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Ein Umiak fuhr, das Land an Steuerbord, inmitten eines Schwarms von Kajaks dahin. Die Kinder des Wassermanns tauchten eine halbe Meile davon entfernt auf, leerten ihre Lungen und blieben, wo sie waren, um sich aus dieser sicheren Entfernung die Sache genau anzusehen. Haie, Mörderwale, Stürme, Riffe und Springfluten hatten Schwachherzigkeit aus ihrer Blutlinie ausgemerzt, hatten sie aber auch Vorsicht gelehrt.

»Nach dem, was die Delphine sagten, ist das ... Ding ... in dieser Gegend den weißen Menschen feindlich«, erinnerte Tauno. »Wenn es also nicht einfach daran liegt, daß sich unsere Leute gegen irgendeinen Angriff zu verteidigen hatten, muß es das Werk der Inuit sein. Ich möchte nicht gern eine Harpune in den Körper bekommen, weil man mich für einen weißen Mann hält.«

»Ach, Unsinn!« antwortete Eyjan. »Ich habe nie ein freundlicheres Volk gesehen als das, bei dem wir zu Gast waren.«

»Ein anderes Volk dieser Rasse, meine Schwester. Und ich habe Geschichten gehört, daß hin und wieder ein Mord geschieht.«

»Aber auf jeden Fall werden sie doch merken, daß wir keine Landbewohner sind. Mit einem Angriff brauchen wir nicht zu rechnen; geben wir lieber acht, daß wir sie nicht verscheuchen. Wir wollen langsam auf sie zuschwimmen und dabei unsere fröhlichsten Gesichter zeigen.«

»Und uns zum Tauchen bereithalten. Also los.«

Luftatmend schlugen sie einen Weg ein, auf dem sie den Konvoi abfangen konnten. Sie fühlten die Kälte des Wassers, aber nicht als Ziehen und Beißen, wie Sterbliche sie empfunden hätten. Für sie glitt das

Wasser liebkosend über jeden Muskel, schürte die Wärme in Ihren Körpern an, schmeckte nicht nur nach Salz, sondern auch nach zahllosen unstofflichen Dingen, nach Leben und Tiefen und Entfernungen Die kabbeligen Wellen schaukelten sie – Weißmützen in tannend Schattierungen von Blau-Schwarz und darüber ein Schimmer von Grün. Das Meer rauschte und gurgelte; weit weg an der Küste donner te es. Unter einem silbergrauen Himmel trieb ein Westwind Wolken wie Rauch vor sich her. Möwen füllten die Lüfte mit Schwingen und Schreien. Zur Rechten erhob sich das Land steil mit dunkelnden Klippen, dazwischen waren in geschützten Tälern herbstgelbe Felder zu sehen. Auf Berggipfeln lag Schnee, und dahinter breitete sich ein eintöniges Glänzen aus, das von Inland-Eis sprach.

Die Geschwister richteten ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Boote. Die Leute, die darin saßen, mußten auf der Jagd gewesen und nun nach Hause unterwegs sein; kein Inuit wohnte so weit südlich wie die Norweger. Der Umiak war ein großes Kanu, Leder über einem Rahmen aus Walknochen und Treibholz, von zwanzig Frauen gepaddelt. Zwanzig Kajaks begleiteten ihn, in jedem ein Mann. Die ganze Schar war lustig; ihre Rufe und ihr Gelächter übertönten das Schreien der Möwen und das Klatschen der Wellen. Tauno und Eyjan sahen, wie ein junger Bursche längsseits des großen Bootes ging und mit einer Frau sprach. Sie mußte seine Mutter sein, die ihr jüngstes Kind nährte, denn sie ließ das Paddel los, hob ihre Jacke und ließ ihn schnell einmal an ihrer Brust trinken.

Ein anderer Mann entdeckte die Schwimmer. Geschrei erhob sich. Wie Schwertklingen sausten die Kajaks auf sie zu.

»Bleib hinter mir, Eyjan«, sagte Tauno. »Halte deinen Speer unter der Oberfläche, bereit, ihn zu benützen.« Er selbst trat Wasser und hob wiederholt die Hände, um zu zeigen, daß sie leer waren. Seine Sehnen spannten sich.

Das Wasser schäumte, als der erste Kajak vor ihm anhielt. Der Mann darin hätte beinahe selbst ein Wassermann sein können oder vielmehr ein See-Zentaur, so sehr gehörten er und sein Fahrzeug zusammen. Die Haut, die es bedeckte, lag um seine mit Seehundfell bekleidete Mitte; er konnte mit dem Boot umschlagen, sich wieder aufrichten und dabei keinen Tropfen Wasser in die Stiefel bekommen. Ein Paddel schickte ihn über die Wellen wie einen dahingleitenden Kormoran. Eine Harpune lag griffbereit vor ihm; die luftgefüllte Blase tanzte.

Mehrere Herzschläge lang betrachteten er und die Halbblutgeschwister einander. Tauno versuchte, hinter das Erstaunen des anderen zu blicken und ihn als Mann abzuschätzen. Er war jung, von noch mächtigerem Bau als die meisten seiner kräftigen Gefährten, hübsch auf seine Art mit seinem breiten Gesicht, den kleinen Augen und dem groben schwarzen Haar. Unter Fett und Schmutz hatte seine Haut beinahe Elfenbeinfarbe. Nur die Andeutung eines Bartes war an ihm zu erkennen. Er erholte sich schnell und überraschte die Geschwister, indem er sie auf Norwegisch, wenn auch mit Akzent, fragte: »Seid ihr Ausgestoßene? Braucht ihr Hilfe?«

»Nein, ich danke dir, aber wir gehören hierher«, erwiderte Tauno. Das Dänisch, das er kannte, war der Sprache der Kolonisten genügend ähnlich – ähnlicher, als es Hauaus Dialekt gewesen war – , daß es keine Verständigungsschwierigkeiten geben sollte. Er lächelte und rollte sich herum, damit der Inuk ihn besser sehen konnte.

Dem Aussehen nach hätte er mit seiner Größe und seinen dicken Muskeln schon ein Norweger sein können, wären nicht seine Bartlosigkeit, die bernsteinfarbenen Augen und der grüne Schimmer in dem schulterlangen Haar gewesen. Aber kein erdgeborener Mensch hätte sich im Wasser nackt, nahe Grönland, im Herbst wohlgefühlt. Ein Stirnband, ein Gürtel, an dem zwei Obsidian-Messer hingen, und eine dünne Rolle geölten Leders, die unter einem Speer mit Knochenspitze an seine Schultern gebunden war, stellten seine ganze Kleidung dar.

Eyjan war ähnlich ausgestattet. Auch sie lächelte und verwirrte den Inuk.

»Ihr ... seid ...« Ein vielsilbiges Eingeborenenwort folgte. Es schien »Geschöpfe des Zaubers« zu bedeuten.

»Wir sind eure Freunde«, antwortete Tauno in dieser Sprache; nun war er es, der stockend sprach. Er nannte seinen und seiner Schwester Namen.

»Diese Person wird Minik genannt«, gab der junge Mann zurück. Er hatte Mut gefaßt, während seine Gefährten sich nervös in einiger Entfernung hielten. »Wollt ihr nicht an Bord des Umiaks kommen und euch ausruhen?«

»Nein ...« protestierte ein anderer.

»Sie sind keine von den Nachbarn«, stellte Minik fest.

Widerstrebend gaben die übrigen nach. Solch ein Mangel an Gastfreundschaft war bei ihrer Rasse unerhört. Auf Angst vor Hexerei konnte es nicht zurückzuführen sein. Sie lebten ja in einer Welt der

Geister, die immerzu besänftigt werden mußten, und hier waren nur zwei menschenähnliche Wesen, die nichts Bedrohliches an sich hatten und bestimmt wundervolle Geschichten zu erzählen wußten. Irgend etwas Schreckliches mußte zwischen ihnen und Vestri Bygd geschehen sein. Und doch ...

Eyjan bemerkte es zuerst. »Tauno!« rief sie. »Sie haben eine weiße Frau bei sich!«

Er hatte zu sehr auf die Harpunen geachtet, um sich das Boot, das sich näherte, genauer anzusehen. Nun sah er, daß etwa in der Mitte eine Frau kniete, die größer war als die anderen. Sie starrte so ausdruckslos ins Weite wie ihre Gefährtinnen. Über einer zurückgeworfenen Parka-Kapuze schimmerten ihre Flechten golden.

Die Kinder des Wassermanns kletterten vorsichtig, damit sie das Boot nicht zum Kentern brachten, an Bord, und noch vorsichtiger hockten sie sich am Bug nieder, bereit, jederzeit wieder aufzuspringen. Die Inuit waren auf der Vogeljagd gewesen; das Boot war mit Alks vollgepackt und blutig. Tauno und Eyjan richteten ihre Aufmerksamkeit auf den einzigen Mann, der im Heck saß, grau, verrunzelt, raffzähnig. Er vollführte Gesten gegen sie, keuchte, kreischte und wurde ganz plötzlich still und rief aus: »Die da bringen kein Übel für uns mit sich, das ich riechen kann.« Er wandte sich an sie: »Diese Person wird Panigpak genannt, und einige behaupten, er sei ein Angakok ...« – ein Schamane, Zauberer, Vertrauter von Geistern und Dämonen, Heiler, Seher und, wenn es nötig war, einer, der Böses auf Feinde herabwünschen konnte. Obwohl er so bescheiden wie bei seinem Volk üblich und vor Alter verschrumpelt war, hatte er etwas von dem Stolz eines wilden Tieres an sich. Tauno mußte an Wolf und Eisbär denken.

Die Frauen quietschten und schwatzten; ein paar lachten mit halb ängstlichem Gackern. Ihre Augen flitzten wie schwarze Käfer über den hohen, breiten Wangenknochen hin und her. Von ihnen ging ein Geruch nach fleischlicher Hitze und, nicht unangenehm, nach Rauch und Öl und dem Urin aus, in dem sie sich die Haare wuschen. Die Männer lenkten ihre eigenen Fahrzeuge herbei. Sie verhielten sich ein bißchen reservierter – nur ein bißchen.

Allein die Norwegerin war still. Wie die übrigen trug sie Mantel, I lose und Fußbekleidung aus Fellen, und sie war ebenso schmutzig wie sie, aber ihr Blick brannte blau. Das, ihr helles und feingeschnittenes Gesicht, ihre Größe und Schlankheit erweckten Sehnsüchte in Tauno, die keine Inuk-Frau stillen konnte. Er legte eine Hand zwischen die Schenkel, um diese Gedanken zu verbergen, und ergriff das Wort.

»Vergebt dieser Person ihr stolperndes Sprechen. Wir haben die Sprache von einer weit von hier wohnenden Schar des Volkes gelernt. Mit ihnen jagten, fischten und schmausten wir, wir tauschten Geschenke aus und wurden Freunde. Hier wollen wir uns nicht aufhalten. Wir suchen nach unserer Familie und bitten euch um nichts anderes, als uns zu sagen, was ihr vielleicht von ihr wißt.«

Der Wind blies, die Wellen rollten, das Boot schwankte in der grimmigen Kälte. Die blonde Frau brach das Schweigen in ihrer Muttersprache: »Wer seid ihr? Was seid ihr? Kein richtiges Seevolk ... glaube ich. Ihr habt keine Schwimmhäute an den Füßen.«

»Dann weißt du von unserer Art?« rief Eyjan freudig.

»Durch Erzählungen, die ich am Feuer hörte, die meisten aus dem alten Land. Sonst nichts.«

Eyjan seufzte. »Nun, du hast recht. Aber verstehe, daß du uns ebenso in Erstaunen versetzt wie wir dich.«

Die Frau drückte ihr Kind an die Brust, das sie wie die meisten Paddlerinnen mitgenommen hatte. Ihres war strohköpfig. »Können wir wirklich offen reden?« hauchte sie.

Ein paar Männer erhoben Einspruch gegen die Unterhaltung, der sie nicht folgen konnten. War alles nicht bereits unheimlich genug? Sie antwortete ihnen gewandter, als es die Halbblutkinder hätten tun können. Diese Schwimmer sprächen das Dänische am besten. Sei es nicht am klügsten, sie diese Sprache benutzen zu lassen, damit sie alles schnell und richtig erklären konnten? Danach wolle sie den anderen klarmachen, was sie erzählt hatten. Sie wandte sich an Minik und Panigpak. Die Jettaugen des Angakoks durchbohrten die Fremden. Nach einer Weile stimmte er zu.

Minik mußte ihr Mann sein, dachte Tauno. Wie war das nur geschehen?

»Ich ... ich heiße Bengta Haakonstochter«, stammelte sie. Eine Pause, eine Wolke zog über ihr Gesicht. »Ich war Bengta Haakonstochter. Ich bin Atitak. Und meine Tochter ...« – sie drückte das einjährige Kind eng an sich – »... war Hallfrid, aber wir nennen sie Aloqisaq nach Miniks Großmutter, die im Treibeis starb, kurz bevor wir zu ihm kamen.«

»Bist du entführt worden?« erkundigte Eyjan sich mit leiser Stimme.

»Nein!« Bengta streckte die freie Hand über den Rand des Bootes und legte sie fest auf Miniks Schulter. Er errötete. Diese Zurschaustellung von Gefühlen, die den Inuit fremd war, setzte ihn in Verlegenheit, aber er ließ ihre Hand, wo sie war. »Erzählt mir von euch«, bat sie.

Eyjan zuckte die Schultern. »Mein Bruder und ich sind zur Hälfte menschlich.« In Kürze legte sie dar, was geschehen war. Mit nicht ganz fester Stimme schloß sie: »Habt ihr irgend etwas davon gehört, daß Seevolk angekommen sei?«

»Nein«, antwortete Bengta. »Doch ist es gut möglich, daß es mir entgangen ist, bei dem Verlauf, den mein Leben in letzter Zeit genommen hat.«

»Sprich mit deinen Gefährten, Liebes. Sag ihnen, die Meerleute seien nicht ihre Feinde. Im Gegenteil, Meeresbewohner und Luftatmer könnten gemeinsam vollbringen, wozu keiner allein imstande wäre.«

In der singenden Sprache wurde hin und her geredet. Oft richtete Panigpak eine Frage direkt an die Halbblutkinder, manchmal mit Hilfe der Norwegerin. Stück für Stück kamen die Tatsachen zum Vorschein. Nein, diese Inuit wußten nichts von irgendeiner Ankunft. Doch sie verbrachten die meiste Zeit an Land und jagten, und nur selten fuhren sie weit aufs Meer hinaus – niemals so weit wie die weißen Männer, die in vergangenen Zeiten bis über den Horizont hinausgesegelt waren, um Bauholz zu holen (Bengta sprach von einem Ort, den sie Markland nannte), und immer noch die Gewohnheit hatten, im Sommer mit ihren Booten tollkühne, lange Reisen zu unternehmen. (Im Winter hockten sie dagegen zu Hause, und das war die Zeit, da die Inuit reisten – mit Hundeschlitten, über Land oder über das Eis an den Küsten.) Deshalb mochten die Bewohner von Vestri Bygd Kunde von Geschehnissen auf irgendeiner Insel haben, von denen arme, unwissende Leute in Kajaks nichts zu sagen wußten. Wenn dem so war, würde Bengtas Vater es bestimmt wissen, denn er sei der mächtigste Mann in der Siedlung.

Tauno und Eyjan konnte der Ausdruck des Entsetzens nicht entgehen, mit dem der Name Haakon Arnorssohn ausgesprochen wurde. Seine eigene Tochter zuckte zusammen, und ihre Stimme wurde hart.

Wie dem auch sein mochte ... »Nun, wir müssen ihn aufsuchen«, murmelte Eyjan. »Sollen wir ihm eine Botschaft von dir überbringen, Bengta?«

Die junge Frau verlor ihre Selbstbeherrschung. Tränen stürzten aus ihren Augen. »Bringt ihm meinen Fluch!« schrie sie. »Sagt ihm ... sagt ihnen allen ... sie sollen das Land verlassen ... bevor der Tupilak sie vernichtet ... den unser Angakok gegen sie gesandt hat ... wegen seiner Missetaten!«

Minik umklammerte seine Harpune. Panigpak verkroch sich tiefer in seine Pelze, als wolle er sich verstecken. Frauen und Kajaks wichen vor den beiden im Bug zurück. Kinder schienen das Unbehagen zu spüren und begannen zu schreien. »Ich glaube, am besten verschwinden wir hier«, sagte Tauno aus einem Mundwinkel. Eyjan nickte. In Zwillingsbögen sprangen die Kinder des Wassermanns aus dem Umiak und verschwanden im ruhelosen, bitteren Wasser.