8
Die Delphine machten sie eilends davon. Die Morgensonne ließ Regenbogen auf den Flossen ihrer grauen Rücken aufleuchten, ihre Bewegungen zogen eine Schaumspur durchs Wasser. Tauno war überzeugt, sie würden sich nicht weiter zurückziehen als bis dahin, wo sie sicher waren, denn diese Rasse ist von unbezähmbarer Neugier und Schwatzhaftigkeit.
Er hatte einen Kurs bestimmt, der die Kogge früh am Morgen an diesen Ort brachte, damit sie für ihre Arbeit das Licht eines ganzen Tages hatten. Jetzt hatte sie beigedreht, und der Rumpf mit seinen breiten Spanten schaukelte kaum. Denn es war ein ruhiger Tag mit so gut wie keinem Wind und einem beinahe wolkenlosen Himmel. Kleine, glucksende Wellen liefen heran, mit nur wenig Schaum auf ihren Rücken. Tauno sah hinab und sann darüber nach – sein ganzes Leben lang war er dessen nicht müde geworden – , wie kompliziert und schön gefurcht jede Welle war, nie waren zwei gleich, nie glich eine ihrem vergangenen Selbst. Und wie warm strichen die Sonnenstrahlen über seine Haut, wie kühl segnete ihn die salzige Luft! Er hatte sein Fasten nicht gebrochen, was auch unklug gewesen wäre, wenn er bis in die untersten Tiefen tauchen wollte, und so war er sich seines leeren Bauches bewußt. Lind auch das war gut wie jede Bewußtheit.
»Nun«, meint er, »je eher wir anfangen, desto eher sind wir fertig.«
Die Seeleute glotzten ihn an. Sie hatten Piken an Deck gebracht, und sie umklammerten sie wie Schiffbrüchige einen Balken. Unter der Sonnenbräune, dem Schmutz und dem Haar waren fünf von diesen Gesichtern verstört; an den Kehlen tanzten die Adamsäpfel. Ranild stand fest, eine gespannte Armbrust im linken Arm. Niels war zwar auch bleich, aber er brannte und bebte mit der Begeisterung eines Burschen, der noch tu jung ist, um zu wissen, daß auch junge Burschen sterben können.
»Beeilt euch, ihr Tölpel«, höhnte Kennin. »Wir tun die Arbeit, auf die es ankommt. Könnt ihr kein Bratspill drehen?«
»Ich gebe die Befehle, Junge«, erklärte Ranild mit ungewohnter Ruhe. »Trotzdem hat er recht. Macht euch an die Arbeit.«
Sivard benetzte seine Lippen. »Skipper«, krächzte er, »ich ... ich halte es für das beste, wenn wir es sein lassen.«
»Nachdem wir bis hierher gekommen sind?« grinste Ranild. »Hätte ich gewußt, daß du ein Weib bist, dann hätte ich Verwendung für dich finden können.«
»Was nützt einem Menschen Gold, der gefressen worden ist? Freunde, denkt nach! Der Krake kann uns nach unten ziehen, wie wir eine Flunder am Haken heraufziehen. Wir ...«
Sivard sagte kein Wort mehr Ranild hatte ihm einen Schlag verpaßt, daß seine Nase blutete. »An die Schoten, ihr Hurensöhne!« brüllte der Kapitän, »oder Satan soll mich holen, wenn ich euch nicht eigenhändig an den Kraken verfüttere!«
Schnell folgten sie dem Befehl. »Es fehlt ihm nicht an Mut«, sagte Eyjan in der Seesprache.
»Und auch nicht an Tücke«, warnte Tauno. »Wende ihm und seinem hinterhältigen Haufen niemals den Rücken.«
»Niels und Ingeborg mußt du ausnehmen«, entgegnete sie.
»Oh, du willst ihm gewiß nicht den Rücken zuwenden, ebensowenig wie ich ihr den meinen«, lachte Kennin. Auch er empfand keine Furcht, er war wild darauf hinabzutauchen.
Mit Hilfe eines Krans, den sie zusammengebaut und gegen de Mast gestützt hatten, zogen die Seeleute das Gerät empor, das unterwegs angefertigt worden war. Ein großes Stück Eisen war in einen Felsblock gehämmert worden, bis es fest eingekeilt war. Dann hatte man das herausragende Ende zu einer Speerspitze mit Widerhaken, geschliffen und geschärft. Überall an dem Felsblock saßen Ringe, und das riesige Netz war mit seinem Mittelstück daran befestigt. Am. Außenrand des Netzes hingen die zwölf Schiffsanker. Alles zusammen bildete ein Bündel, das unter einem Floß vertäut war, dessen richtige Größe man durch Versuch und Irrtum festgestellt hatte. Der Arm des Krans hob es auf das Schanzkleid an Steuerbord; die Kogge neigte sich.
»Gehen wir«, sagte Tauno. Er selbst war ohne Furcht, obwohl er sich der Tatsache bewußt war, daß diese Welt – die ihn durchdrang und die er mit von der Gefahr dreifach geschärften Sinnen durchdrang – bald in Trümmer fallen könne, nicht nur in ihrer Gegenwart und, Zukunft, sondern auch in ihrer Vergangenheit.
Die Geschwister legten die Kleider bis auf die Stirnbänder und Dolchgürtel ab. Jeder schlang sich ein Paar Harpunen über die Schultern. Sie standen für einen Augenblick an der Reling, hinter ihnen der flammende Meeresspiegel, der große Tauno, der geschmeidige Kennin, Eyjan mit der weißen Haut und den wohlgeformten Brüsten.
Zu ihnen trat Niels. Er drückte ihnen die Hand, er küßte das Mädchen, er weinte, weil er nicht mit ihnen gehen konnte. Ingeborg stand währenddessen Hand in Hand und Auge in Auge mit Tauno. Sie hatte ihr Haar eingeflochten, aber eine verirrte braune Locke flatterte ihr um die Schläfe. Ihr stubsnasiges, sommersprossiges Gesicht mit dem vollen Mund hatte einen Ausdruck ernster Einsamkeit angenommen, den Tauno unter dem Seevolk niemals gesehen hatte.
»Es mag sein, daß ich dich nicht wiedersehe, Tauno«, sagte sie, zu leise, als daß die anderen es hätten hören können, »und die Wahrheit ist, daß ich von dem, was in meinem Herzen ist, nicht sprechen kann und nicht sprechen darf. Aber ich werde darum beten, daß Gott dir, solltest du bei dieser um deiner Schwester willen vollführten Tat den Tod finden, in deinem letzten Augenblick die reine Seele gibt, die du verdient hast.«
»Oh ... du bist freundlich, aber – nun, ich habe die feste Absicht zurückzukommen.«
»Ich habe vor Sonnenaufgang einen Eimer Seewasser heraufgeholt«, flüsterte sie, »und mich reingewaschen. Willst du mich zum Abschied küssen?«
Er tat es. Seiner Meinung nach war es jetzt nicht mehr notwendig, daß sie Abscheu vortäuschte; es war für sie ein Schutz und für sie beide von Vorteil, wenn die anderen sahen, daß sie zusammenhielten. »Über Bord!« rief er und sprang.
Sechs Fuß weiter unten nahm ihn das Meer mit freudigem Aufspritzen in Empfang. Neues Leben durchflutete ihn. Er genoß den Geschmack und die Kühle, bevor er rief: »Hinunterlassen!«
Die Seeleute kurbelten den beladenen Kranarm nach unten und senkten das beladene Floß auf die Wasseroberfläche. Es schwamm gut und hielt das Netz in der richtigen Lage. Tauno warf es los. Die Menschen drängten sich an der Reling. Die Halbblutkinder winkten – nicht ihnen, sondern dem Wind und der Sonne – und tauchten hinab.
Der erste Atemzug unter Wasser war immer leichter als der erste an Land. Man blies die Luft einfach aus und dehnte dann weit die Lippen und die Brust. Das Wasser strömte herein, man fühlte es in Mund, Nase, Kehle, Lungen, Magen, Därmen, Blut, bis zum letzten Nagel und Haar. Dies immer wieder herrliche Erlebnis stellte den Körper um auf das Leben des Seevolks. Komplizierte Säfte zerlegten das flüssige Element, um den Stoff zu gewinnen, der Fisch, Vogel, Fleisch und Feuer gleichermaßen am Leben hält; Salz wurde von den Geweben gesiebt; innere Öfen schürten sich selbst gegen die tödliche Kälte.
Das war ein Grund, warum es von dem Seevolk nur wenige gab. Sie benötigten unter Wasser mehr Nahrung als die Menschen an Land. Ein schlechter Fang oder eine Seuche unter den Schalentieren konnte für einen ganzen Stamm den Hungertod bedeuten. Die See gibt, die See nimmt.
Vanimens Kinder verteilten sich so um die ungefüge Last, daß sie sie handhaben konnten, und schwammen nach unten.
Anfangs war das Licht wie junge Blätter und alter Bernstein. Bald wurde es trübe, und gleich darauf fraß die Schwärze seine letzten Spuren. Die Geschwister mochten sich dem Seevolk zugehörig fühlen, doch trotzdem war ihnen kalt. Stille pferchte sie ein. Sie wollten in Tieren hinabsteigen, wie sie es im Kattegat oder in der Ostsee nicht gab. Das hier war der Ozean.
»Halt«, sagte Tauno in der Sprache des Seevolks, die unter Wasser benutzt wurde und aus vielen Summ-, Klick- und Schmatzlauten bestand. »Liegt das Floß gerade? Könnt ihr es hier festhalten?«
»Gut. Dann wartet ihr hier.«
Sie widersprachen ihm nicht. Sie hatten ihren Plan ausgearbeitet und hielten sich nun daran, wie alle diejenigen es tun müssen, die sich in große Tiefen hinunterwagen. Tauno, der Stärkste und Geschickte« ste, mußte als Späher voraustauchen.
An den linken Unterarm angeschnallt trug jeder von ihnen eine Laterne aus Liri. Das war eine hohle Kristallkugel, auf einer Hälfte mit poliertem Silber bedeckt und auf der anderen zu einer Linse geformt, Gefüllt wurde sie mit jener Art von lebendem Meeresfeuer, das die Wohnungen des Seevolks erhellte. Ein Loch, mit einem Netz bedeckt, dessen Maschen zu eng waren, als daß die Tierchen hätten entweichen können, erlaubte es, sie zu füttern und das Wasser ein- und ausströmen zu lassen. Die Kugel ruhte in einem Gehäuse aus geschnitzten Knochen, vorn mit einer Blende versehen. Noch war keine der Laternen geöffnet worden.
»Glück auf den Weg«, wünschte Eyjan. Die drei umarmten sich in der Dunkelheit. Tauno schwamm davon.
Hinunter tauchte er und hinunter. Er hatte nicht gedacht, daß die Welt noch schwärzer, leerer, stiller werden könne, doch sie wurde es. Wieder und wieder betätigte er Muskeln in Brust und Bauch, um den inneren Druck dem äußeren anzugleichen. Trotzdem war es, als ob ihm das Gewicht jedes Fußes, den er tiefer im Wasser hinabsank, aufgebürdet werde.
Endlich fühlte er – wie ein Mensch in der Nacht eine Mauer vor sich fühlen mag – , daß er sich dem Grund näherte. Und er nahm einen Geruch wahr ... einen Geschmack ... eine Empfindung ... von fischigem Fleisch. Durch das Wasser pulsierte das langsame Ein und Aus der Krakenkiemen.
Er öffnete die Laterne. Ihr Lichtstrahl war blaß und reichte nicht weit, aber er genügte seinen Feenaugen. Grauen kroch ihm das Rückgrat entlang.
Unter ihm erstreckten sich Morgen um Morgen Ruinen. Averorn war groß und ganz und gar aus Stein erbaut gewesen. Das meiste war zu formlosen Massen im Schlamm zusammengestürzt. Aber hier stand ein Turm wie ein letzter Raffzahn im Kiefer eines Toten, da ein nur teilweise zerfallener Tempel, anmutige Säulengänge um einen Gott, der hinter seinem Altar saß und blind in die Ewigkeit starrte; weiter hinten lag das gewaltige Wrack einer Burg, geisterhaft leuchtende Fische als Wachtposten auf ihren Befestigungen; auf diesem Weg mußte es zum Hafen gehen. Gekennzeichnet war er durch Hügel, die verschüttete Piere und Stadtmauern waren, und immer noch war er gedrängt voll von Galionen. Dort stand ein Haus ohne Dach, und darin versuchte das Skelett eines Mannes für immer, die Skelette einer Frau und eines Kindes zu schützen. Überall und überall waren aufgeplatzte Gewölbe und Lagerhäuser, und Gold und Edelsteine glitzerten vom (;runde des Meeres nach oben.
Und in ihrer Mitte lagerte der Krake. Acht seiner dunkelschimmernden Arme streckte er nach den Ecken der achteckigen Plaza aus, die sein Mosaikbild trug. Die beiden übrigen Arme, die längsten, zweimal so lang wie die Herning, waren an der Nordseite um eine Säule geschlungen. Sie trug an ihrer Spitze eine Scheibe mit dem Triskelion des Gottes, den er erobert hatte. Sein schrecklicher, mit Finnen versehener Kopf hing darüber. Tauno konnte eben noch den krummen Schnabel und ein schwarzes, lidloses Auge erkennen.
Der Sohn Vanimens öffnete die Blende und begann, in der Lichtlosigkeit aufzusteigen. Ein Pulsieren lief durch den Ozean und drang ihm bis in die Knochen. Es war, als bebe die Welt. Er warf einen Strahl nach unten. Der Krake bewegte sich. Tauno hatte ihn geweckt.
Tauno biß die Zähne zusammen. Wild grub er Hände und Füße in das eisige, dicke Wasser. Den Schmerz, den der Druckunterschied ihm beim zu hastigen Aufsteigen bereitete, ließ er unbeachtet. Mit den Sinnen des Seevolks erkannte er, in welcher Richtung er sich bewegte. Es grollte unter ihm. Der Krake hatte sich gestreckt und gegähnt; ein Portikus war zu Stücken zerschmettert worden.
Am Rand des Tageslichts hielt Tauno an. Er ließ sich treiben und blinkte mit seiner Laterne. Ein riesiger Schatten schwoll am Meeresgrund auf.
Nun mußte er, bis Kennin und Eyjan eintrafen, am Leben bleiben – und er mußte das Ungeheuer so beschäftigen, daß es an Ort und Stelle blieb.
In der Mitte des sich erhebenden Körpers, der einer Gewitterwolke glich, sah er boshafte Augen schimmern. Der Schnabel schnappte. Ein Arm entrollte sich in Taunos Richtung. Er besaß Saugnäpfe, die einem Wal das Fleisch von den Rippen reißen konnten. Zielsicher strebte der Arm auf ihn zu, eine Windung nach der anderen. Tauno stach sein Messer bis zum Heft hinein. Als er die Klinge zurückzog, rauschte Blut hervor, und es schmeckte wie starker Essig. Der Arm peitschte ihn, und er rollte davon und überschlug sich. Es schmerzte, und sein Kop drehte sich.
Ein zweiter Arm und noch einer faßten nach ihm. Benommen fragte er sich, wer er denn sei, daß er mit einem Gott kämpfen wollte. Irgend wie brachte er die Harpune los. Bevor er fest in dem zermalmende Griff hing, schwamm er, so schnell er konnte, nach unten. Vielleich gelang es ihm, dem Kraken die Harpune ins Maul zu stechen.
Ein grauenhafter Schrei ließ ihm die Sinne schwinden.
Eine Minute später kam er wieder zu sich. Seine Stirn tat weh, in seinen Ohren dröhnte es. Rings um ihn war das Wasser wild geworden. Eyjan und Kennin waren neben ihm und hielten ihn aufrecht. Er blickte nach unten und sah einen verschwommenen, schrumpfenden Tintenfleck. Der Krake kreischte und schlug um sich, während er sank.
»Sie nur, sieh!« jubelte Kennin. Er wies mit dem Licht seiner eigenen Laterne in die Tiefe. Der blasse Strahl durchdrang Blut, Tinte und Schaum und zeigte den Kraken in seiner Qual.
Bruder und Schwester hatten ihre Waffe über ihn gezogen. Sie hatten sie von dem Floß losgeschnitten. Der Speer hatte, mit einer Tonne Felsgestein hinter sich, den Körper des Kraken durchbohrt.
»Bist du verletzt?« fragte Eyjan. Ihre Stimme schwankte durch den Aufruhr. »Mein Lieber, mein Lieber, kannst du dich bewegen?«
»Ich muß wohl«, brummte Tauno. Er schüttelte den Kopf, und das schien den Nebel ein wenig zu vertreiben.
Der Krake sank zurück in die Stadt, die er gemordet hatte. Die Speerwunde war wohl ernst, konnte aber sein kaltes Leben nicht beenden. Auch war der Felsblock nicht so schwer, daß er ihn nicht hätte heben können. Doch rings um ihn schlang sich das riesige Netz.
Und jetzt faßten die Kinder des Meermanns die Anker am Rand dieses Netzes und machten sie in den Ruinen von Averorn fest.
Verzweifelt arbeiteten sie, denn das gewaltige Ungeheuer schlug um sich, die mächtigen Arme droschen das Wasser und griffen nach ihnen. Aufgewirbelter Schlamm und erbrochene Tinte blendeten die Augen, drangen in stinkenden Wolken in die Lungen und drohten sie zu ersticken. Taue peitschten, verwirrten sich und rissen. Mauern stürzten unter Schlägen ein, die das Donnern des Weltuntergangs durch das Wasser schickten. Die Schreie hämmerten auf Schädel und krallten sich in Trommelfelle. Die Angreifer wurden getroffen, verletzt, zur Seite geschleudert, von rauher Haut gekratzt, bis ihr eigenes Blut der Säure des Kraken Eisengeschmack hinzufügte. Alle drei waren übel zugerichtet, als sie ihn endlich binden konnten.
Aber sie banden ihn. Und sie schwammen dahin, wo sein großer Kopf ruckte und pulsierte. Sein Schnabel schnappte nach den Strängen, die ihn gefangenhielten, seine Arme wanden sich wie ein Schlangenpfuhl unter dem Netz. Durch die dunklen Nebelschwaden blickten sie in diese großen, bewußten Augen. Der Krake hielt inne mit seinem Geschrei. Sie hörten nur das Wasser rauschen, in seine Kiemen und aus leinen Kiemen. Sein lidloser Blick ruhte auf ihnen.
»Tapfer bist du gewesen«, sprach Tauno, »ein Mitbewohner des Meeres. Deshalb sollst du wissen, daß du nicht aus Habgier getötet wirst.«
Er nahm das rechte Auge, Kennin das Linke. Sie stießen ihre Harpunen bis zu den Schaftenden hinein. Als das dem Toben, das nun folgte, kein Ende bereitete, benutzten sie ihr zweites Paar und beide Harpunen Eyjans. Krakenblut und Krakenqual trieben sie hinweg.
Nach einer Weile war es vorbei. Die eine oder andere Waffe mußte sich bis ins Gehirn vorgearbeitet und es durchbohrt haben.
Die Geschwister flohen von Averorn ins Sonnenlicht. Sie sprangen In die Luft und sahen die Kogge sich auf den Wellen wiegen, die der Kampf in den Tiefen aufgerührt hatte. Tauno und Eyjan machten sich die Mühe nicht, ihre Lungen zu entleeren, obwohl sie, wenn sie Luft atmeten, leichter waren als das Wasser. Sie ließen sich mit leichten Paddelbewegungen treiben. Das Meer umschmeichelte ihre schmerzenden Körper, und in tiefen Zügen saugten sie die Gewißheit ein, noch zu leben. Der junge Kennin war es, der den zusammengedrängten weißen Gesichtern am Schanzkleid zurief: »Wir haben es geschafft! Wir haben den Kraken erschlagen! Der Schatz gehört uns!«
Als er das hörte, sauste Niels die Webeleinen hinauf und krähte wie ein Hahn, und Ingeborg brach in Tränen aus. Die anderen Seeleute stimmten ein Freudengeschrei an, das merkwürdig kurz ausfiel. Danach richteten sie ihre Aufmerksamkeit hautsächlich auf Ranild.
Durch die Wellen kamen die Delphine gesprungen, zweimal zwanzig von ihnen, um die Geschichte zu hören.
Es blieb Arbeit zu tun. Als die Schwimmer durch Zeichen zu verstehen gaben, sie hätten sich genug ausgeruht, warf Ranild ihnen ein langes, beschwertes Tau mit einem Sack und einem Haken am Ende zu. Damit tauchten sie wieder nach unten.
Die Geisterfische, die zu fangen er zu langsam gewesen war, nagten bereits an dem Kraken. »Tun wir unsere Arbeit und machen wir u von hier fort, so schnell wir können«, sagte Tauno. Seine Gefährt stimmten ihm zu. Es gefiel ihnen nicht, in einem Grab herumzustochern.
Aber für Margrete, die Yria gewesen war, taten sie es. Immer wieder füllten sie den Sack mit Münzen, Platten, Ringen, Kronen, Barren; immer wieder hingen sie eine Truhe, ein Horn, einen Kandelaber oder einen Gott aus Gold an den Haken. Ein Signal konnte sich bei dieser Länge des Taus nicht gut bis nach oben fortpflanzen; die Mannschaft holte es einfach etwa jede halbe Stunde ein. Tauno entdeckte, daß e besser war, wenn er seine Laterne daran befestigte, denn obwohl sich' die See oben beruhigt hatte, driftete die Herning doch, und das Tau kam nie am gleichen Ort herab. Solange es oben war, suchten die Kinder des Wassermanns nach neuen Gegenständen oder ruhten sich ein wenig aus oder aßen von dem Käse und dem Stockfisch, die Ingeborg in den Sack gelegt hatte.
Schließlich meinte Tauno müde: »Uns wurde gesagt, ein paar hundert Pfund seien reichlich, und ich kann schwören, wir haben eine Tonne nach oben geschickt. Ein gieriger Mann ist ein unglückliche Mann. Sollen wir gehen?«
»O ja, o ja.« Eyjan spähte in die Düsternis, die sich rings um ihre Kugel aus schwachem Licht schloß. Sie erschauerte und schmiegte sich an ihren älteren Bruder. Er hatte bisher noch nie gesehen, daß sie eingeschüchtert war.
Kennin war es nicht. »Langsam verstehe ich, warum das Landvolk so versessen auf das Plündern ist«, stellte er mit einem Grinsen fest. »Eine Endlosigkeit an Tand macht ebensoviel Spaß wie eine Endlosigkeit an Bier oder Frauen.«
»Eine Endlosigkeit ist es eigentlich nicht«, antwortete Tauno auf seine nüchterne Art.
»Ist es denn keine Endlosigkeit, wenn du von etwas soviel hast, daß du im ganzen Leben nicht damit fertig werden kannst?« lachte Kennin. »Gold zum Ausgeben, Bier zum Trinken, Frauen ...«
»Hab Geduld mit ihm«, sagte Eyjan in Taunos Ohr. »Er ist ein Junge. Die ganze Schöpfung öffnet sich für ihn.«
»Ich bin selbst noch kein alter Mann«, erwiderte Tauno, »obwohl' die Trolle wissen, daß ich mich wie ein Sterblicher fühle.«
Sie befreiten sich von den übrigen Laternen, indem sie diese dem letzten Sack voll Kostbarkeiten hinzufügten. Er würde schneller auf steigen, als es für sie gut war. Tauno winkte dem nicht mehr sichtbaren Averorn einen Gruß zu. »Schlafe gut«, murmelte er. »Möge deine Ruhe bis zum Untergang der Welt nicht mehr gestört werden.«
Aus Kälte, Dunkelheit und Tod stiegen sie ins Licht und dann in die Loft empor. Die Sonne sandte beinahe waagerechte Strahlen vom Weilen her, wo der Himmel grünlich war. Im Osten war inmitten von Königsblau ein weißer Planet zu sehen. Die Wellen liefen purpurn und schwarz, mit Schaumspitzen besetzt, obwohl der Wind sich gelegt hatte. Ihr Rauschen und Klatschen waren die einzigen Geräusche in der Kühle, abgesehen von denen, die die springenden Delphine verursachten.
Diese wollten sofort alles wissen, aber die Geschwister waren zu Müde. Sie versprachen ihnen für morgen einen vollständigen Bericht, husteten das Wasser aus ihren Lungen und schwammen auf die Kogge tu. Niemand wartete an der Reling außer Herrn Ranild. Eine Strickleiter baumelte mittschiffs herab.
Tauno kam als erster an Bord. Triefend stand er da; er zitterte ein bißchen vor Erschöpfung. Er sah sich um. Ranild trug eine Armbrust
gebeugten Arm; seine Männer faßten nach ihren Piken in der Nähe des Mastes. Der Krake war tot. Warum wirkten sie alle so angespannt? Wo waren Ingeborg und Niels?
»Hm-m-m ... seid ihr zufrieden?« brummte Ranild in seinen Bart.
»Wir haben reichlich für unsere Schwester und genug für euch alle, um euch reich zu machen«, antwortete Tauno. Sein Fleisch zog an Ihm, ausgekühlt, verletzt, erschöpft. Ebenso schwer und schmerzend fühlte sich sein Kopf an. Er dachte, er sollte eigentlich seinen Sieg besingen. Nein, das konnte warten. Jetzt wollte er nichts als ausruhen, als schlafen.
Eyjan kletterte an Bord. »Niels?« rief sie.
Ein Blick auf die sechs, die dort standen, genügte ihr. Ihr Messer fischte aus der Scheide. »Verrat – schon jetzt?«
»Tötet sie!« brüllte Ranild.
Kennin war gerade von der Strickleiter gestiegen. Er schwebte noch auf der Reling. Als die Seeleute mit ihren Piken vorwärts stürzten, schrie er auf und sprang auf das Deck. Keiner von diesen klobigen Schäften war so schnell, daß er ihn aufhalten konnte. Kennin flog gerade auf Ranilds Kehle zu, die Klinge brannte im Licht der Abendsonne.
Ranild hob die Armbrust und schoß. Kennin fiel zu seinen Füßen nieder. Der Pfeil war ihm durch das Brustbein, das Herz und den Rücken gedrungen. Blut strömte über die Planken.
Tauno durchfuhr es: Ingeborg hatte ihn vor Verrat gewarnt, aber Ranild war zu gerissen für sie. Er mußte sich in geheimen Winkeln des Frachtraums mit jedem Mann einzeln besprochen haben. Im gleichen Augenblick, als die Schwimmer nach der Beute tauchten, gab er das Zeichen, Ingeborg und Niels zu ergreifen. Und zu töten? Nein, das konnte Spuren hinterlassen, aber sie zu binden, zu knebeln, unter Deck zu bringen, bis die Geschwister zurückgekehrt waren.
Eyjans sofortiges Begreifen, Kennins rasche Tat hatten den Plan vereitelt. Die anrückenden Seeleute wurden langsamer und verloren den Überblick. Eyjan und Tauno gewannen soviel Zeit, über Bord zu springen.
Ein paar Piken zischten ihnen nach, ohne zu treffen. Ranild ragte an der Reling auf, schwarz vor dem Abendhimmel. Unter schallendem Gelächter brüllte er: »Vielleicht könnt ihr euch damit von den Haifischen die Heimfahrt erkaufen!« Und hinunter zu ihnen warf er den Leichnam Kennins.