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Jetzt, wo der Vodianoi fort war, wurde der Winter für die Vilja eine Zeit völliger Einsamkeit. Im Wasser gab es nichts als Fische, die niemals Gesellschaft für sie und obendrein zu dieser Jahreszeit schläfrig waren und sie selten mit ihrer schimmernden Sommer-Anmut erfreuten. Die Frösche quakten nicht in der Dämmerung, sondern schliefen, tief im Schlamm verborgen. Schwäne, Gänse, Enten, Pelikane waren davongezogen; was an Vögeln in der Nähe des Sees blieb, waren keine Schwimmer oder Taucher, und ihre Rufe klangen dünn über den Schnee und die blattlosen Zweige hin.

Die Vilja trieb im Wasser und träumte. Weiß und schlank war sie im trüben Licht. Ihr Haar bildete eine bleiche Wolke um sie. Große Augen von der Farbe des Himmels, wenn ihn leichter Nebel verhüllt, bewegten sich nicht, zwinkerten nicht, richteten sich niemals auf irgend etwas, das ein lebendes Wesen vielleicht gesehen hätte. Auch die sanfte Rundung ihres Busens hob sich nicht.

So war sie Tage, Wochen, Monate dahingetrieben – sie rechnete es nicht nach, denn für sie hatte die Zeit aufgehört zu sein – , als das Wasser aufgerührt wurde, weil jemand kam. Als die Wellen stärker wurden, erwachte sie zum Bewußtsein. Sie streckte sich, stieß sich ab und schoß in einem Bogen auf das Ufer zu. Auch wenn die Wellen, die sie hervorrief, nur schwach waren, fühlte der Neuankömmling sie doch und schwamm auf sie zu. Erst nur ein schwankender Schatten, nahm er bald feste Formen an. Wärme strahlte von ihm aus, Kraft, Leben. Seine Bewegungen erzeugten Strömungen, Strudel, liebkosende Wirbel; Blasen tanzten aufwärts.

Er und sie hielten einen Schritt voneinander an. Sie blieben auf dem Wasser liegen und betrachteten sich.

Er war nicht nackt wie sie; außer Stirnband und Messergürtel trug er ein Tuch um die Lenden. Hoch von Gestalt, mit heller Haut, goldenem Haar, grünen Augen unterschied er sich kaum von gewöhnlichen Männern bis auf seine Bartlosigkeit, die Schwimmhäute zwischen den Zehen und die Fähigkeit, unter Wasser zu atmen. Doch für jemanden aus der Halbwelt waren die äußerlichen Kennzeichen ohne Bedeutung neben seiner flammenden Persönlichkeit. In ihm war eine menschliche, eine christliche Seele.

»Oh, willkommen, sei mir willkommen«, murmelte die Vilja, als sie Mut gefaßt hatte. Ihre Stimme, die seine Wassermann-Ohren deutlich erreichte, bebte ebenso wie ihr Lächeln.

Streng erwiderte er: »Was glaubst du, warum ich hier bin?«

Sie wich zurück. »Du ... du bist nicht er ... die Erinnerung ist wie Nebel, aber vor einem und noch einem Herbst – hast du da den Vodianoi vertrieben?«

»Der, der ich damals war, hat es getan«, antwortete die tiefe Stimme. »Du hattest Angst vor mir.« Die Vilja mußte kichern. »Vor mir! Du!«

Die Vorstellung rief Heiterkeit bei ihr hervor. Sie breitete die Arme für ihn aus. »Du hast erfahren, daß ich dir nichts zuleide tun würde? Wie mich das froh macht! Laß mich dich erfreuen.«

»Sei ruhig, böser Geist!« brüllte er.

Verwirrt wich sie vor seinem Zorn zurück. »Aber, aber ich würde dir wirklich nichts tun«, stammelte sie. »Wie könnte ich das? Warum sollte ich das wollen, ich, die ich niemanden zum Freund habe?«

»Tentakel der Dunkelheit ...”

»Wir würden glücklich zusammen sein, im Sommer im grünen Wald, im Winter im Wasser. Ich könnte mich an deiner Brust wärmen, und du hättest mich als kühlen Wasserfall, als deine mondbeschienene Blätterkrone ...«

»Genug! Du ziehst Männer zur Hölle hinunter!«

Die Vilja erschauerte und verstummte. Wenn sie weinte, so trank der See ihre Tränen.

Der Mann beruhigte sich. »Oh, vielleicht weißt du selbst nicht, was du bist«, sagte er. »Vater Tomislav fragt sich, ob Judas wirklich erkannte, was er tat, bis es zu spät war.«

Er hielt inne und beobachtete sie wachsam. Als sie sah, daß sein Zorn verraucht war, vergaß sie ihren Kummer auf ihre quecksilbrige Art sofort, wagte ein ganz kleines Lächeln und fragte: »Judas? Sollte ich ihn kennen? ... Ja, vielleicht habe ich einmal von ihm gehört – aber es ist mir wieder entfallen.«

»Vater Tomislav«, sagte er, als schlage er mit einer Axt zu.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« Stirnrunzelnd, den Finger an der Wange: »Ich meine ja. Jemand Liebes, ist er das nicht? Aber es ist schwer, sich hier unten zu erinnern. Alles ist so still. Vielleicht, wenn du mir erzähltest ...« Sie fuhr zusammen. Ihre Augen wurden noch größer. »Nein!« schrie sie, die Hände erhoben, als wolle sie einen Schlag abwehren. »Bitte, erzähle es mir nicht!«

Er seufzte, so gut das unter Wasser ging. »Armer Geist, ich glaube, du sprichst die Wahrheit. Ich werde fragen, ob ich für dich beten darf.«

Die Entschlossenheit kehrte zurück. »Trotzdem, heute bist du eine Verlockung zur Verdammnis«, erklärte er. »Männer, die im vergangenen Jahr zum ersten Mal wieder im See gefischt haben, konnten dich durch die Dämmerung gleiten sehen. Einige hörten dich nach ihnen rufen, und es kam sie hart an, sich soviel Süße zu verweigern. Sie werden in immer größerer Zahl erscheinen. Du darfst keine einzige Seele an dich ziehen. Ich bin gekommen, um mich dessen zu vergewissern.«

Sie zitterte, denn dies war der Mann, der den Vodianoi besiegt hatte.

Er zog sein Messer, faßte es an der Klinge und streckte es ihr als eine Art Kreuz entgegen. »Um des Mannes willen, der mich getauft hat, will ich dich nicht töten«, klangen seine Worte. »Es mag sein, daß sogar du irgendwie gerettet werden kannst. Aber gewiß ist, daß niemand verdammt werden darf ... durch deine Schuld.

Du wirst keine Christen mehr verlocken, Nada. Auch keine mutwilligen Streiche mehr spielen, keinen Wind erheben, der die Wäsche einer Frau vom Rasen weht, oder ihr das Kind aus der Wiege stehlen, wenn ihr in der Mittagspause bei der Ernte die Augen zufallen ...«

»Ich habe sie doch nur für ein Weilchen lieb«, flüsterte sie. »Ich gebe sie immer bald wieder zurück. Ich habe keine Milch für sie.«

Er beachtete das nicht, sondern fuhr fort: »Du wirst in Hörweite von Menschen nicht mehr singen; es erzeugt Träume, die man besser schlafen läßt. Verschwinde aus unserem Gesichtskreis. Sei für die Kinder Adams – die geborenen und die adoptierten – , als habe es dich nie gegeben.

Andernfalls werde ich selbst dich jagen. Ich werde einen Wermutzweig bei mir haben, dessen Geruch du nicht ertragen kannst, und dich damit einmal und zweimal schlagen. Tust du zum dritten Mal, was dir verboten ist, komme ich und bringe einen priesterlichen Segen mit und Weihwasser, um dich in die Hölle zu schicken.

In der Hölle wirst du brennen, du Ding aus Blättern und Nebel und Strömungen. Feuer wird dich ohne Ende verzehren, und niemals wird dich ein Tautropfen, niemals eine Schneeflocke in deiner Qual erreichen. Hast du verstanden?«

»Ja«, schluchzte sie und entfloh.

Er blieb im See, bis von ihr nichts mehr zu sehen und zu hören war, bis es wirklich den Anschein hatte, sie habe sich in nichts aufgelöst.