5

Nicht weit nordwärts von Alsen ging der Wald in Sumpfland über. Dies erstreckte sich zwei oder drei Meilen hinter einem Weg, der nichts als ein Fußpfad entlang dem Strand war und wenig benutzt wurde, teils aus Furcht vor Geschöpfen der Halbwelt, teils aus dem Grund, daß die Besiedlung zwischen hier und Kap Skagen spärlich war. Erzdiakon Magnus hatte sich nicht gefürchtet, mit seiner Begleitung hier zu reiten, aber er war ein Kreuzzügler, den Gott für die Dämonen unbesiegbar gemacht hatte. Das gewöhnliche Volk hatte solche Zuversicht nicht.

Dort warf die Herning an einem kalten Abend Anker. Im Osten schimmerte das Kattegat, bis es sich im Dunkel verlor. Im Westen erstreckte sich das dämmerige Ufer. Ein letzter Schein des Sonnenuntergangs warf einen roten Streifen über das Wasser, gebrochen von Binsen, kleinen Hügeln, knorrigen Weiden. Die Landbrise roch nach Schlamm und Feuchtigkeit. Eine Rohrdommel rief, ein Kiebitz schrillte, eine Eule schrie – vereinzelte Geräusche in der Stille.

»Seltsam, daß wir unsere Unternehmung hier beenden«, murmelte Ingeborg.

»Nein, das tun wir nicht«, widersprach Eyjan. »Hier beginnen wir.«

Niels bekreuzigte sich, denn der Ort war wirklich unheimlich, und wie jeder Bewohner dieser Gegend hatte er Geschichten gehört ... Moorgeister, Elfen? ... Sah er dort nicht ein blaues Irrlicht tanzen, das Menschen in ihr Verderben locken wollte? Er fragte sich, ob das heilige Zeichen ihn schützen würde, nach all seinen heidnischen Taten. Seine Hand tastete nach der Eyjans, aber sie stand nicht mehr da. Sie hatte schon mit der Arbeit angefangen.

Zuerst halfen Eyjan, Tauno und Hauau ihren Schiffsgefährten an Land. Dann verbrachten sie Stunden damit, das Gold aus Averorn vom Deck, wo sie es in den letzten Tagen aufgestapelt hatten, an den Strand zu bringen. Niels und Ingeborg hielten Wache, wenn es Umich unwahrscheinlich war, daß Menschen – obwohl ein oder zwei Gesetz lose in der Nähe lagern mochten – oder noch weniger willkommene Besucher auftauchten. Nichts geschah. Sie teilten sich einen Mantel und hatten sich bald gegen die Kälte fest umschlungen. So zitterten sie gemeinsam die ganze Nacht durch.

Bei Tagesanbruch war die Fracht ausgeladen, aber keine Sonne zu sehen. Dicker Nebel war aufgestiegen, die ganze Welt tropfte vor Nässe, war getränkt mit Stille. Tauno und Eyjan, die das Sumpfgebiet gut kannten, hatten dies vorausgesehen. Tatsächlich hatten sie die Kogge einen ganzen Tag lang vor der Küste festgehalten, bis sie mit diesem Schleier rechnen konnten. Hauau fühlte sich im Nebel ebenso zu Hause wie sie. Von diesen Gefährten geleitet, machten sich der Jüngling und die Frau müde, frierend und in kläglicher Stimmung daran, beim nächsten Teil der Aufgabe zu helfen.

Das Gold mußte versteckt werden. Tauno erinnerte sich an einen vom Blitz gespaltenen Baum, der vom Weg aus leicht zu finden war. Eine nachgeprüfte Anzahl von Schritten genau nach Westen führte zu einem Tümpel, flach, morastig, wie dazu geschaffen, Geheimnisse zu bewahren. Eine aus Weidenruten geflochtene Matte, die Jahre unter Wasser überdauern würde, verhinderte den Schlamm des Grundes daran, das zu verschlucken, was die Wanderer hinabsenkten. Mit den zusätzlichen Händen ging die Beförderung schneller als vorher. Außerdem konnte man zu Fuß mehr tragen als schwimmend, und soviel die Gegenstände auch wiegen mochten, sie nahmen nur einen ziemlich kleinen Raum ein.

Trotzdem war Eile geboten. Oft veranlaßte das einen der Träger, weiches Metall zu einer weniger sperrigen Form zusammenzudrücken. Als Ingeborg sah, wie Tauno so die spinnwebzarte Schönheit einer Tiara zerstörte, meinte sie traurig: »Welcher Liebhaber mag sie einst seiner Dame geschenkt, welcher Künstler mag sie mit Liebe angefertigt haben? Nun ist der letzte Funke ihres Lebens dahin.«

»Wir müssen unser Leben jetzt führen«, gab er scharf zurück. »Ihr werdet das meiste davon sowieso einschmelzen oder in kleine Stücke schneiden müssen, oder nicht? Außerdem leben ihre Seelen weiter und werden sich zweifellos erinnern.«

»An irgendeinem grauen Ort außerhalb der Zeit«, bemerkte Eyjan. »Sie waren keine Christen.«

»Ja, ich glaube, wir sind glücklicher dran«, antwortete Tauno. Er fuhr fort, Gegenstände herbeizutragen. Selbst aus nächster Nähe wirkte er in dem Nebel unwirklich. Ingeborg zuckte zusammen, wollte ein Kreuz schlagen, hielt in der Bewegung inne und kehrte ebenfalls an die Arbeit zurück.

 

Gegen Mittag zerriß ein langsam auffrischender Wind die Dämpfe und trieb sie aufs Meer hinaus. Auf die Erde stachen Lichtspeere nieder, die immer öfter Risse zurückließen, durch die der blaue Himmel zu sehen war. Es wurde wärmer. Wellen glucksten auf den Strand.

Ihre Arbeit war vollendet. Sie aßen kalten Proviant und tranken sauren Wein, den sie vom Schiff geholt hatten. Das war nicht gerade ein Abschiedsbankett zu nennen, dort neben dem Weg, aber das beste, was sie hatten. Danach zog Tauno Niels außer Hörweite.

Einen Augenblick standen sie sich stumm gegenüber, der nackte Sohn des Meermanns den schlanken, schlechtgekleideten Menschen überragend, Tauno ernst, Niels müde und verschüchtert. Endlich fand der Liri-Prinz Worte. »Wenn ich dich schlecht behandelt habe, bitte ich dich um Verzeihung. Du hättest durch mich Besseres verdient gehabt. Ich habe es versucht, beim letzten Teil unserer Reise, aber - nun, ich hatte zuviel im Kopf, und so vergaß ich immer wieder, was ich dir schuldig bin.«

Niels hob den Blick vom Boden und antwortete in einer Art Verzweiflung: »Das hat nichts zu bedeuten, Tauno. Nicht auszuloten ist die Schuld, die ich dir gegenüber habe.”

Tauno lächelte bitter. »Für was, mein Freund? Daß du immer wieder und wieder für eine Sache, die nicht die deine war, in Mühsal und Lebensgefahr geraten bist? Daß noch Schlimmeres vor dir liegt?«

»Wieso? Mir winkt Reichtum und alles, was er bedeutet – ein Ende der Not und schweren Arbeit und Sorge für meine Verwandten. Du hast das Gold natürlich für Margrete, für Yria geholt, aber werde ich nicht ebenfalls reich belohnt werden?«

»Hmm. Ich kenne mich in den Wegen der Erdlinge nicht aus, aber ich kann mir vorstellen, gegen welche Schwierigkeiten du wirst kämpfen müssen. Und wenn du versagst, werden dir die Menschen ein Ende bereiten, das weit schrecklicher sein wird, als du es vom Meer oder seinen Ungeheuern zu erwarten hättest. Hast du darüber schon nachgedacht, Niels?« fragte Tauno. »Hast du wirklich darüber nachgedacht? Ich frage dich Yrias wegen, damit nicht auch sie in den Untergang hineingezogen wird, aber auch an deinem Schicksal nehme ich Anteil.«

Mit fester Stimme antwortete der junge Mann: »Ja, ich habe darüber nachgedacht. Du weißt, wem ich in meinem Herzen diene. Da ich ihr nun keinen schlechten Dienst erweisen will, habe ich jede freie Stunde damit zugebracht, Pläne zu schmieden. Ingeborg wird mein erster Ratgeber sein, sie ist weltklüger als ich, aber sie wird nicht der einzige bleiben. Was geschieht, liegt bei Gott, aber ich bin hoffnungsvoll.« Er holte Atem. »Du weißt, nicht wahr, daß Übereilung uns vernichten könnte? Wir müssen uns jeden Schritts vergewissern, bevor wir ihn tun.«

»Aye. Wann werdet ihr es geschafft haben? In einem Jahr?«

Niels runzelte die Stirn und zupfte an seinem Jünglingsbart. »Ich glaube, es wird länger dauern. Jedenfalls bis ich mir eine gute Position geschaffen habe – aber das ist es ja nicht, was du hören willst. Yria ... wenn alles gut geht ... vielleicht haben wir sie in einem Jahr losgekauft. Es hängt alles davon ab, welche Verbündeten wir finden können, verstehst du ... Oh, sagen wir, daß wir in zwölf Monaten ab heute genauer wissen, wie sich die Dinge entwickeln.«

Tauno nickte. »Wie du willst. Eyjan und ich werden dann zurückkehren und hören, was du zu berichten hast.«

Niels blieb der Mund offenstehen. »So lange werdet ihr fort sein?« »Warum sollten wir hierbleiben, wenn wir doch darauf brennen, nach unserm Volk zu suchen?«

Niels schluckte schwer. Er verflocht ruhelos die Finger. Nach einer Weile war er fähig zu fragen: »Wo wollt ihr suchen?«

»Im Westen«, antwortete Tauno mit weicherer Stimme als bisher. »In Richtung Grönland. Hauau und ich haben in einer mondbeschienenen Nacht auf See darüber gesprochen. Er kann in die Zukunft sehen. Meine eigene Zukunft war undeutlich, aber er sagte, er höre ein Flüstern in seinem Kopf, dort irgendwo warte ein Teil meines Schicksals auf mich.«

Sonnenschein fiel auf sie nieder und ließ Taunos Haar bernsteinfarben aufleuchten. Als hole ihn das in die Wirklichkeit zurück, zuckte er die Schultern und setzte hinzu: »Es ist vernünftig, auf Grönland zuzuhalten. Unterwegs können wir Nützliches erfahren, und auf Island auch.«

»Du wirst Eyjan nicht in Gefahr bringen?« bat Niels.

Tauno stieß ein hartes Lachen aus. »Es ist schwer, sie aus der Gefahr herauszuhalten.« Als er den Gesichtsausdruck des anderen bemerkte, forderte er ihn auf: »Laß uns die Sorgen nicht suchen. Genügend viele werden uns ohne unser Zutun auf den Weg gestreut. Besprechen wir lieber, wie wir uns wiedertreffen.«

Niels stürzte sich auf diese Sache, als wolle er einer anderen entfliehen. Lange wurde geredet. Es war notwendig, daß die Geschwister ihm mitteilten, wann sie eintreffen würden, und danach auf ihn warteten. Das hier war eine ungeeignete Stelle dafür. Am Ufer gab es wenig Deckung. Wenn Fischer aus Alsen, die mit ihren Booten vorüberfuhren, sie entdeckten, kam gefährliches Gerede auf. Schon Niels ging jedes Mal ein großes Risiko ein, wenn er zurückkam, um weiteres Gold zu holen. Am besten war, daß er sonst nichts Auffälliges in einer Gegend tat, wo er bekannt war – und er mußte wohl oder übel im ganzen Königreich bekannt werden.

Sie entschieden sich für die Insel Bornholm, die ziemlich weit weg in der Ostsee lag. Tauno kannte und liebte den Ort, an dem es nur wenige Siedlungen gab. Auch Niels war bei einer früheren Reise schon auf diesem Lehen des Erzbistums Lund gewesen und hatte dort einen alten Seemann kennengelernt, schrullig und vertrauenswürdig, der ein Boot in Sandvig besaß. Die Kinder des Wassermanns konnten ihn aufsuchen, sich als menschliche Ausländer ausgeben und bei ihm eine vorsichtig formulierte Botschaft hinterlassen. Gegen Bezahlung – sie hatten sich beide mit goldenen Armreifen versehen, von denen Stücke abgebrochen werden konnten – würde er schon bereit sein, nach Dänemark zu fahren, Niels aufzuspüren und ihm die Nachricht zu überbringen.

»Auf nächstes Jahr, wenn wir am Leben bleiben – aye!« sagte Tau-no. Er und sein Kamerad besiegelten es mit Handschlag.

 

Ingeborg und Hauau standen inmitten feuchter Wirbel, die eine unsichtbare Sonne in Silber verwandelte. Das Kattegat sprang an ihre Füße.

»Ich muß fort, ehe der Nebel aufreißt und uns verrät«, sagte er zu ihr. Es war ausgemacht worden, daß er die Herning ein gutes Stück hinaussteuern und dann treiben lassen sollte, damit sie bis zur Unkenntlichkeit an einer norwegischen oder schwedischen Küste zerschellte, wo sie sowieso niemand kannte. Inzwischen würde ein grauer Seehund auf Sule Skerry zuschwimmen.

Sie umarmte ihn und dachte überhaupt nicht an den Fischgeruch, der an ihrem Kleid haftenblieb. »Werde ich dich jemals wiedersehen?« fragte sie unter Tränen.

Überraschung malte sich auf den schweren Gesichtszügen, durchzitterte den mächtigen, zottigen Körper. »Ja, Mädchen, warum möchtest du denn das?«

»Weil du ... du gut bist«, stammelte sie. »Freundlich, rücksichtsvoll ... Wieviel Rücksicht gibt es denn in dieser Welt ... oder der nächsten?«

»Was für ein Narr ist dieses Halbblut«, seufzte Hauau. »Nein, Ingeborg, das Meer wird uns trennen.«

»Du könntest irgendwann zurückkommen. Wenn alles gutgeht – dann könnte ich mir eine Insel oder ein Stück Strand kaufen, um darauf zu wohnen ...«

Er umfaßte ihre Taille und sah ihr lange in die Augen. »Bist du so einsam?«

»Du bist es.«

»Und du glaubst, wir könnten zusammen ...« Er schüttelte den Kopf. »Nein, meine Freude. Du hast dein eigenes Geschick, ich habe meins.«

»Aber bis es soweit ist ...«

»Nein, habe ich gesagt.« Er verstummte. Nebelfetzen flogen vorbei, das Wasser murmelte.

Endlich erklärte er langsam, als sei jedes Wort eine Bürde: »Was ich an dir liebe, ist deine sterbliche Weiblichkeit. Aber mein Zweites Gesicht ... ich erkenne nichts deutlich, denn noch ist alles verwischt ... ganz plötzlich bekomme ich Angst vor dir. Solche Fremdartigkeit bläst der Wind aus deinem Morgen heraus.«

Er ließ sie los und trat zurück. »Vergiß mich«, brummte er, die Handflächen wie zur Verteidigung erhoben. »Ich hätte nicht sprechen sollen. Lebewohl, Ingeborg.« Er drehte sich um und schritt weg von ihr.

»Wenn ich meinen Sohn zeuge«, rief er durch einen vorbeitreibenden Nebelvorhang, »werde ich an dich denken.«

Sie hörte ihn hinauswaten. Sie hörte ihn schwimmen. Als der Nebel sich hob, war das Schiff am Horizont.

Ein richtiges Abschiednehmen konnte es nicht geben. Alle hatten, je zwei und zwei, getan, was ihnen möglich war, bevor der Anker fiel. Niels und Ingeborg blickten nach Norden, bis die letzte Spur ihrer Liebsten zwischen den Wellen verschwunden war. Der Himmel war frei; vom Westen her ließen Sonnenstrahlen das Wasser gleißen. In der Ferne hoben sich die schwarzen Schwingen eines Zugs Kormorane vorn Blau ab.

Niels schüttelte sich. »Wenn wir Alsen vor dem Dunkelwerden erreichen wollen«, sagte er, »sollten wir jetzt lieber gehen.«

Es bedeutete, daß sie diese Nacht in Ingeborgs Hütte schlafen mußten. Wenn sie während ihrer Abwesenheit niedergerissen worden war, würde Vater Knud vielleicht sein Dach mit ihnen teilen. Am Morgen mußten sie sich der irdischen Welt stellen, aber das sollte wenigstens unter Leuten beginnen, die sie kannten.

Ingeborg fiel mit ihm in den gleichen Schritt. Sand knirschte unter den Füßen. »Denke dran«, mahnte sie, »laß mich anfangs das Reden zum größten Teil übernehmen. Du bist es nicht gewohnt zu lügen.«

Er verzog das Gesicht. »Besonders dann nicht, wenn ich Menschen belügen soll, die mir vertrauen.«

»Wohingegen eine Hure treulos ist.«

So bitter klang ihre Stimme, daß er stehenblieb und ihr – steif, denn er war müde – den Kopf zuwandte. Sie blickte unverwandt nach unten auf den Weg. »Ich habe es nicht böse gemeint«, erklärte er verlegen.

»Ich weiß«, antwortete sie tonlos. »Aber hüte deine Zunge, bis du aus dem Traum, der dich immer noch in seiner Gewalt hat, erwacht und wieder bei klarem Verstand bist.«

Er errötete. »Ja, Eyjan fehlt mir. Das ist ein Verlust, der unter die

Haut geht. Aber ... oh ...«

Das machte sie weich. Sie streichelte ihm im Gehen über das Haar und meinte freundlich: »Später wirst du als der Mann von uns beiden die Führung übernehmen. Es ist nur, daß ich Männer in Hadsund kenne, von denen ich glaube, daß sie uns für ein bißchen Gold helfen werden, ohne zu viele Fragen zu stellen ... und uns etwas über Männer mit Macht erzählen können, an die wir uns als nächstes wenden. Das haben wir alles schon besprochen.

»So ist es.«

»Trotzdem müssen wir uns vergewissern, daß wir uns richtig verstanden haben, du und ich.« Ihr Lachen klang spröde. »Hat es im Feenreich je eine fremdländischere Sache gegeben als unser Vorhaben?«

Sie wanderten weiter nach Süden.