7
Als die schwarze Kogge Herning den Manager-Fjord verließ, fing sie einen Wind, der ihr Segel füllte und sie mit großer Geschwindigkeit nordwärts schickte. An Deck warfen Tauno, Eyjan und Kennin die Menschenkleider – stinkige, beengende Lumpen! – ab, die ihnen in den Tagen der Verhandlung mit Ranild Espensen Grib als Verkleidung gedient hatten. Sechs der acht Männer brüllten lüstern auf, als Eyjan weiß im Sonnenlicht stand, bekleidet nur mit einem Dolchgürtel, und ihre bronzefarbene Mähne zurückwarf. Es war ein zerlumpter, verflohter Haufen, diese Männer, voller Narben, die sie sich in Kämpfen geholt hatten, und ihre einheitlichen Lederjacken, Hemden und Hosen standen vor alten Fettflecken vom Körper ab.
Der siebte war ein Bursche von achtzehn Wintern, Niels Jonsen geheißen. Er war vor zwei Jahren nach Hadsund gekommen und hatte Arbeit auf einem Fischerboot gesucht, um seiner verwitweten Mutter und den jüngeren Geschwistern, die auf einem winzigen Pachthof lebten, zu helfen. Vor nicht langer Zeit hatte das Boot, auf dem er diente, Schiffbruch erlitten – durch Gottes Gnade ohne Verlust an Menschenleben – , und er konnte keine andere neue Heuer bekommen als diese. Er war ein gutaussehender Junge, schlank, flachshaarig, blauäugig, mit einem ehrlichen, frischen Gesicht. Jetzt blinzelte er sich die Tränen weg. »Wie schön sie ist«, flüsterte er.
Der achte war der Kapitän. Mit finsterem Gesicht kam er unter dem Achterdeck hervor, das dem Mann am Ruder Schutz bot. (Es befand sich auch ein Deck über dem Bug, aus dem der Vormast herausragte. Das Hauptdeck erstreckte sich unter und zwischen diesen beiden mit einem Mast und zwei Luken. Hier lagen und standen das Takelwerk, ein Kochherd und das an Ladung, was oben gestapelt wurde. Darunter waren ein roter Granitblock, drei Fuß im Durchmesser und etwa eine Tonne schwer, ein Dutzend zusätzlicher Anker und viele Taue sowie einiges an Ersatzteilen.)
Ranild schritt auf die Stelle zu, wo die Halbblutkinder und Ingeborg standen; es war an Backbord, und sie betrachteten Jütlands lange Hügel, die an ihnen vorbeiglitten. Es war ein klarer Tag; die Sonne sandte blendende Glitzerstrahlen auf die grau-grün-blauen Schaumkronen. Der Wind pfiff, das Tauwerk ächzte, das Holz knarrte, und das Bugwasser der Kogge schäumte weiß. In der Luft schrien die Möwen; wie ein Schneesturm waren ihre Flügel. Es roch nach Salz und Teer.
»Ihr da!« brüllte Ranild. »Zieht euch anständig an!«
Kennin streifte ihn mit einem Blick aus dem Abneigung sprach. Die langen Stunden des Feilschens im Hinterzimmer einer üblen Kneipe waren unangenehm gewesen, und das Seevolk war nicht daran gewöhnt, eine Sprache wie die Ranilds zu führen, rauh wie die eines Luchses. »Wer bist denn du, daß du von Anstand sprichst?« gab Kennin scharf zurück.
»Laß ihn«, brummte Tauno. Er betrachtete den Skipper mit ebenso wenig Liebe, doch mit mehr Kälte. Ranild war nicht groß, aber dick an Brust und Armen. Schwarzes Haar, niemals gewaschen und auf dem Schädel schon schütter, umrahmte ein grobes Gesicht mit einer gebrochenen Nase und blassen Augen, Raffzähne teilten einen Bart, der bis zur Hälfte des Faßbauches hinunterzipfelte. Er war wie seine Leute gekleidet, abgesehen davon, daß er mit einem Kurzschwert wie auch mit einem Messer bewaffnet war und ausgelatschte Stiefel trug, während sie Schuhe hatten oder barfuß gingen.
»Was hast du?« fragte Tauno. »Du, Ranild, trägst deine Kleider vielleicht gern so lange, bis sie dir vom Körper faulen. Warum sollten wir es tun.«
»Herr Ranild, Wassermann!« Der Schiffseigentümer schlug mit der Hand auf das Heft. »Meine Vorfahren waren Junker, als deine unter den Plattfischen wohnten – ich bin immer noch ein Edelmann, der Teufel soll mich holen! Das ist mein Schiff, ich habe das Geld für diese, Fahrt vorgestreckt, und ihr werdet bei Gottes Gebeinen tun, was ich euch sage, oder von der Rahnock baumeln!«
Eyjans Dolch flog aus der Scheide und schimmerte an Ranilds Gurgel. »Oder wir hängen dich an deinem Läusenest von Bart auf«, drohte sie.
Die Seeleute langten nach Messern und Befestigungshölzern. Ingeborg schob sich zwischen Eyjan und Ranild. »Was tun wir?« rief sie. »Gehen wir einander bereits an die Kehlen? Um das Gold zu bekommen, braucht Ihr die Meerleute, Herr Ranild, und sie brauchten Eure Hilfe. Seid friedlich, in Jesu Namen!«
Auf beiden Seiten zogen sie sich ein wenig zurück, doch die Mienen blieben finster. Ingeborg fuhr leise fort: »Ich glaube, ich weiß, wo das Mißverständnis liegt. Herr Ranild, diese Kinder des sauberen Meers haben sich wundgescheuert an ihren Kleidern. Tagelang mußten sie sich in einer Stadt aufhalten, in deren Straßen sich die Schweine suhlen, Nacht für Nacht schliefen sie in einem Raum voller Gestank und Wanzen. Trotzdem solltet ihr, Tauno, Eyjan und Kennin, auf einen Rat hören, der gut gemeint, wenn auch nicht ebenso gut ausgedrückt ist.«
»Und wie lautet er?« fragte Tauno.
Ingeborg errötete; sie senkte den Blick und verflocht die Finger ineinander. Noch leiser antwortete sie: »Denkt an die Abmachung. I Ranild verlangte, Eyjan sollte für ihn und seine Männer unter Deck kommen. Das wollte sie nicht. Ich sagte, ich ... würde es tun, und so kam der Vertrag zustande. Nun bist du sehr schön, Eyjan, schöner als ein sterbliches Mädchen es sein kann. Es ist nicht recht von dir, wenn du deine Schönheit vor Männern zur Schau stellst, die nichts anderes tun dürfen, als dich ansehen. Unsere Reise bringt uns in tödliche Gefahr. Wir können uns einen Aufruhr nicht leisten.«
Die Tochter des Meermanns biß sich auf die Lippe. »Das hatte ich nicht bedacht«, räumte sie ein. Dann brauste sie auf: »Aber ehe ich noch einmal diese groben Lumpen trage, obwohl ich mich nicht mehr mit ihnen zu verkleiden brauche, werde ich die Mannschaft töten. Dann werden wir vier das Schiff selbst steuern.«
Ranild öffnete den Mund. Tauno kam ihm zuvor: »Das ist leeres Gerede, meine Schwester. Hör zu. Wir werden die scheußlichen Kleider tragen, bis wir an Alsen vorbei sind. Dann tauchen wir an der Stelle hinab, wo Liri gestanden hat, holen uns geeignete Kleidungsstücke – und waschen uns den Schmutz ab, die diese hier auf unseren Körpern hinterlassen haben.«
So war der Frieden geschlossen. Die Männer schielten weiter nach Eyjan, denn das regenbogenfarbene Hemd aus dreifacher Fischhaut, das sie trug, nachdem sie auf dem Meeresgrund gewesen war, zeigte das Tal zwischen ihren Brüsten und reichte ihr kaum über die Hüften. Aber sie hatten Ingeborg, die sie mit nach unten nehmen konnten.
Die Menschenkleider waren von dieser Frau besorgt worden, die allein durch die von Räubern unsicher gemachten Wälder nach Hadsund ging, Ranild für das Vorhaben interessiert und sich mit den Geschwistern am Strand des Manager-Fjords getroffen hatte, von wo aus sie sie zu ihm führte. Als der Handel mit Handschlag besiegelt war, mußte Ranild erst noch seine Männer zum Mitmachen bewegen. Der hagere, düster blickende, aschfahle Oluv Ovesen, sein Stellvertreter, hatte nicht gezögert; die Habgier beherrschte sein Leben. Torben und Lave sagten, mit scharfem Stahl hätten sie schon und mit dem Seil würden sie am Ende Bekanntschaft machen, also warum in der Zwischenzeit nicht auch mit einem Kraken? Palle Tygve und Sivard hatten sich überreden lassen. Aber der letzte Matrose kündigte, was der Grund dafür war, warum der junge Niels Jonsen angeheuert worden war.
Keiner fragte Ranild, was aus dem früheren Mannschaftsmitglied geworden war. Es war wichtig, die Sache geheimzuhalten, damit die Priester sie nicht verboten oder der Adel dabei mitmischen wollte. Aslak wurde einfach nie mehr gesehen.
An diesem ersten Tag segelte die Herning an den breiten Stränden und der donnernden Brandung von Kap Skagen vorbei und durch das, Skagerrak in die Nordsee. Sie mußte Schottland umrunden und sich dann südwestlich halten, bis sie eine bestimmte Stelle ein gutes Stück jenseits von Irland erreichte. Auch wenn sie ein guter Segler war, brauchte sie von Gott gesandte Winde, wollte sie es in weniger als zwei Wochen schaffen – und tatsächlich dauerte es genau diese Zeit.
Da sie unter Ballast fuhr, war unter Deck viel Platz, und dort schliefen die Männer. Die Halbblutkinder verabscheuten diese düstere, schmutzige, von Ratten verseuchte, niedrige Höhle und legten sich auf dem Deck nieder. Sie benutzten weder Schlafsäcke noch Decken, nur Strohsäcke. Oft sprangen sie über Bord, tummelten sich rings um das Schiff und verschwanden zuweilen für eine oder zwei Stunden unter der Oberfläche.
Ingeborg sagte einmal zu Tauno, sie würde lieber mit ihm und seinen Geschwistern an Deck bleiben, doch Ranild habe ihr befohlen, die Nächte im Frachtraum zu verbringen, für jeden bereit, der sie wollte. Tauno schüttelte den Kopf. »Die Menschen sind ein widerwärtiger Haufen«, bemerkte er.
»Deine kleine Schwester ist menschlich geworden«, antwortete sie. »Und hast du deine Mutter, Vater Knud und deine Freunde in Alsen vergessen?«
»N-n-nein. Und dich auch nicht, Ingeborg. Wenn wir erst wieder zu Hause sind ... aber natürlich werde ich Dänemark verlassen müssen.«
»Ja.« Sie wandte den Blick ab. »Wir haben noch einen guten Freund an Bord. Den Jungen Niels.«
Er war der einzige Mannschaftsangehörige, der sie nicht gebrauchte, und trotzdem war er derjenige, der immer höflich und fröhlich mit ihr sprach. (Tauno und Kennin hielten sich gleicherweise von jenem Strohsack im Frachtraum fern. Die Männer, die sich jetzt in Ingeborgs Besitz teilten, waren keine ehrlichen Bauern und Fischer, und sie selbst hatten die Wogen zum Schwimmen, Seehunde und Delphine zum Spielen und fließende grüne Tiefen zum Aufenthalt.) Wenn Niels Freiwache hatte, folgte er Eyjan schüchtern aus der Ferne, und sonst tat er es mit seinen Augen.
Die übrigen Männer kümmerten sich nicht mehr um die Halbblutkinder, als sie mußten. Sie nahmen die frischen Fische an, die sie an Bord brachten, wollten aber mit den Überbringern nicht sprechen, wenn der Fang verzehrt wurde. Bei Ingeborg ließen sie Bemerkungen lallen wie: »Verdammte Heiden ... hochmütiges Pack ... sprechende fiere ... schlimmer als Juden ... Uns würden viele Sünden vergeben, wenn wir ihnen die Kehlen durchschnitten, wie? ... Also, bevor ich mein Messer in dieses barbeinige Weib stoße, werde ich erst noch etwas anderes tun ...« Ranild behielt seine Meinung für sich. Auch er wahrte Abstand von den drei Geschwistern, nachdem seine wenigen Versuche, Freundschaft zu schließen, abgewiesen worden waren. Tauno hatte sich bemüht, ihm entgegenzukommen. Aber die Redensarten des Skippers langweilten ihn, wenn sie ihn nicht anekelten, und sich zu verstellen hatte er nicht gelernt.
Niels mochte er gern. Sie sprachen jedoch selten miteinander, denn I anno war wortkarg, außer wenn er ein Gedicht vortrug. Außerdem stand Niels im Alter Kennin näher, und diese beiden hatten viel miteinander an Erlebnissen auszutauschen und an Witzen zu erzählen. Abgesehen von anderen Arbeiten wurden Stunden am Tag darauf verwandt, die zusätzlich mitgenommenen Taue zu einem großen Netz zu knüpfen. Niels und Kennin machten sich für gewöhnlich gemeinsam daran. Sie lachten und schwatzten miteinander und achteten nicht auf die mürrischen Mienen der Männer in ihrer Nähe.
,... Ich schwöre, das war das einzige Mal, daß eine Auster sich ihre Überraschung hat anmerken lassen!«
»Hm, das erinnert mich an eine Geschichte, als ich noch ein kleiner I enge war. Wir hielten ein paar Kühe, und ich führte eine von ihnen zu dem Bullen eines Verwandten. Am Weg stand eine Mühle, und aus der ferne konnte ich sehen, wie sich ihr Wasserrad zu drehen begann. Eine Kuh hat schlechtere Augen als ein Mensch, und dieses liebeskranke Geschöpf erkannte nur, daß da etwas Großes stand. Sie brüllte und rannte davon, und ich galoppierte hinterdrein und schrie, doch dann riß sie mir den Strick aus der Hand. Aber ich habe sie bald wieder eingefangen, o ja. Als sie feststellte, daß das kein Bulle war, blieb sie stehen, und sie sah aus wie eine aufgepustete Blase, in die man mit dem Messer gestochen hat. Sie stand einfach da, und ich griff nach dem Strick, und dann kam sie so benommen mit, als habe sie die Axt vor den Kopf bekommen.«
»Ho, ho, da muß ich dir erzählen, wie wir Jungen einmal einem Walroß das Staatsgewand meines Vaters angezogen haben ...«
Eyjan nahm an ihrer Fröhlichkeit häufig teil. Sie achtete nicht einmal in dem geringen Ausmaß auf weibliche Zurückhaltung wie meisten anderen Meerfrauen. Sie schnitt sich die roten Locken Schulterlänge ab, trug außer bei Festen weder Ring noch Kette n goldenes Gewand, wollte lieber jagen oder den Kampf mit der tose den Brandung aufnehmen, als zahm zu Hause sitzen. Im großen u ganzen verachtete sie das Landvolk (obwohl sie gern durch den Wa gelaufen war und Blumen, Vogelgesang, Rehe, Eichhörnchen, d flammende Laub im Herbst und danach den Schnee und die glitzer den Eiszapfen mit Entzückensrufen begrüßt hatte). Aber einige Menschen mochte sie gern, und dazu gehörte Niels. Auch schlief sie nicht mit ihren Brüdern – ein christliches Gesetz, das Agnete ihren Kindern, ehe sie sie verließ, gut eingeprägt hatte – , und die Wassermänner waren zu einem unbekannten Ort davongezogen, und die Bursche von Alsen waren an Land zurückgeblieben.
Die Herning pflügte Tag und Nacht die Wellen bei Wind und Stur bis sie eine Inselgruppe erreichte, die Tauno und Ranild beide für di südlichen Orkney-Inseln hielten. Das war gegen Abend, das Wett war mild, der Wind gut, und es standen eine klare Sommernacht und ein Vollmond bevor. Sie sahen keinen Grund, die Engen nicht nach Sonnenuntergang zu durchfahren, zumal die Brüder sich erboten, vorauszuschwimmen und die Wasserlinie zu beobachten. Eyjan wollt mit, aber Tauno meinte, einer müsse zurückbleiben, denn es könne ei Unheil geschehen wie zum Beispiel ein plötzlicher Angriff durch Haie. Sie losten, und sie zog den kurzen Strohhalm. Minutenlang fluchte sie, ohne sich einmal zu wiederholen, ehe sie sich wieder beruhigte.
So geschah es, daß sie allein auf dem Hauptdeck in der Nähe des Vordecks stand. Ein zweiter Ausguck saß hoch oben, ihren Augen hinter dem sich blähenden Segel verborgen, und ein Rudergast war im Schatten des Achterdecks versteckt. Die übrigen schnarchten unten, denn sie hatten gelernt, den Halbblutkindern in allem, was mit dem Wasser zu tun hatte, zu vertrauen.
Nur Niels kam wieder an Deck und fand Eyjan dort. Das Mondlicht funkelte auf ihrem Hemd, schimmerte auf Gesicht, Brüsten und Gliedern und verlor sich in ihrem Haar. Es wusch das Deck sauber, es baute einen schwankenden Weg vom Horizont bis zu dem spitzenartigen Schaum auf den kleinen Wellen. Sie schlugen sehr leise an den Rumpf, diese Wellen, und Niels, der barfuß war, konnte das fühlen, denn das Schiff krängte gerade soviel, daß er aufpassen mußte, auf den Beinen zu bleiben. Das Segel, bei Tag dunkelbraun mit kreuz und quer laufenden Lederstreifen, erhob sich über seinen Kopf wie ein schneebedeckter Berg. Das Tauwerk ächzte, der Wind liebkoste ihn, die See murmelte. Es war fast warm. Weit, weit oben in einer traumverhangenen Halbdunkelheit glänzten die Sterne.
»Guten Abend«, grüßte er verlegen.
Eyjan lächelte dem hochgewachsenen, schüchternen Jungen zu.
»Willkommen«, sagte sie.
»hast du ... darf ich ... darf ich bei dir bleiben?«
»Ja bitte.« Eyjan wies nach Steuerbord und Backbord, wo sich das Mondlicht in großen, rollenden Wogen fing. »Ich sehne mich danach, ins Wasser zu sein. Lenke meine Gedanken davon ab, Niels.«
»Du ... du ... du liebst deine See, nicht wahr?«
»Was kann man mehr lieben? Tauno hat einmal ein Gedicht darüber gemacht – ich kann es nicht gut auf dänisch sagen – laß es mich versuchen: Oben tanzt sie, in Sonne gekleidet, in Sonne, in Mond, in Regen, in Wind, Möwen und Schaumküsse verteilend. Unten ist sie grün und golden, ruhig, alles liebkosend, sie, deren Kinder in Schulen und Herden und Scharen nicht zu zählen sind. Sie schützt und beschenkt die Welt. Aber ganz weit unten bewahrt sie, was sie niemals ans Licht bringen wird, Geheimnis und Entsetzen, den Mutterleib, in dem sie sich selbst trägt. Jungfrau, Mutter und Herrin der Mysterien, nimm am Ende meine müden Gebeine in dich auf! ... Nein.« Eyjan schüttelte den Kopf. »Das ist nicht richtig. Vielleicht, wenn man an deine Erde denkt, an das große Rad des Jahres und daß ... Maria? ... sie, die einen Mantel in der Farbe des Himmels trägt ... vielleicht könnte man dann
ich weiß nicht, was ich zu sagen versuche.«
»Ich kann nicht glauben, daß du seelenlos bist!« sagte Niels leise.
Eyjan zuckte die Schultern. Ihre Stimmung schlug um. »Mir wurde erzählt, unsere Rasse habe freundschaftlich zu den alten Göttern und vor ihnen mit noch älteren Göttern gestanden. Und doch haben wir sie niemals angebetet oder Opfer gebracht. Ich habe versucht, diese Dinge zu verstehen, aber es ist mir nicht gelungen. Braucht ein Gott Fleisch oder Gold? Berührt es ihn, wie man lebt? Wird er gnädig gestimmt, wenn man sich winselnd vor ihm niederwirft? Kümmert es ihn, ob man sich um ihn kümmert?«
»Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß du eines Tages zu nichts werden wirst. Ich bitte dich, laß dich taufen.«
»Ho! Dann ist es noch wahrscheinlicher, daß du auf den Meeresgrund kommst. Das heißt nicht, daß ich selbst dich dorthin mitnehmen könnte. Mein Vater kannte den dafür notwendigen Zauber, aber drei kennen ihn nicht.« Sie legte eine Hand auf die seine, die die Reling so fest umklammerte, daß seine Finger schmerzten. »Aber ich würde dich gern mitnehmen Niels«, flüsterte sie. »Nur für eine Weile, nur u das, was ich liebe, mit dir zu teilen.«
»Du bist zu ... zu freundlich.« Er wandte sich zum Gehen. Sie zog ihn zurück.
»Komm«, lächelte sie. »Unter dem Vordeck finden wir Dunkelheit und mein Bett.«
»Was?« Er konnte es nicht gleich verstehen. »Aber du ... aber ...«
Ihr leises Lachen war wie eine Liebkosung. »Hab keine Angst. Wir Meerfrauen kennen den Zauber, der eine Empfängnis nur zuläßt wenn wir es wünschen.«
»Aber ... nur zum Spaß ... mit dir ...«
»Um mehr als die Lust miteinander zu teilen, Niels.« So leicht ihr Hand auch seinen Arm berührte, er konnte dem Zug nicht mehr wider stehen.
Tauno und Kennin hielten im Wasser nicht umsonst Wache. Sie warnten erst vor einem Felsen und später vor einem treibenden Boot, vielleicht von einem Schiff losgerissen, das es im Schlepptau gehabt hatte Zu dieser Zeit des Jahres waren das hier vielbefahrene Gewässer. Ranilds Gefühle den Brüdern gegenüber waren, als sie im Morgengraue an Bord kamen, geradezu herzlich.
»Gottes Blut!« rief er und legte Kennin die Hand auf die Schulter. »Euresgleichen könnte in der königlichen Flotte oder in der Handelsschiffahrt einen schönen Pfennig verdienen.«
Der Junge glitt unter der Hand hinweg. »Ich fürchte, der Pfennig müßte schöner sein als alles, was die besitzen«, lachte er, »um mich dazu zu bewegen, im Geruch eine Kloake zu stehen, wie es dein Atem ist.«
Ranild schwang die Faust in seine Richtung. Tauno trat zwischen sie. »Schluß damit!« befahl der ältere Bruder. »Wir wissen, welche Arbeit getan werden muß und wie die Beute zu verteilen ist. Die Grenzlinie zwischen uns soll besser nicht übertreten werden – von keiner Seite aus.«
Ranild spuckte aus und stampfte mit einem Fluch davon. Seine Männer murrten.
Bald danach fand Niels sich auf dem Achterdeck von vieren, die Wache hatten, eingekreist. Sie knufften und verhöhnten ihn, und als er ihnen nicht Rede und Antwort stehen wollte, zogen sie die Messer und sprachen davon, sie wollten ihn so lange schneiden, bis er es täte. Später hätten sie sicher gesagt, das sei nicht ihr Ernst gewesen. Aber darauf konnte Niels sich im Augenblick nicht verlassen. Er durchbrach den Kreis, hastete die Leiter hinunter und rannte nach vorn.
Die Kinder des Wassermanns schliefen unter dem Vordeck. Es war ein blauer Tag mit feiner frischer Brise; ein paar Segel waren am Horizont zu erblicken, und die Schwingen der Möwen verrieten, daß Land In der Nähe war.
Die Schläfer erwachten schnell wie Tiere. »Was ist denn jetzt los?« fragte Eyjan und trat neben den Menschenjüngling. Sie zog ihren Stahldolch, der wie die Waffen ihrer Brüder von Ingeborg mit etwas Liri-Gold gekauft worden war. Tauno und Kennin stellten sich links und rechts von den beiden auf, die Harpunen in der Hand.
»Sie ... oh ... sie ...« Niels' Wangen wurden abwechselnd rot und weiß. Die Zunge versagte ihm den Dienst.
Oluv Ovesen trat mit wiegendem Schritt vor Torben, Palle und yge. (Ranild und Ingeborg schliefen unten, Lave war am Ruder, Sivard als Ausguck im Krähennest. Die beiden letzteren sahen voller Vergnügen zu und miauten dabei.) Der Maat zwinkerte mit seinen weißen Wimpern und zog die Lippen von seinen gelben Zähnen zurück. »Wer soll der nächste sein, du Hure?« erkundigte er sich.
Eyjans Augen waren feuersteingrau, sturmgrau. »Was meinst du, wenn ein kläffender Köter überhaupt etwas meinen kann?« fragte sie.
Oluv blieb zwei Ellen vor den drohenden Speeren stehen. Zornig ließ er hervor: »Tyge war heute nacht am Ruder und Torben im Mastkorb. Sie haben gesehen, daß du mit diesem Milchbart unter das Vor-deck gegangen bist. Sie hörten, wie ihr beiden geflüstert und gestöhnt and euch herumgewälzt habt.«
»Und was hat meine Schwester mit dir zu tun?« fuhr Kennin auf.
Oluv wackelte mit dem Zeigefinger. »Das: Wir haben uns wie anständige Männer verhalten und sie in Ruhe gelassen«, erklärte er, ,aber wenn sie für einen die Beine spreizt, tut sie es für alle.«
»Warum?«
»Warum? Weil wir das hier alle gemeinsam unternehmen. Und außerdem, welches Recht hat eine Seekuh, sich hochmütig zu zeigen und ihre eigene Wahl zu treffen?« Oluv lachte dreckig »Ich komme zuerst dran, Eyjan. Mit einem richtigen Mann wirst du mehr Spaß haben, das verspreche ich dir.«
»Geht weg«, antwortete das Mädchen, bebend vor Zorn.
»Es sind drei«, wandte Oluv sich an seine Kameraden. »Klein-Niels rechne ich nicht mit. Lave, binde das Ruder fest. Hallohoi, Sivard, komm herunter!«
»Was habt ihr vor?« fragte Tauno mit ruhiger Stimme.
Oluv klopfte mit einem Fingernagel an seine Zähne. »Oh, nicht viel, Fischmann, wenn ihr vernünftig seid, du und dein Bruder. Wir werden euch für eine Weile fesseln, mehr nicht. Ansonsten – Vorsichtig mit der Lanze da! Wir haben Piken und Armbrüste, die wir holen können, denke daran, und wir sind sechs gegen euch.« Er lachte. »Sechs! Eure Schwester wird sich noch bei uns bedanken.«
Eyjan schrie wie eine Katze. Kennin knurrte: »Vorher sehe ich dich im schwarzen Schlamm!« Niels stöhnte, Tränen traten ihm in die Augen, mit der einen Hand zog er das Messer, die andere streckte er nach Eyjan aus. Tauno winkte sie zurück. Sein Seevolk-Gesicht zwischen den windzerzausten Locken war unbewegt.
»Ist das euer unabänderlicher Wille?« fragte er betont tonlos. »Das ist es«, erwiderte Oluv.
»Ich verstehe.«
»Ihr und sie ... seid seelenlos ... zweibeinige Tiere. Tiere haben keine Rechte.«
»O doch, die haben sie. Aber Schmutz hat keine. Viel Vergnügen, Oluv.« Und Tauno griff mit seiner Harpune an.
Der Maat schrie auf, als die Zinken sich in seinen Bauch bohrten. Er fiel auf das Deck, zappelte und spuckte Blut, wimmerte und stöhnte. Tauno sprang hin und ergriff den jetzt locker gewordenen Schaft. Ihn wie eine Keule schwingend, drang er auf die Matrosen ein. Seine Geschwister und Niels kamen hinter ihm. »Tötet sie nicht!« brüllt Tauno. »Wir brauchen ihre Arbeitskraft!«
Niels erhielt keine Gelegenheit zum Kampf. Seine Kameraden waren zu schnell. Kennin stieß Torben die steifen Finger in die Mitte, wirbelte herum und traf Palle mit dem Knie in die Lenden. Taunos Harpunenschaft warf Tyge zu Boden. Eyjan sprang Lave an, der von achtern angerannt kam; sie hielt ihn auf, kurz bevor sie zusammenprallten. Mit der Hüfte schleuderte sie seinen Körper gegen die Vordeckleiter, an die sein Schädel krachte. Sivard kletterte den Mast wieder nach oben. Damit war alles entschieden.
Mit Geheul tauchte Ranild aus der Luke auf. Als er sich den drei Geschwistern und einem kräftigen Jungen gegenübersah, konnte er nicht anders, als zuzustimmen, wenn auch sehr mürrisch, daß Oluv Ovesen an seinem Tod selbst schuld war. Ingeborg half, indem sie alle erinnerte, dadurch werde die Beute in weniger Teile gehen. Eine Art von Waffenstillstand wurde zusammengeflickt. Oluvs Leichnam ging über Bord. Man hatte ihm einen Stein aus dem Ballast an die Knöchel gebunden, damit er seinen Schiffsgefährten kein Unglück bringe, indem er wieder auftauchte und sie ansah.
Danach sprachen Ranild und seine Männer kein unnötiges Wort mehr mit den Kindern des Wassermanns – und auch mit Niels nicht, der bei seinen Freunden schlief, um kein Messer in die Nieren zu bekommen. In dieser Enge konnte der Junge nichts anderes mehr tun, als Eyjan still zu verehren. Sie lächelte und streichelte ihm die Wange, aber geistesabwesend. Ihre Gedanken waren anderswo, und oft war es auch ihr Körper.
Ingeborg suchte Tauno vorne im Bug auf und warnte ihn, die Mannschaft habe nicht die Absicht, diejenigen, die sie haßten, noch viele lage am Leben zu lassen, nachdem das Gold an Bord war. Sie brachte die Männer zum Sprechen, indem sie vorgab, das Liri-Volk zu verabscheuen. Freundschaft habe sie mit ihnen im gleichen Sinn geschlossen, wie man ein Hermelin seines Pelzes wegen in eine Falle lockt.
»Deine Mitteilung ist keine Überraschung«, meinte Tauno. »Wir werden den ganzen Weg nach Hause beobachten und wachsam sein.« Er betrachtete sie. »Wie dünn du geworden bist.«
»Leichter war es unter den Fischern«, seufzte sie.
Er nahm ihr Kinn in seine Handfläche. »Wenn wir heil und gesund zurückkommen, wirst du alle Freiheit der Welt haben. Tun wir es nicht, hast du Frieden.«
»Oder die Hölle«, sagte sie müde. »Doch ich bin weder für die Freiheit noch für den Frieden mitgekommen. Von nun an bleiben wir am besten auseinander, Tauno, damit sie nicht denken, wir seien ein Herz und eine Seele.«
Was Eyjan und ebenso ihre Brüder beschäftigt hielt, war die Suche nach dem untergegangenen Averorn. Das Seevolk wußte immer, wo es war, aber die Halbblutkinder wußten nicht, wo genau ihr Ziel innerhalb von zwei- oder dreihundert Seemeilen lag. Sie schwammen hinaus und fragten vorbeiziehende Delphine – nicht auf Menschenart, denn diese Wesen benutzten keine Sprache, aber das Seevolk hat Mittel, Hilfe von Geschöpfen zu erhalten, die sie als ihre Vettern ansehen.
Und sie erhielten tatsächlich Hinweise, die immer genauer wurden, je näher das Schiff herankam. Ja, ein böser Ort sei es, sagte Fischgreifer, eine Krakenhöhle, ah, bleibt ihr ja fern ... es stimmt, daß die Kraken wie andere kaltblütige Tiere lange Zeit ohne Nahrung auskommen können, doch dieser eine muß nach den Jahrhunderten, in denen er nichts gehabt hat als hin und wieder einen Wal, der sich hierher verirrte, nach Futter gieren ... er bleibt da, sagte Glattflosse, weil er immer noch glaubt, es sei sein Averorn, er hockt auf den versunkenen Schätzen und Türmen und den Gebeinen, die ihn einmal verehrt haben ... er ist gewachsen, habe ich gehört, und jetzt reichen seine Arme vom einen zum anderen Ende des in Trümmern liegenden Hauptplatzes ... nun ja, der alten Zeiten wegen werden wir euch hinführen, sagte Gischtbug, aber erst bei abnehmendem Mond, denn dann legt er sich schlafen, doch er kann sehr schnell aufwachen ... nein, mehr können wir nicht tun, nein, wir haben viele geliebte Kinder, an die wir denken müssen ...
Auf diese Weise erreichte die Herning endlich die Stelle im Ozean, unter der sich das versunkene Averorn befand.