Epilog
Und wiederum erlangte ich das, was wir lächerlicherweise Bewußtsein nennen, in einem Krankenhausbett wieder, wo ich mit leerem Blick eine nichtssagende weiße Decke anstarrte. Immer wieder dieselbe verdammte Geschichte...
Ich holte tief Luft und stöhnte ob der Schmerzen, die mir das verursachte, laut auf. Ich fühlte mich, als sei ein Troll mit Kampfstiefeln - mit liebevoller und wohlbedachter Sorgfalt - auf allen wichtigen Teilen meiner Anatomie und mehreren anderen Teilen herumgetrampelt, die ich bisher nicht als wichtig eingestuft hatte. Ich hatte Schmerzen. Überall, am ganzen Körper. Tief drinnen und auch äußerlich. (Außer, natürlich, in meinem linken Arm, aber sogar der schickte seine eigene verdrehte Analogie von ›Schmerz‹-Signalen an mein Gehirn.)
Nur lebendige Menschen empfinden Schmerzen, versuchte ich mich zu beruhigen. Es klappte nicht. Ich lag da und beneidete die Toten.
Ich nehme an, daß ich dann eingedöst bin, weil die Deckenlampen aus waren, als ich mir das nächstemal meiner Existenz bewußt wurde. Die einzige Beleuchtung kam aus der Richtung des Fußendes meines Bettes. Ein kalter, bläulich-weißer Lichtschimmer. Mondlicht?
Ich versuchte mich aufzurichten, tat dieses Vorhaben aber sehr rasch als schlechte Idee ab und gab es auf. Statt dessen mußte ich mich damit begnügen, den Kopf auf dem Kissen zu drehen, so daß ich aus dem Augenwinkel einen Blick in Richtung Fußende werfen konnte.
Jawoll, Mondlicht. Jemand hatte vergessen, die Rolläden vor meinem Fenster zu schließen, und ich konnte direkt in die Nacht hinaussehen. Der Vollmond hing hoch über den Wolken wie eine geisterhafte Ga-leone, die durch einen Archipel surrealistischer Inseln segelte.
Vollmond? Ich versuchte mich zu erinnern, welche Mondphase gewesen war, als Gordon Ho und ich am Fenster des New Foster Tower gestanden und die Thorhämmer beobachtet hatten. Ich stellte fest, daß ich mich nicht an Einzelheiten erinnern konnte - aus dieser Nacht oder auch aus allen anderen Tagen und Nächten, was das betraf. Irgendein Teil von mir wußte, daß mich das hätte beunruhigen müssen, aber im Moment hatte ich einfach nicht die Energie, um mehr als einen Gedanken darauf zu verschwenden. Ich war ziemlich sicher, daß Neumond oder fast Neumond gewesen war, obwohl ich es nicht ganz genau festlegen konnte.
Was bedeutete, daß ich zwei Wochen weggewesen war? Ich dachte an das letzte Mal, als ich nach längerer Bewußtlosigkeit in einem Krankenhaus aufgewacht war, und machte eine rasche geistige Bestandsaufnahme meines Körpers. Fühlte sich irgend etwas seltsam, taub oder - noch schlimmer - abhanden gekommen an?
Nein, wurde mir nach einem Augenblick gräßlicher Unsicherheit klar, und ich entspannte mich erleichtert. Alles fühlte sich im wesentlichen richtig an... was bedeutete, es schmerzte wie die Hölle. Wenn ich etwas verloren und die Ärzte es durch Chrom ersetzt hätten -wie das beim letztenmal der Fall gewesen war -, hätten sie sich nicht die Mühe gemacht, die posttraumatischen Schmerzen perfekt zu kopieren, oder?
Ich drehte den Kopf, um noch einen Blick auf den Mond zu werfen. Guter alter Mond, dachte ich benebelt. Den Göttern sei Dank, daß zumindest du unverändert bleibst. Unsere eigene Welt können wir ruinieren, wie wir wollen, aber wenigstens können wir nicht an dir herumpfuschen ... zumindest nicht so schlimm, daß wir es bemerken würden.
Ich schloß die Augen und lauschte eine Ewigkeit dem leisen Rauschen der Klimaanlage. Als ich die Augen wieder öffnete, war es Tag. Ich blinzelte, und es war wieder Nacht. Wie bei meinem verschwommenen Gedächtnis wußte ich, daß mich das hätte beunruhigen müssen, aber wiederum konnte ich kein Gefühl der Besorgnis oder der Empörung erzeugen. Alles zu seiner Zeit, und vielen Dank auch.
Wiederum zog der Mann im Mond seine Schau vor meinem Fenster ab, während ich dem Seufzen der Klimaanlage lauschte. Mehr konnte ich nicht hören - den künstlichen Wind im Zimmer und den echten Wind, der in den Palmen raschelte, draußen. Keine Explosionen, keine Schüsse, keine Schreie. Also mußte das Tor wohl geschlossen sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß eine Nacht so friedlich verlaufen wäre, wenn jener Riß in der Realität nicht gestopft worden wäre.
»Das Tor ist geschlossen.«
Die leise Stimme, die irgendwo zu meiner Rechten erklang, hätte fast einen Herzstillstand bei mir verursacht. Ich stieß einen leisen Schrei aus und fuhr zusammen, als hätte mir jemand einen Peitschenschlag versetzt. Als mein Puls wieder unter fünfhundert gesunken war, drehte ich den Kopf nach rechts und fixierte die Silhouette - Schwarz auf tieferem Schwarz - einer sitzenden Gestalt. »Ich glaube nicht, daß ich laut gesprochen habe«, sagte ich anklagend.
Ich hörte Akaku'akanenes Lächeln mehr, als daß ich es sah. »Vielleicht solltest du dich auch weiterhin selbst überraschen, so, wie du es mit anderen tust.«
Einen Augenblick lang hatte ich an der verdrehten Grammatik ihrer Aussage zu knacken, dann gab ich es auf. »Wie?« fragte ich.
»Wieviel weißt du über die Wirkungsweisen der Magie?« begann die alte Frau.
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Hast du Elfenblut in dir?« fragte ich trocken.
Wiederum hörte ich, wie ihr Lächeln breiter wurde. »Warum? Weil ich eine Frage mit einer Frage beantworte?«
Ich seufzte. »Wortspiele später«, sagte ich. Dann wiederholte ich: »Wie?«
»Die Hüter«, sagte sie schlicht. Ich wartete auf eine Erläuterung, aber es kam keine.
»Du meinst, die Geister?«
»Ja, die Geister. Und auch andere Hüter. Hüter des Haleakala, Hüter der Struktur.«
Damit mußte sie die Fels-Hunde meinen, oder? Ich nickte. »Weiter, bitte.«
»Die Kahlinas mußten die Hüter abhalten, um die Struktur zu entwirren.«
Wiederum wartete ich. Wiederum mußte ich nachhaken: »Und...?«
Ich sah die Silhouette die Achseln zucken, als wolle sie sagen: »Das ist alles!«
Und ich nehme an, das war auch alles. Ich hatte die Schutzkreise der Tänzer ruiniert, so daß der Weg für die ›Hüter der Struktur‹ frei gewesen war, um ihr Ding abzuziehen. Simpel.
»Okay«, räumte ich ein, »schon kapiert. Aber« - ich deutete auf meinen Körper, das Bett, das Krankenzimmer - »was stimmt mit mir nicht? Ich fühle mich wie ausgekotzt.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann sagte Akaku'akanene leise: »Verstehst du die Kräfte, denen du nahe warst?«
Irgend etwas in ihrer Stimme erzeugte ein Kribbeln auf meiner Haut, aber ich gab trotzdem keine Ruhe. »Die Tänzer waren ihnen viel näher als ich«, stellte ich fest.
»Ja. Abgeschirmt durch Schutzvorrichtungen. Und bewandert in den Wirkungsweisen der Magie. Und du?« Sie schnaubte. »Du hast Glück, daß Nene über dich wacht.«
»Was hätte es mir getan?« Ich wollte es eigentlich gar nicht wissen, aber ich mußte einfach fragen. »Mich umgebracht?«
»Schlimmer«, sagte sie in einem Tonfall, der ein eisiges Flüstern war. »Viel schlimmer.«
Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Ich blinzelte. Nach einigen Momenten fiel mir etwas ein. »Hey«, sagte ich, »was war das für ein Trick mit Pohaku - diese Gans ex machina?«
Ich sah sie nicht an, aber ich spürte ihr Lächeln trotzdem. »Wenn der Geist singt, antwortet der Schamane«, sagte sie leise. »Aber manchmal ist es der Schamane, der singt.«
Typisches magisches Kauderwelsch, verkniff ich mir. Ich blinzelte...
Und es war wieder Tag, und Akaku'akanene war verschwunden. Ich sah die alte Gans nie wieder.
Vielleicht war es der Besuch der alten Schamanin, oder vielleicht war es auch meine unbeugsame Willenskraft (na klar). Aber danach verbesserte sich mein Zustand drastisch. Zwei Tage nach Akaku'akanenes nächtlichen Auslassungen war ich auf den Beinen und unternahm erste Bewegungsübungen, und zwei Tage danach fuhr ich in einem elektrischen Rollstuhl zum Haupteingang des Krankenhauses - das Kuakini Central hieß, wie ich mittlerweile erfahren hatte. (Warum bestehen Krankenhäuser sogar noch heute darauf, daß Patienten das Gebäude nicht aus eigener Kraft verlassen dürfen? Damit andere potentielle ›Kunden‹ nicht glauben, sie seien tatsächlich geheilt...?) Meine Eskorte - die Krankengymnastin, die mir für meine Rehabilitation zugewiesen worden war, eine große, joviale Orkfrau namens Mary Ann - drückte den Knopf für mich, der die Tür öffnete, und ich rollte in den Sonnenschein hinaus.
Sie beugte sich herunter und pflanzte mir einen feuchten Kuß auf die Stirn. (Wir waren ziemlich gut miteinander ausgekommen, Mary Ann und ich - das heißt, wenn sie mich nicht gerade zu einer weiteren Runde an irgendeiner Foltermaschine gezwungen hatte.)
»Und was nun?« fragte ich sie. »Und kann ich endlich aus diesem Ding aufstehen?«
Mary Ann bedachte mich mit einem ihrer besten Kinderschreck-Grinsen. »Sie sind nicht mehr im Haus«, stellte sie fest. »Und jetzt geben Sie uns unseren verdammten Rollstuhl zurück, Hoa.«
Ich kicherte, als ich mich aus den Tiefen des Rollstuhls löste. Dann holte ich Luft, um den ersten Teil meiner Frage zu wiederholen.
Doch sie kam mir mit einer Neigung des Kopfes zuvor. »Sie werden erwartet«, sagte sie leise.
Ich schaute in die Richtung, die sie angezeigt hatte. Eine Limousine - diesmal kein Phaeton - hatte am Randstein angehalten, und die hintere Tür öffnete sich mit einem hydraulischen Zischen. »Kein Platz für mich in deinem Haus?« fragte ich die Orkfrau in gespielt hoffnungsvollem Tonfall.
»Immer, Süßer«, gurrte sie. »Aber, weißt du, mein Mann, er ist irgendwie ziemlich empfindlich in diesen Dingen.«
Ich lachte lauthals. Es tat gut. »Tja, nichts liegt mir ferner, als mich in die Wonnen Ihres Eheglücks einzumischen.« Und dann setzte ich eine ernste Miene auf. »Danke, Mary Ann. Und das meine ich so, wie ich es sage.«
Sie umarmte mich. Und wenn Sie noch nie von einem Ork umarmt worden sind, der eine Ausbildung als Krankengymnast hat... Bruder, dann sind Sie noch nie umarmt worden.
Als ich wieder atmen konnte, lächelte ich ihr noch einmal zu und ging dann langsam die Stufen hinab und zur Limousine.
Alle Fenster waren getönt und polarisiert. Der Fahrer hätte, nach allem, was ich sehen konnte, ebensogut das Ding sein können, das versucht hatte, durch das Tor zu kommen. Ich seufzte. Nun, wenn jemand dort draußen in der großen weiten Welt meinen Tod wollte, würde er kaum für eine Limousine bezahlen müssen, um ihn zu arrangieren. Ich stieg ein und schloß die Tür hinter mir.
Die Kevlarplex-Trennscheibe zwischen den Vorder-und Rücksitzen war geschlossen - nicht weiter überraschend - und ebenfalls vollständig polarisiert. Ich konnte den Kopf des Fahrers nicht einmal als Silhouette sehen. Ich lehnte mich zurück, als die Limousine anfuhr, und wartete ab.
Nichts, also wartete ich noch etwas länger. Immer noch nichts. Diesmal klopfte ich gegen die Trennscheibe. »Was liegt an, Bruder?« fragte ich das Kevlar-plex.
Mehr nichts. Ich bereitete mich gerade auf ein lauteres Klopfen vor, als sich der Telekomschirm in der Un-terhaltungs-/Kommunikations-Konsole der Limousine erhellte und ein vertrautes Gesicht Gestalt annahm.
»Ich bin froh, daß Sie die Geschichte heil überstanden haben, Mr. Montgomery«, sagte Jacques Barnard.
Ich ließ mich in die üppigen Polster zurücksinken und betrachtete den Bildschirm. Ich sah, daß er sich in einem neuen Büro befand. Der Hintergrund war eine schlichte Wand, kein unscharfer Blick auf einen Garten mit Statuen. »Mehr oder weniger«, räumte ich ein. Und dann wartete ich. Der Miene des Pinkels konnte ich entnehmen, daß dies ganz eindeutig kein Höflichkeitsanruf war.
Barnard nickte, offenbar zufrieden, daß ich den Charakter dieser ›virtuellen Besprechung‹ erfaßt hatte. »Nun, Mr. Montgomery«, sagte er fröhlich, »es wird Sie freuen zu hören, daß die ... Konfusion ... des vergangenen Monats einen zufriedenstellenden Abschluß gefunden hat. Zufriedenstellend für alle Beteiligten, wie ich hinzufügen möchte.«
Ich nickte. »Aha.«
Er zögerte ein wenig, da er für einen Moment den Faden verlor. »Außerdem wird es sie freuen zu hören, daß König Kamehameha einen« - er machte eine theatralische Pause, da er nach dem richtigen Wort suchte »einen Gegencoup inszeniert hat. Der Ali'i sitzt wieder auf dem Thron. Die Na Kama'aina-Fraktion in der Regierung ist schwer gedemütigt worden. Und soweit ich weiß, ist ALOHA so gut wie eliminiert worden.« Er lächelte großmütig. »Und das ist zum größten Teil Ihr Verdienst, Mr. Montgomery.«
Ich nickte. »Aha.« Barnard schien nichts mehr zu sagen zu haben, also fragte ich nach einer langen, etwas peinlichen Pause: »Also herrscht wieder der Normalzustand, neh?«
Er zuckte die Achseln. »Mehr oder weniger. Wiederum dank Ihnen, Mr. Montgomery.«
»Aha.« Ich legte wieder eine kleine Pause ein. »Und wie weit erstreckt sich dieser Dank, Mr. Barnard?«
Er gestikulierte überschwenglich, und sein Telekombild schien die gesamte Limousine einzuschließen. »So weit, zunächst einmal«, sagte er. »Die Rechnung für Ihren Krankenhausaufenthalt ist selbstverständlich beglichen worden. Und im Diamond Head Hotel ist auf Ihren Namen ein Zimmer für eine Woche reserviert.«
»Aha. Und der Rückflug zum Festland?«
»Wenn Sie Hawai'i verlassen wollen, wenden Sie sich einfach an einen meiner Leute«, sagte Barnard. »Der Fahrer wird Ihnen einen Chip geben, wenn er Sie am Hotel absetzt. Darauf befinden sich alle Kontaktinformationen ... und alle erforderlichen Daten bezüglich eines Kontos bei der Züricher Gemeinschaftsbank im Orbital.«
»Aha.« Und wiederum legte ich eine kleine Pause ein. »Und zukünftige Kontakte, Mr. Barnard? Zukünftige Jobs?«
Jacques Barnard bedachte mich mit einem seiner besten Konzern-Plastiklächeln. »Sollte sich eine entsprechende Notwendigkeit ergeben, wird einer meiner Leute Kontakt mit Ihnen aufnehmen, Mr. Montgomery. Verlassen Sie sich darauf.« Und damit erlosch das Bild auf dem Schirm.
Aha. Übersetzung: Rufen Sie nicht uns an, wir rufen Sie an.
Was war also mit Barnards Beteuerungen von Respekt, als er mich für diesen Job rekrutiert hatte? Von Zuneigung, um Himmels willen?
Jeder lügt.
Ich war wieder im Diamond Head Hotel. In einem anderen Zimmer, aber den Unterschied konnte man nur erkennen, wenn man einen Blick auf die Nummer an der Zimmertür warf. Ich warf die wenigen Dinge, die ich aus dem Krankenhaus mitgenommen hatte - im wesentlichen meine Zahnbürste - in eine Ecke. Dann setzte ich mich auf das Bett und starrte auf den Datenchip in seinem Etui, den der Chauffeur mir gegeben hatte, als er mich absetzte. Ein paarmal warf ich einen Blick auf das raffinierte Telekom in dem Zimmer, aber ich brachte ganz einfach nicht die Energie auf, den Chip einzulegen und mir seinen Inhalt anzusehen.
Also war es vorbei. Das Tor war geschlossen, die Konzerne waren zufrieden. Na Kama'aina aus dem Spiel, Gordon Ho wieder auf dem Thron...
Tja, Drek, warum soll ich es nicht zugeben: Ich versuchte ihn anzurufen. Gordon Ho, König Kameha-meha V., Ali'i des Königreichs Hawai'i. Ich warf einen Blick in meine Brieftasche und stellte fest, daß sich die Visitenkarte, die er mir in seinem Büro im Iolani-Palast gegeben hatte, noch darin befand. Ich wählte die Nummer.
Anders als beim letztenmal nahm Ho das Gespräch persönlich entgegen. Als er sah, wer es war, lächelte er. Und dann, einen Augenblick später, war das Lächeln der emotionslosen Miene des Politikers gewichen »Mr Montgomery«, sagte er kühl.
Okay, ich wußte, worauf dieses Gespräch hinauslief also ritt ich nicht darauf herum. Und der ganze Kanike von wegen ›in Verbindung bleiben‹? Genau das, Chummer - Blödsinn, schlicht und ergreifend. Politisch konnte er es sich gar nicht leisten, mit irgendeinem abgewrackten Haole-Shadowrunner befreundet zu sein. Er mußte sich von mir lossagen, und zwar ungeachtet aller Freundschaftsbeteuerungen.
Jeder lügt.
Und was sollte es, da ich einmal dabei war, rief ich die LTG-Nummer an, die Wanzen-Bubi mir auf dem Stück Thermaldrucker-Papier gegeben hatte. Eine Mail-Box -wie vorauszusehen. Ich hinterließ eine Nachricht, in der ich ein Treffen später am Nachmittag anregte -nun, vielleicht auch verlangte -, und zwar am Ostende von Waikiki Beach vor der Statue irgendeines Kerls mit einem Surfbrett, die ich an meinem ersten Tag auf den Inseln gesehen hatte.
Ich traf fünfzehn Minuten zu früh ein - ich konnte einfach nicht länger warten -, aber Wanzen-Bubi war mir zuvorgekommen. Der Insektenschamane saß auf einer Holzbank im Schatten der Statue, den Blick seiner glasigen Augen starr auf die Brandung gerichtet. Ich glaube nicht, daß er mich kommen hören konnte, und ich wußte, daß er mich nicht gesehen haben konnte, wenn er kein drittes glasiges Auge im Hinterkopf hatte. Trotzdem drehte er sich um, als ich noch fünfzehn Meter entfernt war, und sah mir zu, wie ich langsam auf ihn zukam.
Er stand auf, als ich nahe genug war, und wiederum war ich froh, daß er mir nicht die Hand reichte.
»Wir hatten eine Abmachung«, sagte ich kategorisch.
Er neigte den Kopf - Zustimmung vermischt mit Bedauern. Wie bei dem Ali'i wußte ich, worauf dieses Gespräch hinauslief. »Ja«, sagte er.
»Und? Wo ist meine Schwester?«
Der Insektenschamane zuckte fast entschuldigend die Achseln. »Nicht mehr da«, sagte er schlicht.
»Ihr könnt sie nicht mehr zurückholen.« Meine Stimme klang selbst in meinen Ohren seelenlos. »Ihr konntet es von Anfang an nicht, richtig?«
Der unauffällige Mann schüttelte den Kopf. Und dann drehte er sich um und ging weg.
Ich wollte schreien. Ich wollte ihm nach und ihm den Schädel einschlagen. Ich wollte die Pistole ziehen, die ich mitgenommen hatte und ihm das Magazin in den Rücken jagen. Ich wollte dieselbe Pistole gegen meine Schläfe richten und abdrücken. Statt dessen sagte ich aufrichtig: »Danke, daß Sie allein gekommen sind.«
Er zögerte einen Augenblick. Er sah sich nicht um, wofür ich ewig dankbar sein werde. Dann nickte er einmal und ging dann weiter, westwärts, der untergehenden Sonne entgegen.
Jeder lügt.
Es war wieder so wie im Krankenhaus. Gerade saß ich noch auf einer Holzbank und sah Wanzen-Bubi nach, der durch den Sand der untergehenden Sonne entgegenging. Ich blinzelte, und der Himmel war dunkel. In den Strandhotels von Waikiki brannten Lichter. Hinter mir auf der Straße fuhren Autos vorbei, deren Stereoanlagen hawai'ianische Musik spielten.
Ein Taxi blieb ein paar Augenblicke ein Dutzend Meter entfernt stehen. Die Fenster waren heruntergekurbelt, und die Stereoanlage dudelte. Ich erkannte das Lied - ›Hawai'i, My Home‹, von dieser Gruppe, die Scott an meinem ersten vollen Tag auf den Inseln für mich aufgelegt hatte. Kani-irgendwas Die Mitglieder der Gruppe waren mittlerweile alle tot. Irgendwie passend.
Ich spürte die Anwesenheit einer anderen Person neben mir und drehte mich um.
Es war der Elf. Quentin Harlech, oder wie sein richtiger Name lautete. Eine Armeslänge von mir entfernt starrte er auf den nachtschwarzen Ozean.
»Wie lange sind Sie schon hier?« fragte ich, um dann gleich fortzufahren: »Geschenkt.«
Die Hotellichter glitzerten auf seinen Zähnen, als er lächelte. »Lange genug«, beantwortete die Frage, die ich gerade zurückgenommen hatte. Dann wartete er -um festzustellen, ob ich noch etwas sagen wollte, um festzustellen, ob ich versuchen würde, ihn zu geeken... ich weiß es nicht. Ich tat nichts dergleichen. Ich betrachtete nur den rosa unterlegten Horizont.
Schließlich sah ich die Silhouette seines Kopfes nicken. »Sie wissen nicht, was Sie getan haben, oder?« fragte der Elf leise. »Sie haben keine Ahnung, wie bedeutend es war, und Sie wissen auch nicht, warum es wichtig war. Aber Sie haben es trotzdem getan.«
Ich sah ihn nicht an, aber ich spürte seinen Blick auf mir ruhen. Ich kannte die Frage, die er stellte - die Frage, die in Worte zu kleiden er nicht über sich brachte. Aber ich wußte die Antwort darauf nicht. Ich zuckte die Achseln.
»Das dachte ich mir«, kommentierte er die Antwort, die ich ihm nicht gegeben hatte. »Ich glaube, ich kenne dich von früher, Derek«, fuhr er einen Augenblick später leise fort. »Vielleicht haben wir früher schon einmal Seite an Seite gekämpft.«
Jetzt drehte ich mich zu ihm um. »Chummer«, sagte ich, »Sie müssen verrückt sein. Vor Puowaina sind Sie mir noch nie unter die Augen gekommen.«
»Nicht unter diese Augen, nein«, stimmte er zu... falls es Zustimmung war. »Aber ich kenne dich, Derek.
Du stellst dich einer überwältigenden Übermacht. Und du besiegst sie ... nur deshalb, weil du nicht weißt, daß es unmöglich ist.« Er lächelte - traurig, dachte ich plötzlich. »Du erinnerst mich an ...« Seine Stimme verlor sich, und er richtete den Blick wieder auf das Meer. »Längst vergangene Zeiten«, flüsterte er fast unhörbar. Oder vielleicht war er es auch gar nicht, sondern ein Seufzen des Nachtwinds.
»Frage«, sagte ich nach einer langen Pause. »Sie haben versucht, das Tor zu schließen, nicht wahr?«
Quinn zuckte die Achseln. »Vielmehr zu verhindern, daß es je geöffnet wird.«
»Warum haben die Hütergeister Sie dann angegriffen?« Ich fixierte sein Gesicht. »Warum, Harlech?«
Zu meiner äußersten Verblüffung schien der Elf nicht in der Lage zu sein, meinem Blick standzuhalten. »Geschichte«, sagte er leise. »Ich habe...« Er brach ab und nahm einen neuen Anlauf. »Ich bin mit dieser Gefahr schon früher... in Berührung gekommen«, fuhr er fort. »Die Hütergeister spüren den Makel an mir.« Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich frage mich, wie sie auf dich reagieren würden, Derek, solltest du noch einmal dorthin gehen.«
»Dazu wird es nicht kommen.«
Quinn lachte leise. »Ich glaube, ich mag dich, Derek«, sagte er. »Einige meiner Zeitgenossen würden lachen, wenn sie mich das sagen hören könnten, aber... ich habe das Gefühl, daß du ein verwandter Geist sein könntest. Ist dir klar, wie selten das ist?«
Jetzt begegnete er meinem Blick. Ich sah... etwas ... in seinen Augen. Hätte ich es nicht besser gewußt, hätte ich es für Neid gehalten oder vielleicht auch Sehnsucht. Sehnsucht nach etwas, daß vor langer, langer Zeit verlorengegangen war. Natürlich ein alberner Gedanke.
Ich schnaubte und wandte mich ab. »Scheren Sie sich weg, Harlech«, sagte ich. Dann schrie ich es, wobei ich ihn immer noch nicht ansah: »Scheren Sie sich weg! Okay? Verpissen Sie sich einfach.«
Ich konnte mich einfach nicht dazu überwinden, mich umzudrehen und ihn anzusehen. Ich wagte es nicht - ich hatte Angst vor dem, was ich in seinen Augen sehen mochte.
Ich spürte, wie er aufstand und einen Moment zögerte. Dann spürte ich, wie er sich von mir entfernte und in die Dunkelheit ging.
»Ich brauche Sie nicht!« rief ich ihm nach, ohne den Kopf zu drehen. »Ich brauche niemanden!«
Jeder lügt.
Selbst ich.