3

Ein voller Mond stand hoch in einem frostigen Ring. Nur wenige Sterne leuchteten durch seine Helligkeit, die die Wipfel der Bäume rings um den See im Rauhreif schimmern ließ und auch die kleinste Welle mit Silber bestreute. Ein Wind trug Herbstkühle heran und raschelte durch sterbende Blätter.

Der Vodianoi erhob sich vom Grund und schwamm zum Ufer. Er wurde alt, wenn der Mond abnahm, jung, wenn er zunahm; diese Nacht hatte er das höchste Ausmaß seiner Macht und seines Hungers erreicht. Sein Körper von der Größe dreier Schlachtrosse, auf dem Moos und nachschleppende Schlingpflanzen wuchsen, war wie der eines Mannes gestaltet, nur daß er einen dicken Schwanz, lange Zehen mit Schwimmhäuten und mit Klauen versehene Vordertatzen hatte. Das Gesicht war flach mit Borsten um den höhlenartigen Mund. Die Augen glühten rot wie Kohlen.

Als sein Bauch den Boden berührte, hielt er an. Durch die Dunkelheit unter den Bäumen klang ein Geräusch an seine Ohren, als würden Büsche zur Seite gebogen und als kämen Schritte näher. Was Menschen hier auch nach Dunkelwerden zu suchen hatten, vielleicht war einer von ihnen unvorsichtig genug, in den See hinauszuwaten. Der Vodianoi lag still da wie ein Stein. Die silberglänzenden Furchen, die er durchs Wasser gezogen hatte, glätteten sich.

Eine Gestalt glitt aus dem Schatten und verhielt auf dem Gras am Rand des Wassers: aufrecht, schlank, weiß wie der Mond. Lachen perlte. »Oh, du Dummer! Ich will dir zeigen, wie man sich auf die Lauer legt.« Schnell wie der Wind flog sie in eine nahe stehende Eiche. »Hier hast du etwas zu essen!« Eicheln sausten durch die Luft und prallten von der Haut des Ungeheuers ab.

Vor Zorn stieß er ein donnertiefes Grunzen aus. Ständig in diesen letzten drei Jahren hatte die Vilja ihn geärgert. Er hatte sich sogar mühsam ein paar Schritte aufs Land gewälzt und versucht, sie zu fangen, was ihm nichts als ihren Spott eingebracht hatte. Bald mußte sie den Wald verlassen, weil sie den Winter unter der Oberfläche von See und Fluß zu verbringen pflegte, aber das nützte dem Vodianoi nichts. Obwohl die Kälte sie schläfrig machte, blieb sie doch immer zu wachsam und zu schnell für ihn. Außerdem wußte er in seinem trüben Verstand recht gut, wenn er nicht gerade vor Wut außer sich war, daß er wahrscheinlich einem solchen Geist gar nichts anhaben konnte. Das einzig Gute war, daß sie ihn in der kalten Jahreszeit nur wie eine Schlafwandlerin grüßte, wenn sie sich begegneten.

»Ich weiß«, rief sie, »du hoffst, du bekommst eine Beute zu packen, schöner Mann. Das wirst du aber nicht.« Mit einer Handbewegung ließ sie einen kleinen Wirbelwind um ihn kreisen. »Sie gehören mir, diese Reisenden.« Ihre Stimmung schlug um. Der Wind erstarb. »Aber warum sind sie des Nachts unterwegs?« fragte sie sich selbst mit einer Stimme, die ihre Verwirrung verriet. »Und sie tragen kein Feuer mit sich, um dabei zu sehen. Männer würden Feuer mitbringen – richtig? Ich kann mich nicht erinnern ...«

Auf ihrem hohen Sitz umarmte sie ihre Knie, schaukelte sich vor und zurück, ließ ihr helles, wolkiges Haar in einer Brise flattern, die kaum eine Locke derjenigen, die sich näherten, bewegte. Plötzlich rief sie: »Es sind keine Menschen – die meisten von ihnen – , keine wirclichen Menschen.« Sie kletterte höher, um sich zu verstecken.

Der Vodianoi zischte ihr nach, ließ sich unter die Oberfläche sinken und wartete.

Die Meermenschen kamen aus dem Wald. Zwanzig waren es, angeführt von Vanimen, nackt bis auf die Messergürtel, aber mit Fischspeeren und Reifennetzen in den Händen. Iwan Subitsch befand sich unter dem halben Dutzend Menschen, die als Beobachter mitgekommen waren. Von Gefährten geführt, deren Feenaugen im Dunkeln sehen konnten, waren sie vorangestolpert. Nun kniffen sie die Augen geblendet zusammen, als sich plötzlich das Mondlicht über sie ergoß.

»Dort ist er!« rief Vanimen. »Wir haben ihn schon gefunden. Ich dachte mir, daß es uns helfen würde, auf jede Flamme zu verzichten.« Iwan strengte die Augen an. »Ein Felsblock?« fragte er.

»Nein, seht genau hin, achtet auf diese glimmenden Augen.« Vanimen hob sein Messer und sagte etwas in seiner eigenen Sprache.

Die Wassermänner wateten hinaus. Mit Freudengebrüll und aufblitzenden Fangzähnen schlug der Vodianoi nach dem nächsten. Das flinke Geschöpf entschlüpfte ihm. Er jagte einen zweiten und hatte ebensowenig Erfolg.

Jetzt schwammen er und sie. Die Wassermänner kreisten ihn ein, höhnten, stachen ihn mit ihren Speeren. Der Vodianoi tauchte. Sie folgten ihm.

Eine Minute lang brodelte und spritzte das Wasser.

Stille trat ein, der See beruhigte sich wieder, der Himmel versank von neuem in seine eisigen Träume. Verloren klang die Stimme eines Soldaten auf: »Der Kampf findet in solcher Tiefe statt, daß wir ihn nicht sehen können.«

»Falls es ein Kampf ist«, antwortete ein Kamerad. »Das Ding ist unsterblich bis zum Jüngsten Gericht. Eisen verletzt es nicht. Welche Aussichten haben Eure Jäger, Herr, so zauberisch sie sein mögen?«

»Ihr Anführer hat mir von verschiedenen Maßnahmen berichtet, mit denen er es versuchen will«, antwortete Iwan. Er gehörte nicht zu jenen, die sich Untergebenen anvertrauten. »Welches die beste ist, muß er herausfinden.«

»Wenn das Ungeheuer nicht seine ganze Schar tötet«, meinte ein dritter Mann. »Was dann?«

»Dann müssen wir bis Tagesanbruch, wenn wir nach Hause finden können, hierbleiben«, stellte der Zhupan fest. »Das Monstrum kann uns an Land nicht fangen.«

»Es gibt andere Wesen, die es können.« Der zweite Soldat blickte ringsum. Mondstrahlen glänzten auf seinen Augenbällen und machten sie zu Spiegeln.

Iwan hob das Kreuz, das er um den Hals trug. Er hatte eine ausgehöhlte Stelle, die mit einem Kristall verschlossen war. »Hierin ist ein Fingerknochen des heiligen Martin«, sagte Iwan. »Betet wie gläubige Christen, und keine Macht der Dunkelheit kann uns schaden.«

»Euer Sohn Mihajlo hat anders gedacht«, wagte ein Soldat zu murmeln.

Der Zhupan hörte es und schlug ihm auf die Wange. Der Schlag rief ein Echo hervor. »Halt den Mund, du Esel!« Männer bekreuzigten sich in dem Glauben, daß Zwietracht Übel heraufbeschwöre.

Langsam verstrichen die Stunden. Die Kälte nahm zu. Die Wartenden erschauerten, stampften mit den Füßen, steckten die Hände in die Achselhöhlen. Ihr Atem dampfte. Etwas Weißes bewegte sich ruhelos im Wipfel einer großen Eiche, aber keiner legte Wert darauf, es sich genauer anzusehen.

Der Mond ging unter, als sich ein Aufschrei ihren Kehlen entrang. Dunkelheit hatte sich auf die Lichtung herabgesenkt. Eine entsetzliche Gestalt kam auf die Männer zu. Sie blieb in einiger Entfernung stehen, doch das war nahe genug, daß sie sehen konnten, wie die Meermenschen Wasser traten, um den Vodianoi einzukreisen.

Vanimen schwamm ins seichte Wasser, stand auf und kam zu den Menschen. Wasser tropfte von ihm wie Quecksilber. Stolz strahlte von ihm aus wie die Sonne, die bald aufgehen mußte. »Der Sieg ist unser!« verkündete er.

»Gott sei gepriesen!« jubelte Iwan. Gleich darauf kehrte die Nüchternheit des Kriegers zurück. »Seid Ihr sicher? Was habt Ihr getan? Was wird nun geschehen?«

Vanimen kreuzte die Arme über der mächtigen Brust und lachte. »Töten konnten wir ihn nicht. Aber selbst in dieser Nacht seiner größten Kraft schwimmen wir besser als er. Unsere Waffen verursachten Schmerz. Keinen von uns hat er ergriffen, während wir ihn quälten, bis er es nicht mehr ertragen konnte. Außerdem zeigten wir ihm, wie wir Fische fangen. Auch darin kann er es nicht mit uns aufnehmen. Wir können sie ihm vor der Nase wegschnappen, sie verscheuchen, ihn dem Hunger preisgeben.

Endlich machten wir ihm mittels eines Zaubers, der verstehen hilft, klar, daß wir es auf diese Weise so lange wie nötig weitertreiben würden. Er solle sich die Qual lieber ersparen und davonziehen. Wir werden ihn flußaufwärts geleiten, an Eurer Stadt vorbei, und ihn im unbewohnten Hochland freilassen. Er wird Euch keinen Kummer mehr machen.«

Iwan umarmte ihn. Die Soldaten brachen in begeisterte Rufe aus. Die Meermänner antworteten fröhlich vom Wasser her. Der Vodianoi gab sich seiner Verzweiflung hin.

»Folgt uns am Ufer entlang«, riet Vanimen. »Wir werden in eurer Sichtweite bleiben.« Er kehrte zu seinen Gefolgsleuten zurück.

Die weiße Gestalt glitt durch die welkenden Blätter hinunter. Viele lösten sich von den Zweigen, als sie von einem niedrigen Ast zur Erde sprang. »Nein, nein«, sang sie. »Wollt ihr den armen, alten, häßlichen Kerl vertreiben? Hier ist seine Heimat. Der See wird einsam sein ohne ihn, ein Wunder wird verschwunden sein, und mit wem soll ich dann spielen?«

Schweiß perlte auf Iwans Haut, er erschauerte, aber als er vorschritt, geschah es nicht voll Furcht, sondern in Haß und Zorn. »Dämon, Geist, höllischer Seelendieb!« schrie er. »Hebe dich hinweg! Zurück zu deinem Grab, zurück zu deiner Hölle!«

Er schlug mit seinem Schwert zu. Irgendwie traf es nicht. Die Vilja hob die Hände. »Warum bist du so böse? Sei nicht böse«, flehte sie. »Bleib. Du bist so warm, ich bin so allein.«

Iwan ließ die Klinge fallen und hob das Kreuz. »Im Namen der Heiligen Dreieinigkeit und St. Martins, dessen Banner St. Stefan in die Schlacht trug, gehe!«

Die Vilja wirbelte herum und rannte in den Wald. Sie hinterließ im Rauhreif viel unscheinbarere Fußabdrücke, als es bei einer Frau der Fall gewesen wäre. Sie hörten ihr Schluchzen, das plötzlich in Lachen überging, und dann gab es keine Spur mehr von ihr.

 

Glocken läuteten freudig, bis ganz Skradin klang. Niemand arbeitete, außer um ein Fest vorzubereiten, das am Nachmittag begann und bis nach Sonnenuntergang dauerte.

Denjenigen, die vor Tagesanbruch wach gewesen waren, hatte sich ein unheimlicher Anblick geboten, als der Vodianoi, bewacht von den Wassermännern, vorbeikam. Es war, als habe sich die Welt – Burg, Kirche, Stadt, Häuser, Felder, der Ablauf der Stunden und das Jahr, das von Ostern bis Ostern gemessen wurde – wie ein Schleier geteilt, so daß die Menschen einen Blick auf das erhaschen konnten, was sonst vor ihnen verborgen war. Und es war kein reinlicher Himmel, sondern uralte, niemals endende Wildheit.

Im ersten Tageslicht, als Vanimens Jäger mit dem Zhupan und seiner Begleitung zurückkehrten, war alle Angst vergessen. Man sprach darüber, die Fischerei wieder aufzunehmen. Sicher, es war immer noch gefährlich, den tiefen Wald zu betreten. Noch für Generationen würde er nicht gerodet sein. Doch das Holzfällen schritt weiter fort, Jahr für Jahr, das Ackerland dehnte sich aus, die Häuser vervielfältigten sich; die Landwirtschaft hatte einen beträchtlichen Bogen des Seeufers gezähmt. Nun, da das Ungeheuer fort war, sollte es sicher sein, Boote von dieser Stelle aus aufs Wasser zu lassen. Man durfte nur nicht zu nahe an das bewaldete Ufer heranrudern.

Der Zhupan bestätigte die guten Neuigkeiten. Er hatte gesehen, wie der Vodianoi seine Besieger verließ und sich langsam flußaufwärts davonmachte, keuchend, manchmal nicht imstande zu schwimmen, manchmal über Felsen tappend, die ihm weh taten, bis er außer Sicht geriet. Man sah ihm an, daß sein Mut gebrochen war. Vielleicht war er lange vor dem Jüngsten Gericht zum Untergang verurteilt; die Hoffnungslosigkeit mochte in ihm den Wunsch wecken, seine Gebeine zur Ruhe zu legen.

Vater Petar hielt eine Dankmesse ab, doch mit einem etwas sauren Gesicht. Danach begannen die Lustbarkeiten. Die nächste Wiese füllte sich mit Volk in Feiertagsgewändern, gestickten Westen, weiten Blusen, schwingenden Röcken, die die Knöchel beim Tanz enthüllten. Ein Ochse briet über einem großen Feuer, aus Kesseln dampften über kleineren Kochstellen würzige Düfte, Bier, Met, Wein gurgelten aus Fässern. Dudelsäcke, Flöten, Hörner, Trommeln, einsaitige Fiedeln klangen durch das Stimmengewirr.

Frei unter den Bauern bewegte sich das Volk von Liri. Iwan Subitsch hatte ihre Gefangenschaft auf eigene Verantwortung aufgehoben. Er sorgte sich nicht, ob sie ihr Wort brechen und fliehen würden. Heute wurde ihnen Freundschaft entgegengebracht, und ihr Morgen war voller Hoffnung. Des Anstands wegen hatte er dafür gesorgt, daß sie bekleidet waren, obwohl dies größtenteils in geliehenen Sachen sein mußte, die alt waren und schlecht paßten. Die Liri-Leute maßen dem wenig Bedeutung bei, dazu waren sie zu glücklich, daß sie wieder zusammen sein durften. Außerdem wurden die Kleider schnell wieder ausgezogen, wenn ein Mann und eine Frau das Dorf verlassen und ein Gebüsch oder eine von Bäumen abgeschirmte Stelle am Flußufer gefunden hatten.

Wer am lautesten und fröhlichsten feierte, war Vater Tomislav. Er war mit Vanimen hergekommen, nachdem Iwan den Vorschlag des Wassermanns gebilligt hatte, und nur mit Mühe hatte man ihn davon abhalten können, sich der Expedition anzuschließen. Jetzt, als die Männer sich die Hände reichten und rings um einen Kessel den Kolo zu tanzen begannen, feuerte er sie mit lauten Zurufen an: »Hei, hop! Hoch das Bein! Springt wie David vor der Bundeslade!« Und zu hübschen Mädchen, an denen er vorüberwirbelte: »Wartet nur, Kinder, bis wir und ihr eine Reihe bilden!«

Vanimen und Meiiva hatten sich für die lange Trennung schadlos gehalten. Sie betraten die Wiese, als der Kolo endete. Luka, der Sohn Iwans, drängte sich durch die Menge, um sie zu begrüßen. Er war ein schlanker Bursche, dessen buntes Festtagsgewand nicht mit seinem nachdenklichen Gesicht übereinstimmte. Von Anfang an hatte er sich sehr zu dem Seevolk hingezogen gefühlt, war begierig gewesen, alles über diese Leute zu lernen, war ständig für bessere Behandlung eingetreten. Nach Vanimens Tat bewunderte er die Meerleute sogar.

»Heil!« rief er durch den Lärm ringsum. »Ihr seht ernst aus. Ihr solltet fröhlich sein. Kann ich euch irgendwie helfen?«

»Danke, aber ich glaube nicht«, antwortete der Liri-König. »Was ist denn geschehen?«

»Ich werde es später deinem Vater mitteilen. Jetzt will ich keinen Schatten auf dein Vergnügen werfen.«

»Nein, ich bitte dich, sag es mir. Vielleicht kann ich etwas tun.«

»Nun ... « Vanimen faßte einen Entschluß. Meiiva, die noch nicht hrvatskanisch sprechen konnte, wich unauffällig in den Hintergrund zurück. »Nun, wenn du es so haben willst, Luka. Hast du gehört, daß wir am See eine Rousalka getroffen haben?«

Der junge Mann riß die Augen auf. »Was sagst du da?

»Eine Rousalka. Der Geist eines Mädchens, das in dem Wasser spukt, wo es ertrunken ist.«

»Oh.« Luka mußte erst einmal Atem holen. »Die Vilja. Du hast sie gesehen?« Er machte eine Pause. »Nein, ich habe nichts davon gehört. Es ist eine Sache, über die die Männer lieber nicht sprechen.«

»Ist ›Vilja‹ euer Wort dafür?« fragte Vanimen. »Ich hatte einmal weit weg im Norden mit einer von dieser Art zu tun. Deshalb erkannte ich, was es war. Entsetzen erfaßte mich, und ich floh. Diese Schande nagt in meiner Brust. Dein Vater vertrieb den Geist, doch als ich ihm hinterher zu erklären versuchte, warum der Mut mich verlassen hatte, sagte er, er wolle es lieber nicht hören.«

Luka nickte. »Ja, er hat seine Gründe. Doch glaube ich, er wird sie dir enthüllen, wenn du ihn darum bittest. Die Sache ist kein Geheimnis – schmerzlich, aber nicht entehrend.«

»Solch eine ... Vilja ... macht unseren Triumph zu Spott«, sagte Vanimen. »Ich höre, wie die Männer sich an der Vorstellung begeistern, wieder zu fischen, wobei ihnen mein Stamm helfen könnte. Haben sie keinen Verstand? Der Vodianoi konnte sie nur fressen. Warum fürchten sie sich nicht vor dem, was die Vilja ihnen antun wird?«

»Was könnte das denn sein?” fragte Luka überrascht. »Doch nur kleine Bosheiten, wie die Leschi sie begehen – da weht ein Wind jemandes Wäsche vom Gras weg, da wird ein Säugling seiner Mutter fortgenommen, wenn sie gerade nicht hinsieht, doch ist er immer bald wieder zurückgegeben worden – und ein Zweig Wermut kann sie fernhalten. Natürlich würde ein Mann, der sich von der Vilja verlocken ließe, eine Todsünde begehen. Aber das wird bestimmt niemand tun, und sie scheint es auch noch nie versucht zu haben. Schließlich ruft ein Geist an sich schon Entsetzen hervor. Ich weiß Bescheid, Vanimen, ich wünschte, ich wüßte weniger darüber.«

Der Wassermann betrachtete den jungen Mann forschend. »Wie kommt das?«

Luka erschauerte im Sonnenlicht, in Lärm und Musik und Rauch. »Ich war mit meinem Bruder auf jener Jagd vor zwei Jahren, als sie ihn erkannte. Auch ich habe ihr Gesicht gesehen, das Gesicht Nadas, die sich im Jahr zuvor ertränkte ...«

Eine Hand packte ihn beim Kragen und warf ihn zu Boden. »Du lügst!« brüllte Vater Tomislav. Er war unbemerkt nähergekommen und hatte dem Gespräch zugehört. »Wie alle übrigen lügst du!«

Über dem auf der Erde liegenden Jungen stehend, inmitten einer Stille, die sich schnell ausbreitete, inmitten von Augen, die auf ihren Ausgangspunkt starrten, wurde der Priester Herr seines Anfalls. »Nein, du lügst nicht, ich will glauben, daß du nicht lügst«, sagte er mit schwerer Zunge. »Eine zufällige Ähnlichkeit oder eine List Satans hat dich getäuscht. Es tut mir leid, Luka. Verzeihe mir meine Unbeherrschtheit.« Er sah von einem zum anderen. Tränen stürzten ihm aus den Augen. »Meine Tochter war keine Selbstmörderin«, krächzte er. »Sie ist kein verdammter Schatten. Sie ruht in Schibenik, in heiliger Erde. Ihre Seele ist ... ist im ... Paradies ...« Er stolperte davon. Die Menge teilte sich, um ihn hindurchzulassen.

 

Regen schlug in dieser sturmdurchheulten Nacht gegen die Burgmauern. Kälte kroch aus dem Stein, durch die Wandbehänge, und Dunkelheit belagerte die Lampen. Iwan Subitsch saß Vanimen von Liri an einem Tisch gegenüber. Er hatte seine Diener entlassen, seine Frau aber gebeten aufzubleiben. Sie saß in einer Ecke und wärmte sich, so gut es ging, an einem Kohlenbecken, bis er nach mehr Wein winkte.

»Ja«, sagte er, »es ist besser, wenn ich Euch die ganze Geschichte erzähle. Andernfalls könntet Ihr den See meiden wollen, und ich hoffe doch, daß ihr euch unter uns ansiedelt und unseren Besitz durch eure Geschicklichkeit im Fischen mehrt. Außerdem ist das, was geschehen ist, keine Schande für meine Familie – nicht im eigentlichen Sinn. Leid ... « Er seufzte schwer. »Nein, Enttäuschung, und ich bin mir bewußt, daß es verkehrt von mir ist, so zu empfinden.«

Er strich sich über die Narbe, die sein Gesicht verzerrte. »Auch Euch macht es keine Schande, Vanimen, daß Ihr vor ihr zurückgewichen seid, wenn diese Wesen im Norden so fürchterlich sind, wie Ihr berichtetet. Ich könnte Euch von Schrecken sagen, die mich bis ins Grab verfolgen werden, und doch halte ich mich für einen tapferen Mann. Aber ... ich weiß nicht warum; vielleicht unterscheiden wir uns von den Russen auf eine Weise, die noch nach dem Tod andauert – was auch der Grund sein mag, eine Vilja ist nichts so Grauenhaftes, wie es nach Eurem Bericht eine Rousalka ist. Oh, es wäre unklug von einem Mann, ihr zu folgen ... aber schließlich hätte er eine Seele zu verlieren. Ihr dagegen ...« Iwan brach unvermittelt ab.

Vanimens kurzes Lächeln war bitter.

Iwan nahm einen Schluck. Dann fuhr er hastig fort: »Ich habe nur deswegen einen Groll auf Nada, weil sie meinen älteren Sohn dazu veranlaßt hat, der Welt zu entsagen. Ich denke jedenfalls, daß sie die Ursache war. Ich könnte mich irren. Wer kennt die Brunnen des Herzens außer Gott? Aber Mihajlo war ein so blühender Jüngling; in ihm sah ich mich selbst wiedergeboren. Und jetzt steckt er in einem Kloster. Ich sollte das nicht bedauern, wie? Es macht seine Erlösung wahrscheinlicher. Luka scheint zum Mönch geeigneter zu sein, als Mihajlo es je war, und nun ist Luka mein Nachfolger ... Nein, das wird er nicht werden, denn ein Zhupan wird von den ihm Ebenbürtigen seines Clans gewählt oder außerhalb des Clans von der Krone ernannt, und sie werden erkennen, daß er kein Kämpfer ist.«

Eine Zeitlang führten sie schweigend die Kelche zum Mund, und nur der Sturm erhob seine Stimme. Schließlich fragte Vanimen leise: »War die Vilja wirklich einmal die Tochter Tomislavs?«

»Er kann den Gedanken nicht ertragen«, erwiderte Iwan, »und alle, die ihn lieben, sprechen in seiner Hörweite nicht davon. Ich verzeihe ihm, was er meinem Sohn heute angetan hat. Es ist ja weiter kein Schaden geschehen, und Luka hätte flinker sein sollen.

Trotzdem ... nun, ich will Euch mitteilen, was jeder hier weiß. Vielleicht könnt Ihr, der Ihr aus dem Feenreich kommt, es besser beurteilen, als wir es getan haben, wir Menschen.

Ihr müßt wissen, daß Sina, Tomislavs Frau, ein Mensch war, der zum Leiden geboren wird. Ihr Vater war ein Bastard des Zhupans vor mir, und seine Mutter war eine Leibeigene, die von seltener Schönheit gewesen sein soll. Mein Vorgänger gab seinen Sohn frei, und er wurde ein Guslar – ein wandernder Musiker, ein Tunichtgut. Alle Welt war empört, als er eines Tages eine Frau von den Tzigani mitbrachte, diesen landlosen Heiden, die in letzter Zeit ins Land einströmen. Sie selbst war natürlich Christin, obwohl es nicht sicher ist, wie tief die Konversion ging.

Beide starben jung an Krankheiten. Ihre Tochter Sina wurde von Verwandten erzogen, die – das muß ich sagen – jede kindliche Dummheit, die sie beging, auf die Vererbung zurückführten. Ich habe mich oft gefragt, ob Tomislav, als er um sie freite, nicht ebenso Mitleid mit ihr gehabt hat, wie er von ihrer Lieblichkeit beeindruckt war.

Ihr habt von ihrem Leiden gehört. Einige Zeit nach Nadas Geburt versank Sina in stumpfe, hilflose Trauer, und so lag sie da, bis sie starb. Welche Erinnerungen hatte das Mädchen in seinem späteren Leben an die Mutter? Aufs Geratewohl lernte Nada hier und da von einer Nachbarin, was sie wissen mußte. Ihr Vater konzentrierte seine ganze Liebe auf sie, die allein ihm übriggeblieben war, aber was kann ein Mann schon tun? Vielleicht hat er ihr mehr anvertraut, als gut war – ein Priester trägt das Leid vieler anderer – , vielleicht hat er sie zu früh erkennen lassen, daß diese Welt voller Tränen ist. Ich weiß es nicht. Ich bin nur ein Soldat, Vanimen.«

Iwan trank, winkte nach neuem Wein, saß wieder stumm da, bevor er fortfuhr: »Auch ich erinnere mich noch gut an Nada. Als Zhupan reise ich viel herum im Hinterland, um mich auf dem laufenden zu halten, was die Knezi – Richter über Dörfer – und Pastoren und dergleichen Personen tun. Außerdem brachte Tomislav seine Familie hierher, wann immer er konnte, zum Beispiel an Markttagen. Wir haben keinen richtigen Marktplatz, aber die Leute treffen sich und treiben Handel miteinander. Ich glaube, teils hoffte er, die Ruhelosigkeit seiner älteren Kinder werde dadurch geringer werden.

Oh, Nada wurde schön! Ich hörte auch, daß sie von schnellem Verstand war und ein weicheres Herz hatte, sogar gegenüber Tieren, als für einen Bauern gut ist. Gewiß habe ich sie gesehen, wenn sie lachte und übermütig war. Aber schon damals, und so selten wir uns begegneten, sah ich sie auch in sich zurückgezogen, schweigend, traurig, und das aus keiner erkenntlichen Ursache.

Ich vermute, das ist der Grund, warum sie keine Bewerber hatte, so gern die jungen Männer auch mit ihr tanzten und scherzten, wenn sie guter Stimmung war. Außerdem wäre ihre Mitgift sehr klein ausgefallen. Und sie war überschlank; wie konnte sie ein Kind nach dem anderen austragen, um einen Haushalt am Leben zu erhalten? Die Väter von heiratsfähigen Söhnen müssen über diese Dinge nachgedacht haben.«

Iwan schluckte, setzte seinen Kelch ab, starrte auf einen geschlossenen Fensterladen, als könne er hindurchsehen und sich im Regen verlieren. »Nun kommt der Teil«, sagte er, »den zu erzählen mir schwer wird. Ich will es schnell abmachen.

Sie war aufgeblüht, als Mihajlo, mein älterer Sohn, zu Besuch kam und sie hier in Skradin sah. Sofort begann er, ihr den Hof zu machen. Er ritt durch die Wälder zu ihrer Zadruga, und wie konnte Tomislav ihm die Gastfreundschaft verweigern? Mihajlo sorgte dafür, daß sie zu dieser oder jener Festlichkeit nach Skradin kam – oh, es ging alles nach Anstand und Sitte, aber er begehrte sie und wollte sie haben.

Mihajlo war ... ist ... ein bezaubernder Bursche. Nadas zwei Brüder und eine Schwester waren aus dem Nest geflogen, und zweifellos hatte sie selbst auch etwas von einer größeren Welt da draußen gehört, einer Welt, die ihr vielleicht nicht nur die Wahl ließ, eine sich zu Tode schuftende Ehefrau oder eine Nonne zu werden ... Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß Tomislav, ihr Vater, mich aufsuchte und fragte, ob Mihajlo eine Heirat im Sinn habe.

Was konnte ich antworten? Ich kannte meinen Jungen. Wenn er heiratete, würde es des Zugewinns wegen sein; inzwischen wollte er seinen Spaß haben, und hinterher auch. Tomislav dankte mir für meine Offenheit und sagte, die beiden dürften sich nicht mehr sehen. Weil ich viel von ihm halte, stimmte ich zu. Mihajlo stritt mit mir herum, doch am Ende gab er mir sein Versprechen. So viel bedeutete sie ihm wieder nicht.«

»Aber er ihr ...«, sagte der Wassermann kaum hörbar. »Und ihr Vater ... sie muß auch ihn geliebt haben. Schwermut ergriff sie, als sie auseinandergerissen wurden ...«

»Man fand sie im See treibend«, unterbrach Iwan rauh. »Es scheint, daß sie seitdem dort spukt. Doch ihr habt nichts von ihr zu fürchten, ihr Seevolk. Brauchen wir noch mehr über diese traurige kleine Geschichte zu reden?« Er hob sein Glas. »Kommt, betrinken wir uns.«

Tomislav kehrte am Morgen nach Hause zurück. Zuerst suchte er Vanimen auf, um ihm Lebewohl zu sagen.

Es war eine Morgendämmerung, die der Regen reingewaschen hatte. Die beiden standen am Rand des Waldes. Der Himmel war weiß im Osten, blau über ihnen, noch dunkel genug im Westen, daß man einen Planeten sehen konnte, der dem untergegangenen Mond nachzog. Die Bäume hatten alle die Farben von Bronze und Messing und Blut angenommen, und die abgefallenen Blätter raschelten unter den Füßen. Stoppelfelder waren von Bodennebel bedeckt. In der Ferne krähten Hähne, das einzige Geräusch in der Kälte.

Tomislav lehnte seinen Stock gegen einen Baumstamm und ergriff Vanimens rechte Hand mit seinen beiden Händen. »Wir werden uns wiedersehen, oft«, gelobte er.

»Das würde mich freuen«, antwortete der Wassermann. »Zumindest könnt Ihr Euch darauf verlassen, daß ich nicht aus dieser Gegend davonziehe, ohne Euch besucht zu haben.«

Der Mann hob die Brauen. »Warum solltet Ihr überhaupt gehen? Hier werdet Ihr geliebt, Ihr und Euer ganzer Stamm.«

»Wie ein Hund geliebt wird. Wir waren frei in Liri. Sollen wir zahme Tiere werden, ganz gleich, wie freundlich unsere Besitzer sind?«

»Oh, Ihr würdet niemals Leibeigene sein, wenn es das ist, was Euch beunruhigt. Eure Fertigkeiten sind zu wertvoll.« Tomislav hielt inne. »Doch besser wäre es, Ihr würdet Christen.« Der Eifer flammte in ihm auf; plötzlich war sein Gesicht nicht mehr unscheinbar. »Vanimen, laßt Euch taufen! Dann gibt Gott Euch eine Seele, die in der Glorie Seiner Gegenwart die Sterne überlebt.«

Der Wassermann schüttelte den Kopf. »Nein, guter Freund. Im Laufe der Jahrhunderte bin ich dreimal Zeuge geworden, welches Geschick jene von unserm Volk ereilte, die es taten.«

»Und ...?« fragte der Priester nach einem Augenblick des Schweigens.

»Ich vermute, sie erhielten, wonach sie verlangten, die Unsterblichkeit im Himmel. Aber hier auf der Erde vergaßen sie das Leben, das sie gelebt hatten. Alles, was ihr Selbst ausmachte, verging – Träume, Freuden, Reisen. Übrig blieben demütige Unterlinge, deren Füße mißgestaltet waren.« Der Meereskönig seufzte. »Tomislav, so schrecklich ist mir der Gedanke daran, nach dem Tod auf immer ausgelöscht zu werden, nicht. Meine Leute empfinden ebenso.«

Der Mann stand unverzagt; sein grauer Bart bewegte sich leicht im ersten Wehen eines aufkommenden Windes. »Vanimen«, drängte er, »ich habe über diese Dinge nachgedacht, angestrengt nachgedacht ...« – für einen Augenblick verzerrte sich sein Mund – »... und mich dünkt, daß Gott nichts vergebens geschaffen hat. Nichts, was von Ihm ist, wird vergehen. Ja, das mag Häresie von mir sein. Trotzdem kann ich hoffen, daß Euch am Jüngsten Tag das gegeben wird, was Ihr jetzt verschmäht.«

»Ihr mögt recht haben oder auch nicht«, entgegnete Vanimen. »Wenn es so ist, schätze ich es trotzdem gering. Ich, der ich Narwale unter dem nördlichen Eis gejagt und Buhlen gehabt habe, die wie Nordlichter waren ...« – seine Stimme wurde leiser – ,,... ich, der ich mit Agnete gelebt habe ...« Er zog seine Hand weg. »Nein, das alles werde ich nicht für Eure blasse Ewigkeit eintauschen.«

»Aber Ihr versteht nicht«, entgegnete Vater Tomislav. »Oh, ich habe Legenden gelesen; ich weiß, was normalerweise geschieht, wenn Feenvolk in die Christenheit aufgenommen wird. Aber das braucht nicht jedes Mal so zu sein. Ich glaube, es ist einfach zu ihrem eigenen Schutz. Doch die Chroniken berichten von einigen Halbwelt-Wesen, die getauft wurden und dennoch alle ihre Erinnerungen behielten.« Er warf seine Arme um den Wassermann. »Ich werde um ein Zeichen beten, daß Euch diese Gnade gewährt wird.«