9

Der Tag brach als trübes rotes Glimmen durch die Wolken, fiel als stählerner Schein auf die Finsternis und die Kabbelwellen des Fjords. Ein scharfer Wind blies. Tauno fragte sich, ob um diesen Ort ständig der Wind heule. Er erwachte auf dem Stroh, wo man ihn hingelegt hatte, und sah Haakon als Schatten über sich aufragen. »Aufstehen!« rief der Häuptling. Im Dunkel des Hauses waren gedämpfte Männerstimmen, das Weinen von Säuglingen, das Jammern älterer Kinder zu hören.

»Wie fühlst du dich?« fragte Eyjan von der anderen Seite des Raums her. Wie er hatte sie die Nacht auf dem Fußboden verbracht, Hände und Füße gefesselt, den Hals an einen Pfosten festgebunden.

»Steif«, antwortete er. Nach ein paar Stunden Schlaf klopften seine Schläfen nicht mehr so stark wie in dem Augenblick, als er zuerst das Bewußtsein wiedererlangt hatte. Aber Blut verklebte sein Haar, Durst seinen Mund. »Und du, meine Schwester?«

Sie lachte heiser auf. »Dieser Lümmel Jonas kam vor Tagesanbruch gekrochen und wollte mich befummeln, wagte es dann aber doch nicht, mir die Beine loszubinden. Es wäre mir auch so möglich gewesen, aber es hat mir ein gewisses Vergnügen bereitet, so zu tun, als könnte ich es nicht. Soll ich weitererzählen?« Sie benutzten die Sprache ihres Vaters.

»Nur wenn du ihn über dir haben willst und wahrscheinlich die anderen auch noch. Wir sind seelenlos – sind Tiere – , die benutzt werden können, wie die Menschen es für richtig halten – weißt du das nicht mehr?«

Haakon hatte sich so ausgedrückt, als er sie binden ließ: »Nie hätte ich Hand an einen Menschen gelegt, den ich meinen Gast genannt habe, nicht einmal an einen Skraeling. Aber ihr seid keine Menschen. Bricht ein Mann sein Wort, wenn er ein Schaf schlachtet, das er aufgezogen hat? Sünde wäre es, wenn ich euch nicht zwingen würde, meine Leute zu erretten.« Er setzte hinzu: »Morgen wirst du uns im Kampf gegen den Tupilak helfen, Tauno. Eyjan bleibt als Geisel zurück. Wenn du siegst, lassen wir euch beide frei. Den Eid will ich dir auf das Kreuz leisten.«

»Können wir einem Verräter selbst dann glauben?« fuhr sie dazwischen.

Seine Mundwinkel verzogen sich nach oben. »Welche Wahl habt ihr denn?«

An diesem Morgen standen auf seinen Befehl Männer, in Hemden und Hosen gekleidet, die Waffen gezogen, im Kreis herum, während er Tauno losband. Der Sohn des Wassermanns erhob sich, lockerte seine verkrampften Glieder, ging zu Eyjan hinüber und küßte sie. Jonas trat von einem Fuß auf den anderen. »Gehen wir«, sagte der Jüngling, den Mund voll mit Käse und Schiffszwieback, »gehen wir und bringen wir die Sache hinter uns.«

Tauno schüttelte den Kopf. »Zuerst Essen und Wasser für meine Schwester und mich. Und zwar soviel, wie wir brauchen.«

Haakon runzelte die Stirn. »Es ist besser, vor dem Kampf wenig oder gar nichts zu essen.«

»Nicht für Wesen unserer Art.«

Ein braunhaariger Mann mittleren Alters, der Steinkil hieß, lachte laut auf. »Richtig. Haakon, du weißt doch, wie die Seehunde schlingen.«

Der Anführer zuckte die Schultern. Er mußte sich beherrschen, sich sein Entsetzen nicht anmerken zu lassen, als er sah, wieviel Pfund Fleisch seine Gefangenen verzehrten. Als sie fertig waren, bellte er Tauno an: »Wirst du jetzt kommen?« Dann ging er auf die Tür zu.

»Noch einen Augenblick«, sagte Tauno.

Haakon fuhr herum. »Hast du vergessen, was du hier bist?« Tauno gab ihm seinen starren Blick zurück. »Hast du vergessen, was Führerschaft ist ... sogar hier?«

Dann kniete der Liri-Prinz neben seiner Schwester nieder, nahm sie in seine Arme und murmelte in den frischen Duft ihres Haars und ihres Körpers: »Eyjan, mein Los ist das bessere. Wenn ich sterbe, wird es auf saubere Art sein. Du aber – hier sind Frauen, Kinder und alte Leute, die dich bewachen. Kannst du dir ihre Ängste zunutze machen oder sie irgendwie überlisten und ...?«

»Ich werde es versuchen«, antwortete sie. »Aber, oh, Tauno, die ganze Zeit werde ich an dich denken! Wenn wir heute nur zusammen ausziehen könnten!«

Sie sahen sich in die Augen, als sie das »Lied des Abschieds« sangen:

 

Liebende leiden, und schwer fällt das Scheiden,

Wenn sie voll Wehmut und dunkler Gedanken.

Wir aber woll'n uns nicht trennen mit Tränen.

Fröhlich, mit festem Sinn, Hoffnung im Herzen

Laß uns so lachen, wie einst wir es oft getan.

Liebster, ich leihe dir gerne mein Glück,

Doch bitt' ich dich, bringe es recht bald zurück mir.

 

Noch einmal küßte er sie, und sie ihn. Er stand auf und ging nach draußen.

Elf kräftige Männer und Burschen kamen mit. Sie konnten zwei der drei Boote bemannen, die Haakon von alters her besaß. Jonas hatte mehr Leute von den benachbarten Höfen herbeiholen wollen. »Wenn es uns mißlingt und wir sterben«, sagte er, »ist dieses Haus aller Kraft beraubt.«

Haakon verweigerte ihm den Wunsch. »Wenn es uns mißlingt, werden alle vernichtet. Eine Flotte von Booten könnte den Tupilak nicht überwinden. Das ist schon versucht worden, wie du weißt ... Drei konnten entkommen, während er die übrigen zerstörte. Diesmal liegt unsere Hoffnung hauptsächlich in dem Meermann begründet, und er ist allein. Außerdem ...« – für einen Augenblick durchbrach der Stolz seine Verzweiflung – »... bin ich Vogt des Königs für diese Grafschaft, und meine Aufgabe ist es, Leben zu schützen, nicht, es in Gefahr zu bringen. Wenn unsere kleine Zahl siegt, werden wir in den Sagas weiterleben, solange es Menschen in Grönland gibt.«

Während die Boote ins Wasser gezogen wurden, zog Tauno sich aus und badete. Er würde keine Waffen erhalten, bis der Angriff erfolgte. Die meisten der Männer fürchteten ihn beinahe ebensosehr wie das Ungeheuer. Zwar hatten sie ihn niedergeschlagen und gebunden, aber er blieb ein unheimliches Wesen, und vielleicht hätte sie ein weniger unbeugsamer Wille als der Haakons niemals dazu gebracht, sich in Taunos Gesellschaft aufs Meer zu wagen.

Schweigend nahmen sie ihre Plätze ein. Ruder knarrten in den Dollen, platschten ins Wasser, das zurück an die Planken schlug und die Boote stampfen ließ. Gischt sprühte Salz auf die Lippen. Die heimatlichen Wiesen fielen achtern zurück; der Fjord wurde breiter, dunkel und schaumgestreift erstreckte er sich zwischen den nackten Klippen. Unter den niedrigen Wolken flog eine Schar schwarzer Lummen dahin. Ihre Schreie gingen im schwermütigen Singen des Winds unter. Die Sonne war eine trübe, wärmelose Scheibe, die sich kaum über die Berge erhob. Es war, als strahlten die Schneegipfel und die Gletscher dahinter Kälte aus.

Jeder Mann hatte ein Ruder, auch Tauno. Er saß bei Haakon im Bug. Vor ihm waren Jonas und Steinkil; das letzte Paar in diesem Boot waren schmierige Zwerge, deren Namen er weder wußte noch wissen wollte. Das zweite Boot hielt sich ein paar Faden nach Steuerbord an ihrer Seite. Er legte sich mit aller Kraft in die Riemen, froh darüber, sich bewegen und aufwärmen zu können, so düster die Aussichten auch waren. Nach kurzer Zeit sagte Haakon: »Immer mit der Ruhe, Tauno. Wir kommen mit dir nicht mit.«

»Stark wie ein Bär, ha?« warf Steinkil über die Schulter zurück. »Nun, vielleicht hätte ich lieber einen Bären an Bord.«

»Verspotte ihn nicht«, legte sich Jonas unerwartet ins Mittel. »Tauno, es ... es tut mir leid. Glaube mir, daß wir unser Wort halten werden. Mein Vater ist ein Mann von Ehre. Ich versuche, einer zu sein.«

»So wie diese Nacht bei meiner Schwester?« höhnte Tauno.

Haakon ließ einen Schlag aus. »Was ist das?«

Jonas warf Tauno einen bittenden Blick zu. Dieser dachte schnell nach und meinte: »Oh, das hat doch jeder gemerkt, wie er nach ihr verlangte.« Er empfand keinen echten Zorn über die versuchte Vergewaltigung. Solche Dinge bedeuteten ihm und Eyjan wenig; wenn sie weniger Partner gehabt hatte als er Partnerinnen, dann lag es nur daran, daß sie zwei Jahre jünger war. Sie kannte den kleinen Zauber, der eine Empfängnis verhütete, wenn es nicht ihr Wunsch war. Er selbst hätte zu gern mit Jonas' Schwester Bengta geschlafen, sollte sich ihm diese unwahrscheinliche Gelegenheit bieten – und das Begehren hatte ihn um so stärker gepackt, als er und seine eigene Schwester immer mehr Mühe hatten, sich auf ihrer langen Reise einander zu versagen, ihrer Mutter wegen, der so etwas ein Greuel gewesen war ... Außerdem konnte es ihnen nichts schaden, wenn der Junge so erbarmungswürdig dankbar dreinblickte wie eben jetzt.

»Eine Todsünde«, schimpfte Haakon. »Reiß dir diesen Wunsch aus dem Herzen, mein Sohn. Beichte und – bitte Sira Sigurd, dir eine richtige Buße aufzuerlegen.«

»Halte es ihm nicht vor«, drängte Steinkil. »Sie ist der schönste Anblick, den ich je gehabt habe, und herausfordernd gekleidet.«

»Ein Gefäß der Hölle.« Haakons Worte kamen abgehackt heraus. »Hütet euch, hütet euch. In unserer Einsamkeit verlieren wir den Glauben. Es graut mir, daran zu denken, wo unsere Nachkommen enden werden, falls wir nicht ... Wenn wir mit dem Tupilak fertig sind – wenn wir das geschafft haben, so ... dann will ich meine Tochter suchen ... Warum hat sie es getan?« Er schrie beinahe. »Ihren Gott zu verleugnen ... ihr Blut, ihr Volk ... aye, ein Haus um sie, gewebte Kleider an ihrem Körper, Essen und Trinken und Werkzeuge und Sitten des weißen Mannes, alles, für das wir generationenlang gekämpft haben, um es behalten zu können ... die Hure eines Wilden zu spielen, der sie vergewaltigt hat, in einer Schneehütte zu hocken und rohes Fleisch zu verschlingen ... Welche Macht des Satans konnte sie dazu bewegen?«

Er merkte, daß sie von dem anderen Boot zu ihm herüberstarrten, kniff die Lippen zusammen und ruderte.

Sie waren eine Stunde unterwegs gewesen und hörten schon den Donner der Brandung, wo die offene See auf das Vorland traf, als ihr Feind sie fand.

Ein Mann in dem zweiten Boot heulte auf. Tauno sah Schaum am einen riesigen braunen Rumpf. Er rammte das andere Boot, das sich aufbäumte und einen Sprung tat. »Stoßt ihn weg!« brüllte Haakon. »Benutzt eure Speere! Rudert, ihr Memmen! Bringt uns dort hinüber!«

Er und Tauno zogen die Ruder ein und stellten sich geduckt hin. Der Sohn des Wassermanns faßte nach unten, zog aus der Bilge einen Gürtel, an dem, wie er verlangt hatte, drei Messer in Scheiden hingen, und band ihn um. Doch über Bord ging er noch nicht. Er sah sich das Ding an, dem sie sich näherten. Sein Sehvermögen war diamantscharf geworden, seine Ohren bereit, jedes Spritzen und Stoßen und Fluchen und Beten aufzunehmen, seine Nasenlöcher sogen tief den Wind ein, der seine Lungen füllen und sein klopfendes Herz beruhigen sollte. Sein Wille schmolz dahin vor dem, was er sah, bis Eyjans Bild ihm neuen Mut verlieh.

Der Tupilak hatte einen Ruderschwanz angehakt, auf dem an einem Querholz Bärenklauen befestigt waren. Sein Gewicht war geringer als das eines lebenden Tiers, aber das Boot lag immer noch schräg, so daß die Männer Mühe hatten, auf den Füßen und an Bord zu bleiben. Zwei Speere steckten in dem zerknitterten Fell, die grotesk hin und her schwankten, und dazu die abgebrochenen Hälften von zwei weiteren aus früheren Kämpfen. Kein Blut rann aus den Wunden. Am Ende eines langen, peitschenden Halses befand sich der Kopf eines Hais mit aufgerissenem Maul und glasig starrenden Augen. Ein Ruck des Ungeheuers, das Boot schaukelte, ein Mann fiel vor die Kiefer, sie bissen zu. Jetzt spritzte Blut, und Gedärm trieb im Wasser. Der Wind blies den Dampf ihrer Wärme fort.

Ein Ruderer achtern in Haakons Boot jammerte vor Entsetzen. Steinkil beugte sich vor, ohrfeigte ihn und kehrte dann unbewegt an sein Ruder zurück. Sie kamen von hinten heran. Haakon spreizte die Beine weit und schlug mit einer Hacke zu. Tauno wußte, daß er die Walroßhaut aufreißen wollte, um die Innereien aus Heu und verwesten Leichen herauszulassen ...

Die Flossen eines Mörderwals peitschten aus dem brodelnden Wasser auf den Bug hinab. Holz splitterte. Haakon taumelte. Tauno tauchte.

Er brauchte den Bruchteil einer Minute, um seine Lungen zu leeren, das Wasser hereinzulassen und seinen Körper auf Unterwasseratmung umzustellen. Die eisig grünen Strudel rings um ihn trübten und verkürzten die Sicht ... er sah aufgewühltes Chaos über und vor sich ... Kampflärm krachte Schlag auf Schlag gegen seine Trommelfelle. Die Fluten waren vergiftet von dem Geschmack nach Eisen und nach Menschenblut. Der Tote sank an ihm vorbei, drehte sich langsam auf seinem Weg zu den Aalen.

»Wir werden das Ding beschäftigt halten, so lange wir können, während du von unten angreifst«, hatte Haakon gesagt. »Es wird nur eine kurze Frist sein.«

Tauno, nun bereit, nahm eine Klinge zwischen die Zähne und schnellte sich nach vorn. Im Angriff verlor er sowohl seine Furcht als auch sein Selbst. Es gab keinen Tauno, keinen Tupilak, keine Schar von Männern mehr; es gab nur noch die Schlacht.

Die Boote waren Schatten auf der splitternden hellen Decke seiner grünen Welt, die zerbrachen und sich neu bildeten. Deutlicher war der Tupilak, die Ausbuchtung seines Bauchs ... Tauno sah, daß er mit Lederriemen zusammengenäht war, er nahm einen Geruch von Moder und faulendem Fleisch wahr. Klauen ragten hinten aus dem Ruderschwanz. Tauno schoß an ihm vorbei.

Das Messer war jetzt in seiner Hand. Seine Beine beförderten ihn vorwärts, während er schnitt. Ein langer Riß in der Naht folgte der Klinge. Tauno stieß sich außer Reichweite eines Fußes, der nach ihm trat.

Als er sich, begleitet von einem Strom Luftblasen, in einem Bogen herumschwang, sah er Knochen von Seeleuten herausfallen. Der verstandeslose Tupilak wütete gegen die Norweger. Tauno warf einen kurzen Blick auf den peitschenden Schwanz. Der Lärm schüttelte ihn.

Wieder schwamm er nahe heran – halte den Unterwasseratem an gegen den Grabesgestank, schneide die Naht weiter auf, fasse die Ecke, reiße die Haut weit zurück – , ein Hieb traf ihn über die Rippen, er verlor sein Messer, seine Beine konnten ihn gerade noch davonstoßen.

Das Ungeheuer schrie. Die Haifischschnauze fuhr suchend hin und her. Flossen und Schwanz schickten den riesigen Rumpf auf Tauno zu. Ihm schoß der Gedanke durch den Kopf, daß Inuit bei einem solchen Kampf klug genug gewesen wären, dem Tupilak viele Harpunen mit nachschleppenden Luftblasen in den Körper zu stoßen und ihn so zu behindern. Nun, wenigstens war der Menschenfresser langsam und unbeholfen. Tauno konnte in Kreisen um ihn herumschwimmen. Doch nahe an ihn herangehen, das war ... etwas, das getan werden mußte.

Das Fell löste sich flappend von dem Rahmenwerk, das – ja! – hier und da auseinanderzufallen begann. Aber die Füße und der Schwanz bewegten sich immer noch, die Kiefer schnappten noch. Tauno setzte sich auf den Rücken, wo nichts ihn erreichen konnte. Er klammerte sich mit den Schenkeln fest, ungeachtet der Seepocken, die seine Haut aufrissen. Er zog ein zweites Messer und machte sich an die Arbeit.

Rings um den gewaltigen Rumpf konnte er nicht greifen. Aber als er losließ, schlug der halb abgetrennte Schwanz nur noch schwach. Wie dunkle Fetzen zog Schwindel an Taunos Augen vorüber. Er mußte sich zu einer kurzen Ruhepause zurückziehen.

Besaß der Tupilak ein dumpfes Wissen, oder wurde er getrieben, den Fluch zu erfüllen? Er wälzte sich wieder auf die Boote zu.

Wenn das Ungeheuer die Boote versenkte, ob es ihren Untergang überdauerte oder nicht, würde dann Eyjan jemals freigelassen werden? Tauno hörte, wie die schwere Masse sich gegen die Planken warf, und erhob sich, um es sich über Wasser anzusehen.

Das zweite Boot trieb vollgeschlagen dahin, hilflos, bis die vier Männer es ausschöpfen und ihre im Wasser liegenden Ruder von neuem ergreifen konnten. Der Tupilak schlug wieder und wieder auf Haakons Boot ein, dessen Vordersteven gebrochen war und dessen Planken sich von den Spanten lösten. Hals und Kopf des Tupilaks bogen sich auf der Suche nach Beute über den Rand. Wo war der Vogt? Sein Sohn Jonas hieb tapfer mit einer Axt zu – Steinkil, neben ihm, ebenso. Während Tauno hinsah, kam Steinkils Hand zu nahe an die Zähne. Sie schlossen sich, Blut sprudelte. Steinkil warf sich zurück, umklammerte das Handgelenk, wo seine rechte Hand gewesen war.

Haakon zeigte sich; er mußte bewußtlos im Boot gelegen haben. Gesicht und Brust waren scharlachrot verschmiert, der letzte Farbtupfer unter einem wolfsgrauen Himmel. Irgenwie entdeckte er Tauno. »Willst du Hilfe, Meermann?« rief er.

Unter einer Ruderbank holte er den Anker hervor, mit hölzernem Schaft, aber mit Ring, Stock und Flunken aus Eisen, aus alten Zeiten stammend. Festgemacht war er mit einem Lederkabel an dem, was vom Vordersteven noch übrig war. Jonas hatte sich zurückgezogen, als Steinkil verkrüppelt wurde. Die anderen beiden duckten sich hinter ihm. Haakon taumelte nach achtern. Das zahngespickte Maul gähnte weit. Er wuchtete den Anker hoch und ließ ihn fallen. Eine Flunke traf das rechte Auge und blieb in der Augenhöhle stecken.

Haakon wurde von den Kiefern gepackt. Schon zerfetzt, riß er sich los. »Männer, schwimmt!« rief er. »Tauno, töte ihn ...« Seine Stimme brach.

Der Sohn des Wassermanns hatte neue Kraft gewonnen und schoß wie ein Pfeil vorwärts. Ohne auf die Klauen zu achten, stieß er mit dem Messer zu. Aus dem Augenwinkel sah er, daß Haakons Männer in die Bucht zurückschwammen. Der Tupilak verfolgte sie nicht. Tauno verletzte ihn zu schwer.

Das Ungeheuer tauchte, als Tauno es tat, und versuchte, ihn zu ergreifen. Aber er mußte ein Grönlandboot mit sich schleppen und konnte sich kaum besser bewegen, als wenn das Meer ringsum gefroren gewesen wäre.

Taunos Messer bissen. Jedes Stück, das er losschnitt, kehrte in das Reich des Todes zurück, aus dem der Angakok es heraufbeschworen hatte.

Schließlich trieb eine leere Hülle auf dem Wasser, und ein Haikopf sank nach unten in die Finsternis. Die Wellen reinigten sich selbst. Als Tauno, jetzt Luft atmend, das zweite Boot erreichte, fühlte er den Wind auf seiner Stirn wie einen herben Segen.

Obwohl das Fahrzeug wieder in einen benutzbaren Zustand versetzt worden war, konnte er nicht an Bord gehen. Für einen so gesplitterten und gesprungenen Rumpf war es mit neun Männern schon überladen – neun, denn mit Hilfe von treibenden Planken waren sowohl Haakon als auch Steinkil hinübergebracht worden. Tauno hielt sich am Rand fest. Die noch Unverletzten starrten ihn benommen an, zu nichts anderem mehr fähig als Entsetzen. Steinkils verbundener Stumpf sah aus, als werde der Mann am Leben bleiben. Auf Haakon traf das nicht zu. Vom Brustbein bis zum Schritt war er aufgerissen. Sein langer Körper lag in Blut und Eingeweiden zwischen zwei Ruderbänken.

Doch er hielt sich mit aller Willenskraft bei Bewußtsein. Seine und Taunos Augen trafen sich, verdämmerndes Blau mit heißem Bernstein. Der Liri-Prinz konnte eben noch ein heiseres Flüstern verstehen: »Meermann, ich danke dir ... ehre meinen Eid, Jonas ... Meermann, vergib mir meine Lüge über dein Volk.«

»Du mußtest an das deine denken«, antwortete Tauno tröstend.

»Und meine Tochter ... Sie wird mit dir reden ... Ich habe kein Recht, darum zu bitten ... aber wirst du sie suchen und ...« Haakon rang nach Atem. »Bitte sie – aber wenn sie nicht will, sag ihr, daß ... ich meine Bengta niemals verstoßen habe ... und im Fegefeuer werde Ich für sie beten ...«

»Ja«, sagte Tauno, »Eyjan und ich werden das tun.«

Haakon lächelte. »Vielleicht habt ihr doch Seelen, ihr Seevolk.« Bald danach starb er.