Prolog

Steil erhebt sich die Küste von Dalmatien. Eine knappe Seemeile landeinwärts steht die Stadt Schibenik hoch auf einem Berg über dem Fluß Krka und blickt auf die Berggipfel im Osten. Hier bildet das Wasser ein breites Becken, das in seinem weiteren Lauf zum Meer hin enger wird. Flußaufwärts stürzt es sich jedoch in tosenden Kaskaden aus dem See, den es zusammen mit anderen Quellen geschaffen hat.

Zu der Zeit, als Karl Robert von Anjou der Knabenkönig von Kroatien und Madjarien wurde, bestand das Land entlang dieser Wasserfälle zum größten Teil aus Urwald, ebenso das Ufer des Sees, ausgenommen die Stelle, wo sich der Krka in ihn ergißt. Dort hatten Menschen den Wald schon längst gerodet und den Boden unter den Pflug genommen. Ein wenig weiter flußaufwärts, ungefähr da, wo der Chikola einmündet, drängte sich das Dorf Skradin an die Festung seines Herrn, des Zhupan.

Doch auch hier spukte die Wildnis bis in die Burg hinein. Nicht nur, daß man des Nachts Wölfe heulen und des Tags Schakale bellen hören konnte, daß einem die Felder von Hirschen und Wildschweinen zertrampelt wurden und daß sich gelegentlich ein Elch mit seinem mächtigen Geweih oder ein Auerochse sehen ließ. Unheimliche Wesen wohnten im Umkreis – Leschi zwischen den Bäumen, ein Vodianoi in den Tiefen – und seit kurzem, so wurde geflüstert, eine Vilja.

Zhupan Iwan Subitsch schenkte solchem Gerede unter seinen Leibeigenen kaum Beachtung. Er war ein strenger, aber gerechter Mann, nahe verwandt mit dem großen Ban Pawel und sich daher einer größeren Welt als der ihren bewußt. Zudem hatte er Jahre in der Fremde verbracht, viele davon in Kriegen, die ihn gehärtet und mit Narben bedeckt hatten.

Ebensowenig fürchtete sich sein ältester Sohn Mihajlo vor den Gespenstern des Waldlandes. Tatsächlich hatte der Jüngling die Sagen, die ihm in seiner Kinderzeit erzählt worden waren, schon beinahe vergessen; denn er war in der Abtei von Schibenik erzogen worden, hatte Reisen zu den verkehrsreichen Häfen Zadar und Split unternommen und war einmal über die Meerenge nach Italien übergesetzt. Was ihn betraf, so wünschte er sich Reichtum und Ruhm und ein Entrinnen aus dem Einerlei, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Zu diesem Zweck schloß er sich mit Iwans Hilfe dem Gefolge von Pawel Subitsch, dem Königsmacher, an.

Trotzdem hing er an seiner Heimat und besuchte Skradin oft. Dort kannte man ihn als fröhlichen und gutherzigen, wenn auch manchmal gedankenlosen Menschen, der Farbe, Lieder und kurzweilige Geschichten aus der Welt dort draußen mitbrachte.

An einem Morgen zu Sommeranfang verließ Mihajlo die Burg, um auf die Jagd zu gehen. Ein halbes Dutzend junger Burschen begleitete ihn. Drei waren Wachen und Leibdiener, die aus Schibenik mitgekommen waren. Im Augenblick herrschte Frieden sowohl mit den Venetianern als auch zwischen den mächtigen Klans, und den letzten Räuber dieser Gegend hatte Iwan Subitsch schon vor mehreren Jahren köpfen lassen. Aber immer noch reisten Männer nicht gern allein, und Frauen taten es nie. Die übrigen Gefährten Mihajlos bei diesem Ritt waren sein jüngerer Bruder Luka und zwei freie Bauern, die als Führer dienen und die grobe Arbeit übernehmen sollten. Eine Meute Hunde lief hinterher.

Einen prächtigen Anblick boten die jungen Leute. Mihajlo war nach der neuesten westlichen Mode in ein grünes Wams, eine grüne Hose, ein safrangelbes Hemd, einen mit Seide gefütterten Umhang, Halbstiefel und Stulpenhandschuhe aus korduanischem Leder gekleidet. Auf den langen braunen Locken trug er eine Samtkappe, das Gesicht war glatt rasiert. Wenn sein Pferd im Übermut tänzelte, klappte der Hirschfänger, den er am Gürtel trug. Er saß auf seinem Tier, als seien er und das Roß eins. Seine persönlichen Diener waren kaum weniger farbenfreudig gekleidet; ihre Speerspitzen blitzten in der Sonne. Lukas knielanger Mantel, seine Überjacke und die mit Kreuzbändern verschnürten Kniehosen unterschieden sich kaum von der Kleidung der Bauern, nur daß sie aus feinerem Stoff und an Ärmeln und Saum reicher bestickt waren und sein randloser Spitzhut statt eines Besatzes aus Kaninchenfell einen aus Zobel hatte. Er und sie trugen kurze, krumme Bogen sowie Messer von einer Größe, daß sie es mit einem Bären aufnehmen konnten.

Die Hufe klapperten über die Straße und stampften über die Feldwege. Im Gegensatz zu den fränkischen Herren behandelten die kroatischen Adligen ihre Untergebenen im allgemeinen mit Achtung, und hätte Mihajlo es sich einfallen lassen, quer über das zarte Grün der sprießenden Felder zu reiten, dann hätte er sich vor seinem Vater verantworten müssen. Als sie an einer Weide vorbeikamen, erschreckte er ein paar Kälber, indem er lustig ins Horn stieß, aber Stangenzäune hinderten sie am Ausbrechen.

Gleich darauf befand er sich im Wald, auf einem Wildpfad. Hier ragten gewaltige Stämme in die Höhe, verflochten sich die Zweige hoch über ihren Köpfen, flüsterten die Blätter. Die Sonne sprenkelte den Bogen schattiger Dome mit goldenen Flecken. Von fern schallte Vogelgesang herüber und wurde von dem hier brütenden Schweigen verschluckt. Die Luft war warm, doch es lag eine gewisse Schärfe in ihr, und sie war voller Düfte, die nichts mit Haus und Kuhstall zu tun hatten.

Die Hunde nahmen einen Geruch auf und begannen zu bellen.

In den nächsten paar Stunden erlegten die Männer einen Hirsch, einen Wolf und ein paar Dachse. Eine Wildsau entkam ihnen, aber sie waren recht zufrieden. Am See angekommen, schreckten sie eine Schar Schwäne auf, ließen ihre Pfeile fliegen, holten drei herunter. Nun dachten sie daran, nach Hause zurückzukehren.

Es geschah, was Gott zuließ.

Ein weiterer Hirsch kam ans Ufer, hundert Schritte von ihnen entfernt. Die Sonnenstrahlen des Spätnachmittags ließen goldene Lichter und bläuliche Schatten über sein Fell hinlaufen, denn er war weiß, beinahe so groß wie ein Elch. Schon reckte sich sein sprießendes Geweih wie Bäume zum Himmel.

»Bei allen Heiligen!« rief Mihajlo und sprang auf die Füße. Zwei Speere verfehlten den Hirsch, der wartete, bis die Männer wieder im Sattel waren. Dann floh er. Aber er verschwand nicht im dicken Unterholz, wohin ihm die Pferde nicht hätten folgen können. Er blieb auf dem Weg, und ständig schimmerte sein Körper durch die Blätter. Vergebens setzten ihm die Reiter mit Gebrüll nach. Hin und her führte er seine Verfolger, hierhin und dahin und rundherum. Die Zeit verging. Die Pferde waren erschöpft, die Hunde hechelten, als der Hirsch endlich an den See zurückkehrte.

Der helle Wasserspiegel war in Dunkelheit getaucht. Die Sonne war untergegangen und hatte nur einen Schwefelstreifen am westlichen Himmel zurückgelassen. Im Osten wurde das Purpur schnell zu Schwarz; ein einzelner Stern ging auf. Nebelfetzen zogen dahin.

Fledermäuse schossen durch die Luft. Es wurde kalt. Stille erfüllte alles.

Wie ein Gebilde aus Nebel erschauerte das gekrönte Tier und war verschwunden.

Mihajlo schluckte einen Fluch hinunter. Luka bekreuzigte sich immer wieder, und die Diener taten desgleichen. Beide Bauern sprangen aus den Steigbügeln, fielen auf die Knie, rissen die Hüte ab und beteten laut.

»Wir sind genarrt worden«, murmelte Sisko, der ältere von beiden. »Aber von wem und warum?«

»In Gottes Namen, machen wir, daß wir wegkommen«, flehte sein Freund Drazha.

»Nein, wartet.« Mihajlo nahm seinen ganzen Mut zusammen. »Unsere Pferde müssen ausruhen. Wir könnten sie umbringen, wenn wir sofort weiterritten. Das wißt ihr.«

»Willst du – willst du denn die Nacht hier verbringen?« stotterte Luka.

»Eine Stunde oder zwei, bis der Mond aufgeht und wir den Weg finden«, antwortete Mihajlo.

Einer seiner Diener starrte auf das Quecksilber über den Tiefen, auf den zerfetzten Pflanzenwuchs unter der Wasseroberfläche und widersprach: »Herr, das ist kein Ort für Christen. Hier riecht es nach alten, heidnischen Dingen. Das war kein Hirsch, den wir gejagt haben. Es war der Wind, und jetzt ist er dahin entschwunden, wohin der Wind zu gehen pflegt. Warum?«

»Was, du willst ein Mann aus der Stadt sein?« spottete Mihajlo. »Unsere Sinne haben uns irregeführt, das ist alles. Zu verwundern ist es nicht, müde, wie wir sind.« Er spähte durch die Dunkelheit nach ihren Gesichtern. »Es gibt keinen Ort auf der Erde, der nicht für Christen ist, wenn sie den Glauben haben«, erklärte er. »Kommt, rufen wir unsere Heiligen an. Wie könnten uns die Teufel dann ein Leid tun?«

Ein wenig ermutigt stiegen die aus dem Sattel, die es nicht bereits getan hatten. Sie beteten zusammen, nahmen den Pferden die Sättel ab, begannen, sie mit Tüchern zu reiben. Weitere Sterne erschienen am dunkler werdenden Himmel.

Mihajlos Lachen brach die Stille. »Seht ihr? Wir brauchen uns nicht zu fürchten.«

»Nein, niemals«, sang eine Mädchenstimme. »Bist du es wirklich, mein Liebster?«

Er drehte sich um und erblickte sie. Seine Gefährten erkannte er nur noch als verwischte Gestalten in der Dunkelheit, aber sie, die durch die Binsen an Land stieg, sah er ganz deutlich. Ihr nackter Körper und das offene Haar waren hell, ihre Augen groß und glänzend. Sie näherte %Ich ihm mit ausgebreiteten Armen.

»Jesus und Maria, steht uns bei«, ächzte Drazha hinter ihm. »Es ist dir Vilja!«

»Mihajlo«, bat sie leise, »Mihajlo, verzeih mir, ich versuche ja, mich zu erinnern, ganz bestimmt.«

Irgendwie brachte er es fertig, sich ihr im Dämmerlicht am feuchten Seeufer entgegenzustellen. »Wer bist du?« rang es sich durch das Erdbeben in seiner Brust. »Was willst du von mir?«

»Die Vilja«, jammerte Sisko. »Dämon, Geist! Betet sie weg, Männer, bevor sie uns in ihre wässrige Hölle hinunterzieht.«

Mihajlo schlug das Kreuz, machte die Knie steif, sah das Wesen gerade an und befahl: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des I 'eiligen Geistes ...«

Ehe er sagen konnte: »Hebe dich hinweg!«, war sie so dicht bei ihm, daß er ihre feingeschnittenen Gesichtszüge erkennen konnte.

»Mihajlo«, flehte sie, »bist du es? Es tut mir leid, wenn ich dir weh getan habe ...«

»Nada!« rief er.

Sie blieb stehen. »War ich Nada?« fragte sie ihn verwirrt. Nach einer Weile setzte sie hinzu: »Ja, ich glaube, ich war es. Und sicher warst du Mihajlo ...« Sie lächelte. »Das heißt, du bist es. Ich habe dich hierher zu mir gebracht, nicht wahr, Mihajlo, mein Liebster?«

Er schrie auf, fuhr herum und lief davon. Seine Männer flohen ebenfalls, in allen Richtungen hinein in die Dunkelheit. Die Pferde gingen durch.

Als der Lärm verstummt war, stand Nada, die Vilja, allein. Weitere Sterne waren erwacht. Das letzte Nachglühen des Sonnenuntergangs war verschwunden, aber im Westen war der Himmel noch bleich. Diese verschiedenen Lichter schimmerten auf dem See, und er gab sie an sie weiter, bis sie eine schlanke Biegung, eine weiße Welle, ein Glitzern von Tränen war. »Mihajlo«, sagte sie. »Bitte.«

Dann vergaß sie es, lachte und glitt in den Wald.

Die Jäger langten einzeln, aber sicher zu Hause an. Was Sisko und Drazha zu erzählen hatten, ließ die Leute noch mehr als früher vor dem wilden Wald auf der Hut sein. Mihajlo berichtete nicht mehr, als er mußte. Andere merkten bald, daß er nicht mehr der fröhliche Jüngling von ehedem war. Er verbrachte viel Zeit mit dem Burgkaplan und später mit seinem Beichtvater in Schibenik. Im Jahr darauf trat er in ein Kloster ein. Sein Vater, der Zhupan, war darüber alles andere als glücklich.