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Ingeborg Hjalmarstochter war eine Bewohnerin von Alsen und etwa dreißig Winter alt. Sie war früh Waise geworden und mit dem ersten jüngeren Sohn verheiratet worden, der sie hatte haben wollen. Als er mit dem Schiff, auf dem er arbeitete, unterging, machte kein anderer Mann ihr einen Antrag, denn sie hatte sich als unfruchtbar erwiesen, und er hatte ihr nichts hinterlassen. Die Gemeinde sorgte für ihre Armen, indem sie sie jeweils für ein Jahr an jeden vermietete, der sie nahm. Diese Haushaltsvorstände wußten gut, wie sie den Wert ihres Geldes in Form von Arbeitsleistung herausholen konnten, ohne ungebührlich viel Geld für das Essen oder die Kleidung ihrer Schutzbefohlenen auszugeben. Ingeborg fand jedoch einen anderen Weg, indem sie den Roten Jens dazu überredete, sie auf den Heringsfang mitzunehmen. Sie verkaufte zwischen den Buden am Strand, was sie anzubieten hatte, und kehrte mit ein paar Schillingen zurück. Danach machte sie die Fahrt jedes Jahr mit. Ansonsten blieb sie zu Hause, ausgenommen die Markttage, an denen sie auf der Waldstraße nach Hadsund wanderte.
Vater Knud bat sie inständig, ihren Lebenswandel zu bessern. »Könnt Ihr für mich eine bessere Arbeit als diese finden?« sagte sie lachend. Er konnte nicht umhin, sie von der Kommunion auszuschließen, wenn auch nicht gleich von der Messe, und zu dieser kam sie selten. Der Grund war, daß die Frauen ihr auf der Straße nachzischten und vielleicht auch einen Fischkopf oder einen Knochen nach ihr warfen. Mit den Männern war im großen und ganzen besser auszukommen, aber auch sie stimmten zu – und wenn es nur der Zungen ihrer Ehefrauen wegen war – , man dürfe ihr nicht erlauben, unter ihnen zu wohnen.
Sie bezog eine einfache Hütte am Strand, etwa eine halbe Meile nördlich von Alsen. Die meisten der unverheirateten jungen Männer kamen zu ihr und die Mannschaften der Schiffe, die vor Anker lagen, gelegentlich ein wandernder Händler und nach dem Dunkelwerden Ehemänner. Hatten sie keine Kupfermünzen, nahm sie alle Art von Bezahlung an, wodurch sie den Namen Stockfisch-Ingeborg erhielt. Dazwischen war sie allein, und oft wanderte sie weit am Strand entlang oder durch die Wälder. Sie fürchtete sich nicht vor Räubern – töten würden sie sie wahrscheinlich nicht, und was kam es auf das andere an? – und nur wenig vor Trollen.
An einem Winterabend vor fünf Jahren, als Tauno gerade begann, das Land zu erkunden, klopfte er an ihre Tür. Als sie ihn eingelassen hatte, erklärte er, wer er sei. Er hatte die Hütte aus der Ferne beobachtet, hatte Männer verstohlen hineingehen und stolzgeschwellt herauskommen sehen. Er versuche, so sagte er, etwas über die Bräuche des für ihn verlorenen Volks seiner Mutter in Erfahrung zu bringen; wollte sie ihm sagen, was es damit auf sich hatte? Es endete damit, daß er die Nacht mit ihr verbrachte. Seitdem war er viele Male bei ihr gewesen. Sie war anders als die Meermädchen, im Herzen wie im Fleisch irgendwie wärmer. Ihr Gewerbe bedeutete ihm nichts, denn seine Gefährten Im Meer wußten von der Ehe ebensowenig wie von den anderen Sakramenten. Er konnte viel von ihr lernen und ihr viel erzählen, wenn sie Lippe an Lippe unter der Bettdecke lagen. Ihrer Freundlichkeit, ihrer Zähigkeit und ihres trockenen Humors wegen hatte er sie gern.
Sie ihrerseits ließ sich von ihm keine Bezahlung geben, und sie nahm nur wenige Geschenke an. »Von den meisten Männern denke ich nichts Schlechtes«, sagte sie. »Von einigen schon, wie von dem grausamen allen Geizhals Kristoffer, in dessen Hände ich gefallen wäre, hätte ich nicht diesen Weg gewählt. Ich kriege eine Gänsehaut, wenn er grinsend angeschlichen kommt.« Sie spuckte auf den Lehmfußboden, dann seufzte sie. »Aber er hat Geld ... Nein, die meisten sind nicht schlecht, diese Männer mit den struppigen Bärten, und manchmal schenkt ein janger Bursche mir Freude.« Sie zauste sein Haar. »Du gibst mir mehr, ganz gewiß, Tauno. Verstehst du nicht, daß es darum ganz verkehrt wäre, wolltest du mich bezahlen?«
»Nein, das verstehe ich nicht«, antwortete er aufrichtig. »Ich besitze Dinge, die die Menschen, wie du mir erzählt hast, für wertvoll halten, Bernstein, Perlen, Goldstücke. Wenn sie dir helfen könnten, warum sollst du sie nicht bekommen?«
»Nun, ein Grund unter anderen ist«, erwiderte sie, »daß die Nachricht bis zu den Herren rund um Hadsund dringen würde, Stockfisch-Ingeborg handele mit solcher Ware. Sie würden wissen wollen, wie ich sie erhalten habe. Ich will nicht, daß mein letzter Mann eine Kapuze trägt«, womit sie den Henker meinte. Sie küßte ihn. »Sagen wir doch, deine Geschichten von dem Wunderland unter Wasser bedeuten mir mehr, als alle mit Händen zu greifenden Dinge, die Reichtum kaufen kann.«
Sie machte mehrmals Andeutungen, daß sie sich danach sehne, wie die schöne Agnete mitgenommen zu werden. Er war taub dafür, und sie gab es auf. Warum sollte er sich auch eine unfruchtbare Last aufhalsen wollen?
Als Profos Magnus das Seevolk exorzisierte, ließ Ingeborg eine Woche lang keinen Menschen bei sich ein. Ihre Augen waren noch lange Zeit nachher rot.
Doch dann stand Tauno wieder vor ihrer Tür. Er kam aus dem Wasser, nackt bis auf das Stirnband, das seine Locken bändigte, und einen scharfen Feuerstein-Dolch an einem Gürtel um die Hüften. In der Rechten hielt er einen Speer mit Widerhaken. Es war ein kalter Abend, Nebel stieg auf, bis man das Schwappen der kleinen Wellen nicht mehr hören und die Sterne nicht mehr sehen konnte. Ein Geruch nach Tang, Fisch und, vom Inland her, nach feuchter Erde hing in der Luft. Der Sand knirschte unter seinen Füßen, das Dünengras zerkratzte seine Knöchel.
Zwei junge Fischer näherten sich der Hütte. Sie hatten ein brennendes Holzstück bei sich, mit dem sie sich leuchteten. Tauno konnte in der Dunkelheit weiter sehen als sie. Auch wenn sie die gleichen Mützen, Röcke und Hosen trugen wie alle Fischer, erkannte er sie. Er trat ihnen in den Weg. »Nein«, sagte er, »heute nacht nicht.«
»Ja, aber, Tauno«, meinte der eine mit dümmlichem Grinsen, »du willst doch wohl nicht deine Freunde um ein bißchen Spaß oder Ingeborg um diese schöne große Flunder bringen? Wir werden nicht lange bleiben, wenn du es so eilig hast.«
»Geht nach Hause. Bleibt dort.«
»Tauno, du kennst mich, wir haben uns unterhalten, Ball miteinander gespielt, du bist an Bord gekommen, als ich mit dem Ruderboot allein draußen war, ich bin Stig ...«
»Muß ich dich töten?« fragte Tauno, ohne die Stimme zu erheben. Sie sahen ihn an im trüben Flackern des Holzes. Hoch ragte er über sie auf, muskelstrotzend, bewaffnet, das Haar so naß wie das einer Wasserleiche und mit einem leichten Grünton im Blond, das Seevolk-Gesicht und die gelben Augen so kalt wie Nordlichter. Sie drehten sich um und gingen eilends zurück. Durch den Nebel hallte Stigs Stimme: »Sie hatten recht, du bist wirklich seelenlos, du verdammtes Ding ...«
Tauno schlug gegen die Tür der Hütte. Es war eine sackende, grau verwitterte Bretterbude mit Torfdach, ohne Fenster, obwohl der Feuerschein nach draußen und die Luft nach drinnen drang, wo das Moos, mit dem die Ritzen gestopft waren, ausdörrte. Ingeborg öffnete, ließ Ihn ein und schloß die Tür wieder. Neben einer Tranlampe hatte sie ein niedriges Feuer brennen. Ungeheuerliche Schatten krochen über die doppelt breite Schlafplattform, Schemel und Tisch, die wenigen Koch-und Nähgeräte, die Kleidertruhe, Wurst und Stockfisch, die von den Dachbalken hingen, und die Stangen über den Dachbalken, auf denen ein Vorrat an Schiffszwieback aufgespießt war. In einer Nacht wie dieser erhob sich der Rauch kaum vom Herdstein bis zum Loch im Dach.
Taunos Lungen brannten immer eine Minute lang, wenn er an Land gekommen war und sie mit einem einzigen Ausatmen, wie das Seevolk es zu tun pflegte, geleert hatte. Die Luft war so dünn, so trocken (und et kam sich halb taub vor, weil er alle Geräusche nur noch gedämpft hörte, obwohl er bestimmt besser sah). Der Gestank hier war schlimmer. Er mußte husten, ehe er sprechen konnte.
Ingeborg hielt ihn wortlos umschlungen. Sie war klein und voll, hatte eine Stupsnase, Sommersprossen und einen großzügigen, weichen Mund. Ihre Haare und Augen waren dunkelbraun, ihre Stimme hoch, aber süß. Es hat schon Prinzessinnen gegeben, die von der Natur weniger gut bedacht waren als Stockfisch-Ingeborg. Tauno mochte den Geruch nach altem Schweiß in ihren Kleidern ebensowenig, wie er alle üblen Gerüche der Menschheit mochte, aber darunter nahm er einen sonnigen Duft nach Frau wahr.
»Ich habe gehofft ...« flüsterte sie endlich. »Ich habe gehofft ...« Er löste ihre Arme, trat zurück und wog finsteren Gesichts den Speer in der Hand. »Wo ist meine Schwester?« fragte er kurz.
»Oh, Ihr geht es ... gut, Tauno. Niemand wird ihr etwas zuleide tun. Niemand würde es wagen.« Ingeborg versuchte, ihn von der Tür wegzuziehen. »Komm, mein unglücklicher Liebster, setze dich, trink einen Schluck, mach es dir gemütlich bei mir.«
»Erst haben sie ihr alles genommen, was ihr Leben ausmachte ...«
Tauno unterbrach sich, weil er von neuem husten mußte. Ingeborg ergriff das Wort. »Es mußte sein. Christliche Leute konnten sie nicht ungetauft unter sich leben lassen. Du kannst ihnen keinen Vorwurf machen, nicht einmal den Priestern. Eine höhere Macht als ihre ist hier am Werke gewesen.« Sie zuckte die Schultern und lächelte, wie er oft gesehen hatte, mit einem Mundwinkel. »Für den Preis ihrer Vergangenheit und daß sie alt und häßlich werden und in weniger als hundert Jahren tot sein wird, gewinnt sie die Ewigkeit im Paradies. Du magst lange Zeit leben, aber wenn du stirbst, ist es aus mit dir wie mit einer ausgeblasenen Kerzenflamme. Ich selbst werde meinen Körper ebenfalls überleben, aber wahrscheinlich in der Hölle. Wer von uns dreien ist am glücklichsten?«
Immer noch voller Zorn, aber ein wenig ruhiger geworden, lehnt Tauno seine Waffe an die Wand und setzte sich auf die Schlafplattform. Der Strohsack raschelte unter ihm. Das Torffeuer prasselte und ließ blaue und gelbe Flämmchen tanzen. Sein Rauch wäre, wenn weniger dick, angenehm gewesen. Schatten duckten sich in den Ecken und unter dem Dach und kamen hervorgesprungen, Mißgestalten auf den Bretterwänden. Die Kälte und Feuchtigkeit machten ihm nichts aus, obwohl er unbekleidet war. Ingeborg, die inmitten des Raums stehengeblieben war, erschauerte.
Er spähte durch die Dunkelheit zu ihr hinüber. »Soviel weiß ich«, sagte er. »Im Dorf ist ein junger Bursche, von dem sie hoffen, sie könnten einen Priester aus ihm machen. Er erzählte meiner Schwester Eyjan davon, als sie ihn allein antraf.« Sein Lachen rasselte. »Sie sagt, es sei nicht unangenehm, bei ihm zu liegen, abgesehen davon, daß er von frischer Luft Niesanfälle bekommt.« Sofort wurde er wieder ernst. »Das ist nun einmal die Art, wie die Welt schwimmt, und wir können nichts tun, als uns aus dem Weg zu halten. Und trotzdem ... gestern abend machten Kennin und ich uns auf die Suche nach Yria, weil wir uns überzeugen wollten, daß sie nicht mißhandelt wird. Puh, der Dreck und Schmutz in den Gräben, die ihr Straßen nennt! Hinauf und hinunter gingen wir, zu jedem Haus, ja sogar zur Kirche und zum Friedhof. Wir hatten sie von fern nicht erblicken können, weißt du, tagelang schon nicht mehr. Und wir hätten es gewußt, wenn sie im Inneren von etwas gewesen wäre, ob in einer Hütte oder einem Sarg. Sie mag jetzt sterblich sein, unsere kleine Yria, aber ihr Körper ist immer noch zur Hälfte der ihres Vaters, und in jener letzten Nacht am Strand merkten wir nichts davon, daß er seinen Geruch wie vom Tageslicht beschienene Wellen verloren habe.« Er schlug mit der Faust aufs Knie. »Kennin und Eyjan waren außer sich. Sie wollten ins Dorf stürmen und ihre Fragen mit vorgehaltener Harpune stellen. Ich sagte ihnen, wir würden nur unser eigenes Leben aufs Spiel setzen, und wie könnten lote Yria helfen? Doch hart war es, bis zum Sonnenuntergang zu warten, wo du, Ingeborg, hier sein würdest, wie ich wußte.«
Sie setzte sich neben ihn, einen Arm um seine Mitte, eine Hand auf reinen Schenkel, die Wange an seine Schulter gelegt. »Ich weiß, wo sie ist«, sagte sie ganz leise.
Er blieb steif ablehnend. »Nun? Was ist also geschehen?«
»Der Profos hat sie mit sich in die Stadt Viborg genommen – Warte doch! Er hat ja nichts Böses mit ihr vor. Wie könnten sie es wagen, einem Gefäß der göttlichen Gnade etwas anzutun?« Ingeborg sprach ho Ton eines Menschen, der eine Tatsache berichtet, und danach höhnte sie: »Du bist vor die richtige Schmiede gekommen, Tauno. Der Profos hatte einen Schreiber bei sich, und der war hier, und ich fragte Ihn, ob sie schon einen Plan hätten, wie sie unser Wunder füttern wollten. Die Leute in Alsen sind nicht unfreundlich, sagte ich zu ihm, aber seich sind sie auch nicht. Sie hat kein Garn aus der Unterwasserwelt mehr, das sie zu ihrem Vergnügen spinnen kann. Wer will ein Mädchen haben, das wie ein Kind alles von neuem lernen muß? Wer nimmt eine Pflegetochter an, für deren Mitgift er aufzukommen hat? Oh, es würde sich schon etwas finden – die niedrige Arbeit, die die Armen tun müssen, eine Heirat mit einem Matrosen auf einem kleinen Fischerboot oder das Leben, das ich für mich erwählt habe – aber wäre das das richtige für ein Wunder? Der Kleriker antwortete mir: »Nein, so etwas sei auch gar nicht beabsichtigt. Sie würden sie mit sich nehmen und sie in das Asmild-Kloster in der Nähe von Viborg stecken.«
»Was ist das?« wollte Tauno wissen.
Ingeborg tat ihr Bestes, es ihm zu erklären. Sie schloß: »Sie werden Margrete ein Dach über dem Kopf geben und sie unterrichten. Wenn Nie das richtige Alter erreicht hat, wird sie die Gelübde ablegen. Dann wird sie dort in Reinheit und zweifellos weit und breit verehrt leben, bis sie stirbt, was bestimmt im Geruch der Heiligkeit erfolgen wird. Das heißt, wenn man glaubt, daß der Leichnam einer Heiligen nicht stinken wird wie deiner und meiner.«
»Das ist ja grauenhaft!« rief Tauno entsetzt aus.
»Wieso? Viele würden es ein unerhörtes Glück nennen.« Er durchbohrte sie mit seinen Blicken. »Du auch?«
»Hm ... nein.«
»Bis an ihr Lebensende zwischen Mauern eingeschlossen, geschoren, schwer gekleidet, schlecht ernährt, so soll sie Gebete näseln und dabei das verwelken lassen, was Gott ihr zwischen die Beine gelegt hat. Sie: wird niemals die Liebe kennenlernen, niemals Kinder um sich haben, kein Heim und keine Familie wachsen sehen, nicht einmal im Frühling unter blühenden Apfelbäumen spazierengehen dürfen ...«
»Tauno, das ist der Weg zur ewigen Seligkeit.«
»Da möchte ich meine Seligkeit schon lieber jetzt haben. Soll danach das Dunkel kommen. Und im Grunde deines Herzens willst du das gleiche, auch wenn du einmal behauptest hast, du hättest die Absicht, auf dem Totenbett zu bereuen. Euer christlicher Himmel scheint mir ein zu schäbiger Ort zu sein, als daß ich darin für immer leben möchte.
»Vielleicht denkt Margrete anders darüber.«
»Mar ... ach ja. Yria.« Er brütete eine Weile, das Kinn auf die Faust gestützt, die Lippen fest geschlossen. Sein Atem ging laut in der verqualmten Luft. »Wenn es das ist, was sie in Wahrheit möchte«, meinte er schließlich, »so soll es geschehen. Aber wie können wir es wissen? Wie kann sie es wissen? Wird man ihr eine Vorstellung davon lassen, daß die Welt außerhalb ihres düsteren Klosters wirklich und schön ist? Ich will nicht, daß meine kleine Schwester betrogen wird, Ingeborg.«
»Du hast sie an Land geschickt, weil du sie nicht von den Aalen gefressen sehen wolltest. Welche Wahl hast du nun noch?«
»Keine?«
Die Verzweiflung des Mannes, der immer so stark gewesen war, schnitt ihr wie ein Messer ins Herz. »Mein Lieber, mein Lieber.« Sie drückte ihn an sich. Aber statt in Tränen auszubrechen, besann sie sich auf die alte Hartköpfigkeit des Fischervolks.
»Es gibt ein Ding, das unter den Menschen jeden Weg – außer dem zum Himmel – öffnet, und den braucht es nicht unbedingt zu versperren«, sagt sie. »Das ist das Geld.«
Ihm entfuhr ein Wort in der Sprache des Seevolks. »Sprich weiter!« befahl er auf dänisch und umklammerte schmerzhaft ihren Arm.
»Um es mit dem einfachsten Wort zu sagen: Gold.« Ingeborg versuchte, sich loszumachen. »Oder alles, was für Gold eingetauscht werden kann, obwohl das Metall selbst am besten ist. Siehst du, wenn sie', Vermögen hätte, könnte sie leben, wo sie wollte – wäre es groß genug, am Hofe des Königs oder in einem anderen Land, das reicher als Dänemark ist. Zu ihrem Befehl stünden Diener, Bewaffnete, Lagerhäuser, reiche Äcker. Sie könnte unter ihren Bewerbern wählen. Dann, wenn es ihr Wunsch wäre, dies alles zu verlassen und zu den Nonnen zurückzukehren, hätte sie freie Wahl.«
»Mein Volk hatte Gold! Wir können es aus den Ruinen ausgraben!« »Wieviel?«
Sie sprachen noch lange Zeit darüber. Die Meerleute hatten nie daran gedacht, etwas zu bewerten, das ihnen nichts als ein Metall war, für die meisten Zwecke zu weich, wenn es auch hübsch anzusehen sein mochte und nicht rostete.
Schließlich schüttelte Ingeborg den Kopf. »Zu wenig, fürchte ich«, seufzte sie. »Im normalen Verlauf der Dinge wäre es viel. Das hier ist etwas anderes. Das Asmild-Kloster und die Kathedrale von Viborg haben in Margrete ein lebendes Wunder. Sie wird Pilger von überallher anziehen. Die Kirche ist ihr gesetzlicher Vormund und wird sie für deine paar Becher und Teller nicht gehen lassen, damit sie eine Familie gründen kann.«
»Wieviel wäre dann nötig?«
»Eine überwältigende Summe. Tausende von Mark. Siehst du, einige müssen bestochen werden. Andere, die nicht käuflich sind, muß man mit großen Geschenken an die Kirche gewinnen. Und dann muß noch genug übrigbleiben, daß Margrete reich ist ... Tausende von Mark.«
»Welches Gewicht?« brüllte Tauno und hing den Fluch eines Wassermannes daran.
»Wie soll ich das denn wissen, ich, die Waise und Witwe armer Fischer, die nie auch nur eine Mark in der Hand gehabt haben? ... Ein Schiff voll? Ja, ich glaube, ein Schiff voll würde genügen.«
»Ein Schiff voll?« Tauno sank zurück. »Und wir haben nicht einmal ein Schiff.«
Ingeborg lächelte traurig und strich mit den Fingern über seinen Arm. »Kein Mann gewinnt jedes Spiel«, murmelte sie. »Du hast getan, was du konntest. Laß deine Schwester sechzig Jahre damit verbringen, Ihr Fleisch zu verleugnen, und danach die Ewigkeit mit der Entfaltung Ihrer Seele. Vielleicht erinnert sie sich an uns, wenn du zu Staub geworden bist und ich brenne.«
Tauno schüttelte den Kopf. Er kniff die Augen zusammen. »Nein ... Sie ist mit mir vom gleichen Blut ... das ist kein ruhiges Blut ... Sie ist scheu und sanft, aber sie wurde für die Freiheit der weiten Weltmeere geboren ... Wenn die Heiligkeit in ihr bei einem Leben unter alten Jungfern mit Haaren am Kinn sauer wird, welche Aussichten hat sie dann auf den Himmel?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß es wirklich nicht.”
»Also wenigstens eine freie Wahl, ohne Zwang. Um sie zu erkaufe eine Schiffsladung Gold. Elende zwei Tonnen, um Yrias Wohlergeh zu erkaufen.«
»Tonnen! Als soviel habe ich es mir nicht vorgestellt – bestimmt genügt weniger. Ein paar hundert Pfund sollten reichlich sein.« Ingeborg wurde ganz aufgeregt. »Meinst du, du könntest soviel finden?«
»Hm ... warte. Warte. Ich muß mein Gedächtnis durchforschen ... Tauno setzte sich bolzengerade auf. »Ja!« rief er. »Ich weiß es!«
»Wo? Wie?«
Mit der Quecksilbrigkeit des Feenreichs begann er, Pläne zu entwerfen. »Vor langer Zeit stand auf einer Insel mitten im Ozean eine Stadt der Menschen«, berichtete er. Er sprach nicht laut, und er erschauerte während er in die Schatten starrte. »Groß war sie und vollgestopft m Reichtum. Ihr Gott war ein Krake. Sie warfen ihm wertvolle Opfergaben hinab – Schätze, um die er nichts gab, aber dazu auch Kühe, Pferde, verurteilte Übeltäter, und die konnte der Krake fressen. Er braucht sich selbst nichts weiter zu fangen als hin und wieder einen Wal – oder ein Schiff, dessen Mannschaft er verschlang, und im Laufe der Jahr hunderte hatten er und seine Priester die Zeichen zu verstehen gelernt die ihnen verrieten, daß bestimmte Schiffe auf Averorn unerwünscht waren ... Der Krake wurde dadurch träge und ließ sich über mehrere Menschengenerationen nicht sehen. Es war auch nicht notwendig, denn Außenseiter wagten es nicht mehr, die Stadt anzugreifen.
Mit der Zeit zweifelten die Inselbewohner selbst daran, ob er mehr war als nur eine Fabel. Inzwischen hatte sich auf dem Festland ein neu es Volk erhoben. Dessen Händler kamen, und sie führten nicht nur Ware mit sich, sondern auch Götter, die keine teuren Opfer forderten. Die Leute von Averorn strömten diesen neuen Göttern zu. Der Tempe des Kraken stand leer, seine Feuer brannten aus, die Priester starben und wurden nicht wieder ersetzt. Schließlich befahl der König der Stadt, die Rituale nicht länger fortzuführen, durch die er seine Nahrung gefunden hatte.
Nach einem Jahr erhob sich der Krake, fürchterlich in seinem Hunger, vorn Meeresgrund, und er versenkte die Schiffe im Hafen, und mit seinen Armen langte er ins Inland, wo er Türme umwarf und Beute ergriff. Wahrscheinlich hatte er auch Gewalt über Erdbeben und Vulkane – denn die Insel wurde überflutet und ging unter und ist heute von der ganzen Menschheit vergessen.«
»Wunderbar!« Ingeborg klatschte in die Hände. Im Augenblick dachte sie nicht an all die kleinen Kinder, die mit der Stadt untergegangen waren. »Oh, das freut mich!«
»So wundervoll ist es nicht«, widersprach Tauno ihr. »Das Seevolk erinnert sich an Averorn, weil der Krake dort noch immer sein Lager hat. Sie machen einen weiten Bogen um ihn.«
»Ich ... ich verstehe. Aber du mußt doch einige Hoffnung haben, wenn du ...«
»Ja. Es ist einen Versuch wert. Hör zu, Frau: Menschen können nicht unter Wasser leben. Das Seevolk hat keine Schiffe und auch keine Waffen aus Metall, das nicht in kurzer Zeit zu Rost zerfällt. Noch nie haben beide Rassen zusammengearbeitet. Wenn sie es täten – dann vielleicht ...«
Ingeborg schwieg lange Zeit, bevor sie so leise, daß es kaum zu verstehen war, sagte: »Und vielleicht würdest du getötet werden.«
»Ja, ja. Was hat das zu bedeuten? Jeder wird geboren, um zu sterben. Meine Leute stehen füreinander ein – das müssen sie – , und ein einzelnes Leben gilt bei uns nicht viel. Wie könnte ich an das Ende der Welt reisen, wenn ich wüßte, ich hätte nicht alles in meiner Macht Stehende für meine kleine Schwester Yria getan, die wie meine Mutter aussieht?« Tauno nagte an seiner Unterlippe. »Aber das Schiff! Wie bekomme ich das Schiff und die Mannschaft?«
Sie sprachen darüber. Sie versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, aber er verbiß sich immer mehr in den Gedanken. Schließlich gab sie nach. »Vielleicht kann ich dir zeigen, was du wünschest« fragte sie.
»Was? Wie?«
»Du mußt wissen, daß die Fischerboote von Alsen für das, was du im Sinn hast, nicht seetüchtig genug sind. Auch könntest du von keinem ehrbaren Eigentümer ein Schiff mieten, weil du seelenlos bist und dein Vorhaben wahnsinnig ist. Aber es gibt eine Kogge – kein großes Schiff, aber doch eine Kogge – , deren Heimathafen Hadsund ist, die Stadt, die ein paar Meilen von hier am Ende des Mariager-Fjords liegt. Ich gehe an den Markttagen nach Hadsund und habe auf diese Weise ihre Männer kennengelernt. Sie fährt die Häfen an, für die sie Fracht bekommt, und ist nordwärts schon bis nach Finnland, ostwärts bis nach Wendland, westwärts nach Island gekommen. In so entlegenen Gegenden hat sich die Mannschaft nicht über ein bißchen Piraterie erhaben gefühlt, wenn keine Gefahr damit verbunden zu sein schien. Es ist eine Bande von Raufbolden, und ihr Kapitän, der Eigentümer, ist der schlimmste. Er stammt aus einer guten Familie in der Nähe von Herning, aber sein Vater schlug sich im Streit zwischen den Söhnen des Königs auf die falsche Seite, und deshalb konnte er Herrn Ranild Grib nichts anderes hinterlassen als eben das Schiff. Und er flucht fürchterlich auf die Hanse, deren Flotten ihn aus den Geschäften drängen, die er früher noch tätigen konnte.
Es mag sein, daß er verzweifelt genug ist, um ein Bündnis mit dir zu schließen.«
Tauno dachte darüber nach. »Vielleicht. Hm-m-m ... Wir Meerleute haben nicht die Gewohnheit, unsere eigene Art zu betrügen und zu töten, wie es die Menschen mit Seelen tun. Ich kann kämpfen; ich habe keine Angst, jedem Beliebigen mit irgendeiner oder gar keiner Waffe gegenüberzutreten. Doch wenn es darauf ankommt, zu feilschen und vor einem Schiffskameraden auf der Hut zu sein, könnten wir drei Geschwister leicht ins Hintertreffen geraten.«
»Ich weiß«, sagte Ingeborg. »Am besten gehe ich und rede mit ihm und halte für euch die Augen offen.«
Er fuhr auf. »Würdest du das wirklich tun?« Nach einem Augenblick: »Du sollst einen vollen Anteil an der Beute bekommen, liebe Freundin. Auch du sollst frei sein.«
»Wenn wir am Leben bleiben – und was spielt es andernfalls schon für eine Rolle? Aber Tauno, Tauno, du darfst nicht glauben, daß ich dir das Angebot aus Gier nach Reichtum gemacht habe ...«
»Ich muß natürlich mit Eyjan und Kennin sprechen ... wir müssen noch einmal mit dir sprechen – aber trotzdem ...«
»Ja, Tauno, ja, ja. Morgen, immer sollst du von mir bekommen, was du willst. Doch ich bitte dich, vergiß heute nacht deine Sorgen, wirf den Schleier ab, der deine Augen verhüllt, und laß uns nur Tauno und Ingeborg sein. Siehst du, ich habe mein Kleid für dich ausgezogen.«