde oder länger auf der Galeere und dem Hulk. Vor ihren Augen sorgten inzwischen die Flüchtlinge so gut sie konnten für die Verwundeten – mit Moos, Spinnweben, geflochtenem Gras, das klaffende Wunden verband.

Wieder wurde es dem Seevolk zum Verhängnis, daß es nichts von Kriegführung verstand. Sie hätten davonschwimmen sollen, sobald die Verwundeten behandelt waren, auch wenn sie dadurch die am schlimmsten Zugerichteten verloren hätten. Vanimen hätte sie dazu gebracht. Aber er lag halb ohnmächtig am Strand, und einen geeigneten Stellvertreter hatte er nicht. Die übrigen blieben, wo sie waren. Verängstigt redeten sie hin und her und konnten sich nicht auf ein gemeinsames Handeln einigen.

Die Sklavenfänger beobachteten dies und faßten einen Entschluß. So unheimlich diese Wesen waren, sie konnten überwältigt und dann zu einem viel höheren Preis als alle Sarazenen oder Tscherkessen verkauft werden. Der Herr der Galeere war ein kühner Mann. Er faßte einen Entschluß und erteilte seine Befehle.

Vorsichtig, aber schnell ruderte er auf das Land zu. In ihrem Schreck rannten mehrere Liri-Leute nach rechts und links, um wieder in den Kanal zu gelangen. Armbrust-Salven warfen sie zurück; zwei wurden getötet. Mit einem entschlossenen Führer an der Spitze hätte die ganze Gruppe entkommen können. Doch Vanimen kehrte gerade erst wieder ins Bewußtsein zurück. Ausgeschlossen, daß er eine längere Strecke hätte schwimmen können. Meiiva führte seinen Arm, legte ihn um ihre Schultern, hielt ihn so aufrecht und führte ihn mühsam landeinwärts, wo der Wald ein Versteck bot. Da keinem etwas Besseres einfiel, lief der ganze Stamm hinterher. Es war genau das, worauf der Venetianer gehofft hatte. Zwar würden ihm viele entkommen, wenn sie sich im Unterholz verteilten, aber viele andere würde er fangen. Dukaten tanzten vor seinen Augen.

Der Meeresboden stieg zum Ufer hin steil an. Nach den Angaben des Mannes am Lot warf er an einer Stelle, wo die Galeere gerade noch Wasser unter dem Kiel hatte, Anker und ließ die Landebrücke auf einen höher gelegenen Punkt fallen. Die Männer, die sie hinunterliefen, stellten fest, daß sie nur bis zum Magen im Wasser standen, und eilten an Land. Die Beute verschwand unter Bäumen, zwischen Büschen und im tiefen Schatten. Die Jäger folgten.

Sicher hätten sie eine Anzahl Meerleute ergriffen und zur Sklavenarbeit oder an Zirkusse oder bestimmte Bordelle verkauft, vielleicht auch, um Fischern im Wasser zu dienen, wie der Falke es in der Luft tut. Die übrigen wären ihnen entkommen und hätten das Schicksal gefunden, das sie erwartete. Doch Mißgeschick folgte der falschen Entscheidung auf dem Fuß – es kann auch sein, daß alles der Wille des Himmels war – und vereitelte ihre Absicht.

Bewohner der Insel hatten die Vorgänge beobachtet. Was sie von weitem sahen, genügte, sie zu beunruhigen. Sie hatten Piraterie und Krieg nur zu gut kennengelernt. Die Nachricht wurde in Windeseile weitergegeben, erreichte mit einem schnell geruderten Boot den Außenposten des Bans im Hafen und wurde auf Pferderücken zu seiner Garnison in Schibenik weiterbefördert. Ein Kriegsschiff glitt in den Kanal; eine Fußtruppe rückte am Ufer vor.

Als er Metall schimmern sah, erkannte der Kapitän des Sklavenschiffs, daß er sich übernommen hatte. In den Hoheitsgewässern des kroatischen Königreichs hatte er nichts zu suchen. Da es sich augenblicklich in Frieden mit der Republik befand, hätte er niemals eines ihrer Schiffe angegriffen. Ein Fahrzeug, offensichtlich ausländisch, offensichtlich in Seenot, war jedoch eine zu große Versuchung gewesen. Jetzt sollte er sich besser davonmachen und darauf hoffen, daß der Gesandte der Signoria steif und fest behauptete, auch in den wildesten Phantasien könne er sich nicht vorstellen, irgendein Venetianer sei auf eine solche Weise vorgegangen.

Eine Trompete rief seine Männer zurück. Die Kroaten ihrerseits ließen sich Zeit, nachdem sie erkannt hatten, daß der Fremde keinen Kampf wollte. Sollte er abziehen. Doch ihre Offiziere waren neugierig darauf, was ihn eigentlich angezogen hatte. Sie kommandierten Soldaten ab, den Wald zu durchsuchen.

All dies erfuhr Vanimen viel später, hauptsächlich von Vater Tomislav, der wiederum größtenteils aus dem, was er gehört hatte, seine Schlüsse zog. Zu dieser Zeit erfaßte Vanimen nichts weiter als seinen Schmerz, seine Schwäche und ein Getöse, das seine Schar immer weiter landeinwärts jagte.

 

Vor allem brauchten sie Wasser, und das immer notwendiger mit jeder Stunde, die verging. Aber sie wagten nicht, jetzt an das Meer zurückzukehren, wo bewaffnete Menschen am Ufer entlangtobten und ihnen auf den Fersen folgten. Durch das Waldesgrün konnten sie weit entfernt einen Fluß riechen, aber auch eine Stadt daran. Die mußten sie in weitem Bogen umgehen.

Die Verfolger gaben bald auf, denn auf eine mühsame Unternehmung waren sie nicht vorbereitet. Für das Seevolk war das nur ein geringer Trost. Angeführt von Meiiva, da der König nichts anderes tun konnte, als mit Hilfe von anderen weiterzustolpern, kämpften sie gegen den Wald, den steilen Anstieg, gegen Durst, Hunger, Erschöpfung, Angst, gegen die Mühsal, die Verwundeten mitzuschleppen, das Weinen ihrer Kinder. Steine, Zweige, Dornen zerschnitten ihre empfindlichen Schwimmhäute, Zweige hielten sie fest, Krähen verhöhnten sie. Als der Wind erstarb, stiegen Wärme und Stille aus der Erde auf – Hitze und Taubheit für diese Wesen aus einer anderen Welt. Hier gab es keine Gezeiten oder Ströme, Wellen oder frische Brisen, Nahrung, die man fangen, oder Tiefen, in denen man Zuflucht suchen konnte. Das hier war nichts als ein Irrgarten ohne Richtungen, immer das gleiche und das gleiche und das gleiche. Es gelang ihnen kaum, einen Weg hinauf zu finden.

So unendlich er ihnen vorkam, war der Wald doch nur klein, und die Wanderer erreichten seinen Rand gegen Abend. Das war eine günstige Zeit, denn nun konnten sie bebautes Land überqueren, um den Fluß zu finden. Vanimen murmelte, sie sollten auf den Wegen bleiben. Dort wurden die bereits blutenden Füße zwar verletzt, aber sie hinterließen dann keine Spur wie auf einem Getreidefeld. Ansonsten war das Vorankommen jetzt leichter, in kühler Luft unter freundlichen Sternen. In der Nähe waren keine Gebäude. Das Gelände stieg weiter an.

Um Mitternacht spürten sie, daß mehr als ein Fluß vor ihnen lag; das war ein See. Trockene Kehlen zogen sich zusammen, als Bäume wie schwarze Burgzinnen auf einem Felsgrat erschienen, den sie erkletterten. Wilder Wald wehrte ihnen den Zugang zum Wasser. Entkräftet, wie sie jetzt waren, brachten nur wenige es überhaupt fertig, einem neuen Kampf mit undurchdringlichem Dickicht ins Gesicht zu sehen, doch bestimmt nicht bei Nacht, wenn wahrscheinlich Wesen unterwegs waren, die ihnen nichts Gutes wünschten. Unnutar, der die beste Nase des Stamms hatte, sagte, er rieche im See selbst, daß dort etwas nicht stimme. Irgend etwas Großes lauere da.

»Wir müssen bald trinken, oder wir sterben«, wimmerte Rinna.

»Halte den Mund«, fuhr eine Mutter sie an, deren Säugling bewußtlos in ihren Armen lag.

»Essen müssen wir auch«, sagte Meiiva. Obwohl ihre Rasse auf dem Land viel weniger Nahrung brauchte als zu Hause, war keiner von ihnen daran gewöhnt, so viele Stunden zu hungern. Viele taumelten vor Müdigkeit. Die Kinder hatten schon keine Tränen mehr, mit denen sie vorher um ein bißchen Essen gebettelt hatten.

Vanimen strengte sich an, klar zu denken. »Bauernhof«, krächzte er. »Ein Brunnen. Speisekammer, Kornkammer, Kühe, Schweine. Wir ... sind den Besitzern an Zahl überlegen ... jagen ihnen Angst ein ... nehmen uns, was wir brauchen, und kehren schnell zur Küste zurück ...«

»Aye!« erklang Meiivas Stimme. »Denkt nach, ihr alle. Wenn wir keine Häuser gesehen haben, dann gehören diese Felder zu einem großen Haushalt, reich, gut genährt. Er kann nicht mehr weit weg sein.« Sie führte sie am Rand des Waldes entlang.

Nach zwei Stunden rochen sie Wasser in der Nähe, dazu Menschen und Vieh. Sie hatten den See umgangen und erreichten den Fluß oberhalb seiner Mündung in den See. Tatsächlich flossen hier zwei Wasserläufe zusammen, und eine Siedlung befand sich nahe diesem Punkt. Das Seevolk fiel mit seinen wackeligen Beinen in Laufschritt. Im Osten färbte die falsche Morgenröte den Himmel.

Wieder verdarben sie sich alles durch ihre Unkenntnis. Sie wußten so wenig von der Menschheit, und das nur über jenen Teil, der eine Ecke des Nordens bewohnte. Sie setzten voraus, im Mittelpunkt der bebauten Felder liege ein einziger Herrensitz oder höchstens ein Dörfchen – nicht eine ansehnliche Siedlung von Leibeigenen, bewacht von einer ganzen Burg voller Bewaffneter. Einige von ihnen bemerkten es, fanden aber keine Gelegenheit, eine Warnung auszusprechen, bevor alle übrigen vom Wahnsinn befallen wurden. Wie Lemminge rannten die Liri-Leute zum Wasser und warfen sich hinein.

Die Hunde bellten nicht, verrieten aber ihre Furcht. Soldaten, die gähnend auf das Ende der Nachtwache warteten, wurden munter. Sie riefen nach ihren Kameraden, und diese fingen an, sich brummend aus den Decken zu wickeln. Auch wenn es noch vor Sonnenaufgang war, konnte man erkennen, welch eine wilde Bande sich an der Furt tummelte – aber sie waren unbekleidet und die meisten unbewaffnet. Iwan Subitsch, Zhupan auf Skradin, hielt seine Streitmacht immer einsatzbereit. In Minuten war sie aus den Toren. Pulsschläge später hatten Reiter die Brücke überquert, die Fremden eingekreist und diejenigen, die versucht hatten zu fliehen, mit den Spitzen ihrer Lanzen zurückgetrieben. Der Reiter waren nicht viele, aber die Fußtruppen waren schon unterwegs.

Vanimen hob beide Hände. »Macht es ebenso«, riet er seinem Volk mit den letzten Überresten an Intelligenz, die er zusammenraffen konnte. »Ergebt euch. Sie haben uns.«