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Tauno, das älteste Kind der schönen Agnete und des Königs von Liri, hatte seinen einundzwanzigsten Winter gezählt. Zu seinen Ehren wurden viele Lustbarkeiten veranstaltet. Die köngliche Halle war von Meeresfeuer erhellt, das die Muscheln und Spiegel und goldenen Platten zurückwarfen, und zwischen ihnen, nach oben und unten und rings im Kreis, nach Norden, Osten, Westen und Süden, nach oben und unten woben die Tänze Muster auf schwebenden Pfaden; man sang und schmauste. Tauno erhielt Geschenke, kunstvoll gefertigt, und nicht nur aus Gold und Bernstein und Narwal-Elfenbein, sondern auch aus Perlen und rosigen, spitzenartigen Korallen, die im Lauf der Jahrhunderte durch Reisende von weither mitgebracht worden waren. Es gab Wettbewerbe im Schwimmen, Ringen, Harpunieren, Musizieren und Runenzauber. In dämmerigen Räumen, die kein Dach besaßen, weil sie keines brauchten, und in den wallenden Gärten mit ihren roten, grünen, purpurnen und braunen Gewächsen, wo Quallen wie weiße und blaue Blüten schwebten und Fische wie Meteore dahinschossen, wurde der Liebe gehuldigt.
Danach ging Tauno auf eine lange Jagd. Obgleich das Seevolk von den Früchten des Meeres lebte, tat er es diesmal zur Unterhaltung und vor allem, um noch einmal die herrlichen norwegischen Fjorde zu besuchen. Mit ihm kamen die Mädchen Rinna und Raxi, zu seinem Vergnügen und zu ihrem eigenen. Sie hatten viel Spaß unterwegs, was Tauno viel bedeutete; denn zu oft war er unter seinen leichtherzigen Artgenossen ernst, und manchmal verfiel er in dunkles Brüten.
Sie waren auf dem Weg nach Hause, und Liri war schon in Sicht, als das Unheil sie traf.
»Da ist es!« rief Rinna aufgeregt. Sie schoß voraus. Ihre grünen Haarsträhnen fluteten über den schlanken weißen Rücken. Raxi blieb bei Tauno. Lachend schwamm sie um ihn herum, und jedesmal, wenn sie unter ihm vorbeikam, streichelte sie mit den Händen sein Gesicht oder seine Lenden. Ebenso verspielt wollte er sie haschen, aber immer war sie dann schon außer Reichweite. »Fang mich!« forderte sie ihn heraus und blies ihm Luftblasenküsse zu. Er grinste und schwamm stetig weiter. Die Halbblut-Kinder hatten die Form der Füße von ihrer Mutter geerbt und waren daher im Wasser weniger schnell und geschickt als die Rasse ihres Vaters. Trotzdem hätte ein Landmensch vor Staunen die Luft angehalten bei ihren Bewegungen. Und an Land kamen sie besser zurecht als ihre Vettern. Sie waren mit der Fähigkeit geboren worden, unter Wasser zu leben, ohne – wie ihre Mutter – eines besonderen Zaubers zu bedürfen, der sie vor dem Tod durch Ertrinken, Salz oder Kälte schützte, und das Seevolk mit seinem kalten Fleisch liebte es, ihre wärmeren Körper zu umarmen.
Über Tauno entflammte die Sonne die Wellen und bildete ein Dach aus glänzenden Rippen, die ein Muster auf den weißen Sand unter ihm malten. Um ihn leuchtete das Wasser in den Farben von Smaragden und Amethysten, bis die Entfernung es verdunkelte. Tauno spürte, wie es an ihm vorbeirauschte, wie es auf das Spiel seiner Muskeln mit Liebkosungen wie eine Geliebte antwortete. Goldbrauner Tang strömte aus Muschelfelsen nach oben und schwankte mit jeder Bewegung der Fluten. Eine Krabbe kroch über den Meeresgrund, ein Thunfisch, blau und weiß und schön, glitt weiter weg vorbei. Das Wasser war nie dasselbe: hier kalt, da mild, hier bewegt, da ruhig, und außer dem Geruch nach Tang, den die Menschen am Strand wahrnehmen, trug es tausend verschiedene Geschmäcke und Düfte mit sich. Auch war es für die, die hören konnten, voller Geräusche, voll Glucksen, Schwatzen, Kichern, Krächzen, Spritzen. Schwapp-schwapp-schwapp klatschte es gegen das Land, und durch jeden Wirbel und jedes Gurgeln fühlte Tauno das gewaltige, langsame Ziehen der Gezeiten.
Jetzt war Liri ganz deutlich zu sehen: Häuser, die kaum mehr waren als Bäume aus Meerespflanzen oder Rahmen aus Elfenbein und Walrippen, in dieser Welt des geringen Gewichts zart und phantastisch gestaltet, umgeben von weiten Gärten mit Schlingpflanzen und Anemonen. In der Mitte stand die Halle seines Vaters, des Königs: Groß, alt, Stein und Koralle in feinen Farbabstufungen, geschmückt mit Schnitzereien, die Fische und Vögel und andere Tiere darstellten, die zum Meer gehören. Die Pfosten der Haupttür zeigten die Gestalten des Herrn Ägir und der Herrin Ran, der Fenstersturz war ein Albatros mit zum Auffliegen ausgebreiteten Schwingen. Über den Wänden erhob sich eine Kuppel aus Kristall, zur Oberfläche hin offen. Der König hatte sie für Agnete bauen lassen, damit sie, wann immer sie wollte, im Trockenen sein, Luft atmen, an einem Feuer unter Rosen und was seine Liebe ihr sonst noch vom Land herbeiholte, sitzen konnte.
Das Seevolk glitt umher – Gärtner, Handwerker, ein Jäger, der eine Koppel junger Seehunde trainierte, ein Austernsammler, der an einer Bude einen Dreizack kaufte, ein Junge, der ein Mädchen an der Hand auf eine mit weichem Licht erfüllte Höhle zuführte. Bronzeglocken, vor langer Zeit aus einem untergegangenen Schiff geholt, wurden geläutet. Sie klangen klarer durch das Wasser als je durch die Luft.
»Harru!« rief Tauno. Plötzlich schoß er vorwärts; Rinna und Raxi schwammen ihm zur Seite. Alle drei stimmten das »Lied der Heimkehrenden« an, das er für sie gemacht hatte:
O Heimatland, Herzensstrand, hier ruf ich Heil dir!
Den Tag weiht dem Tanz, laßt des Tritonshorn Tosen
Und Kessellärm künden mein Kommen. Ich kann euch
der Mären gar manche vermelden. Die Möwen
Begrüßten, umgeben von goldenem Glanze, Die Sonne. Dort ...
Plötzlich fingen Taunos Gefährtinnen an zu schreien. Sie hielten sich die Hände über die Ohren, sie kniffen die Augen zusammen, sie ruderten blindlings mit den Armen und stießen mit den Beinen, bis das Wasser schäumte.
Tauno sah, daß dieser Wahnsinn ganz Liri erfaßte. »Was ist das?« rief er voller Entsetzen. »Was geschieht da?«
Rinna jammerte laut. Sie konnte ihn weder sehen noch hören. Er hielt sie fest. Sie wehrte sich gegen ihn. Mit seiner ganzen Kraft packte er sie von hinten mit den Beinen und einem Arm. Mit der anderen Hand griff er in ihr seidiges Haar, um ihren zuckenden Kopf festzuhalten. Er legte den Mund an ihr Ohr und beschwor sie: »Rinna, Rinna, ich bin es, Tauno. Ich bin dein Freund. Ich möchte dir helfen.«
»Dann laß mich los!« Ihre Stimme brach vor Schmerz und Angst. »Das Läuten füllt die See, es schüttelt mich wie ein Hai, meine Knochen fallen auseinander ... das Licht, die grausamen Flammen, blenden, brennen brennen ... die Worte ... laß mich los, oder ich sterbe!«
Völlig verwirrt gab Tauno sie frei. Er stieg ein paar Ellen in die Höhe und entdeckte den zitternden Schatten eines Fischerbootes, und er hörte eine Glocke ... war auch ein Feuer an Bord und sang eine Stimme in einer Sprache, die er nicht kannte? Nicht mehr als das ...
Die Häuser von Liri schwankten wie bei einem Beben. Die kristallene Kuppel auf der Königshalle zerbrach; glitzernde Scherben regneten herab. Die Steine wackelten und rutschten auseinander. Der Zerfall von Bauwerken, die hier gestanden hatten, seit das Große Eis schmolz, ließ Tauno bis ins Mark erschauern.
Undeutlich sah er seinen Vater auf sich zukommen. Er ritt auf dem Mörderwal, der seinen Luftraum in der Halle hatte und den niemand sonst zu besteigen wagte. Ansonsten hatte der König nichts anderes als seinen Dreizack, und er war in nichts gekleidet als seine eigene Majestät. Doch irgendwie war sein Ruf zu hören: »Zu mir, mein Volk, zu mir! Schnell, bevor wir sterben! Rettet keine anderen Schätze als eure Kinder – und Waffen – kommt, kommt, kommt, wenn ihr am Leben bleiben wollt!«
Tauno schüttelte Rinna und Raxi, bis sie halbwegs wieder bei Verstand waren, und brachte sie zu den anderen. Sein Vater, der umherritt und das entsetzte Seevolk zusammenzutreiben versuchte, fand die Zeit, die ernsten Worte an Tauno zu richten: »Du, der du halb sterblich bist, spürst es nicht mehr als mein Reittier. Aber für uns sind diese Gewässer nun mit einem Bann belegt. Für uns wird das Licht lodern und die Glocke läuten, und die Worte werden uns verfluchen bis zum Welten-ende. Wir müssen fliehen, solange wir noch die Kraft dazu haben, und uns in weiter Ferne eine neue Heimat suchen.«
»Wo sind meine Geschwister?« fragte Tauno.
»Sie hatten einen Ausflug unternommen«, antwortete der König. Seine Stimme, die wie eine Trompete geschmettert hatte, wurde flach und ausdruckslos. »Wir können nicht auf sie warten.«
»Ich kann es.«
Der König faßte seinen Sohn bei den Schultern. »Das gibt mir neuen Mut. Eyjan allein kann Yria und, aye, den jungen Kennin nicht beschützen. Ich weiß nicht, wohin wir gehen werden. Vielleicht kannst du uns später finden – vielleicht ...« Er schüttelte seine sonnengoldene Mähne. Sein Gesicht verzog sich zu einer Maske der Qual. »Fort!« rief er laut.
Verwirrt, geschlagen, nackt, die meisten ohne Waffen und Werkzeuge, so folgte das Seevolk seinem Herrn. Tauno blieb zurück, die Fäuste um die Harpune geklammert, bis sie außer Sicht waren. Die letzten Steine der königlichen Halle fielen auf den Meeresgrund, und Liri war eine Ruine.