7

Meine innere Uhr schien sich endlich an den Zeitunterschied und alles andere gewöhnt zu haben. Ich schlief ein, als ich zu Bett ging, und ich wachte auf, als ich es wollte, ein paar Minuten bevor mein Wecker klingelte. Ich wälzte mich aus dem Bett und fühlte mich wie neugeboren - oder zumindest runderneuert -, dann öffnete ich die Vorhänge und sah ein paar Minuten lang aus dem Schlafzimmerfenster. Die Sonne glitzerte über dem azurblauen Meer, und die wenigen Wolken unterstrichen lediglich die Tiefe und Klarheit des Himmels. Ein weiterer drekkiger Tag im Paradies.

Als ich mich anzog, fielen mir zum erstenmal die beiden Holos an den Schlafzimmerwänden auf. Eines zeigte Waikiki, wie ich es am Tag zuvor von einem Punkt irgendwo am Westende der Bucht gesehen hatte -eine Ansicht von Diamond Head in der Ferne, Leuten am Strand und einem großen Trimaran, der vor der Küste ankerte. Das andere Hologramm wies eine sepia-farbene Tönung auf, als sei es von einem alten Schwarz-weiß-Foto gemacht worden. Ein dunkelhäutiger Eingeborener schob ein Kanu aus der Brandung auf den Strand. Irgendwie wirkte irgend etwas an der Aufnahme vertraut. Ich verglich die beiden im Geiste, und plötzlich ging mir auf, daß beide Holos vom gleichen Aussichtspunkt aus aufgenommen worden waren! Das sepiafarbene mußte aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen. Dort war Diamond Head... mit nichts als Dschungel bis zum Strand und nur ein paar winzigen Häusern in der Bucht. Ich betrachtete wieder die zeitgenössische Aufnahme - ja, der Holograf hatte Aufnah-mewinkel und Komposition genau kopiert. Faszinierend.

Es war acht Uhr dreißig, als ich mich fertig angezogen hatte, und mein Magen erinnerte mich daran, auf keinen Fall das Frühstück ausfallen zu lassen. Also fuhr ich mit dem Fahrstuhl nach unten und frühstückte in Gesellschaft der kleinen beigen Tauben auf der Außenterrasse.

Ich war bei der dritten Tasse Kaffee und fragte mich, ob noch Platz für eine weitere Waffel war, als ich die Anwesenheit von jemandem neben mir spürte. Einer der zurückhaltenden Hotelangestellten hielt mir ein kleines Mobiltelekom hin. »Mr. Tozer?«

Ich nickte ihm zu, und er verschwand außer Sicht, während ich das Telekom von Bereitschaft auf Betrieb schaltete. »Hallo?«

»Guten Morgen, Mr. Dirk.« Natürlich war es Scott. »Ich hoffe, Ihnen ist heute ein wenig nach Geschäft.«

Ich hätte ihn fast nach den Einzelheiten gefragt, aber im letzten Augenblick schaltete sich meine natürliche Vorsicht - noch besser, meine Paranoia - ein. »Wann?« fragte ich lediglich.


Ich wartete vor dem Hotel, als der Rolls dreißig Minuten später vorfuhr. Scott, der heute einen hervorragend geschnittenen Geschäftsanzug trug, stieg aus und hielt mir die Tür zum Fond auf. (Offenbar war es heute nichts mit vorne fahren...) Während ich es mir auf dem Sofa gemütlich machte, glitt er wieder auf den Fahrersitz, startete den Wagen und fuhr los.

»Okay, Scott«, sagte ich, sobald wir im Verkehr steckten, »erzählen Sie. Wer, was, wo, wann und warum.«

Er drehte sich ganz kurz zu mir um. (Wenigstens hatte er die Kevlarplex-Trennscheibe unten gelassen.) »Sie haben eine Verabredung mit Mr. Ekei Tokudaiji«, sagte er schlicht.

»Wer ist das?«

Der Ork zuckte die breiten Schultern. »Ein wichtiger Mann in dieser Gegend. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

Tja, Drek, da wäre ich vielleicht auch noch von allein darauf gekommen. »Wohin fahren wir?«

»Kaneohe Bay. Mr. Tokudaiji hat dort ein... ein Haus.«

Ich runzelte die Stirn. Die Freundlichkeit, die Redseligkeit waren von Scott abgefallen. Das ging über ein l'loßes geschäftsmäßiges Auftreten hinaus. Es war so, als stünde der Ork unter ziemlichem Streß. War ein Besuch bei diesem Tokudaiji so gewagt, sogar für einen verdammten Chauffeur? Wie wichtig war dieser Bursche? »Warum konnten wir das nicht schon gestern erledigen?« fragte ich.

»Wie ich schon sagte, Mr. Tokudaiji war gestern geschäftlich auf den äußeren Inseln«, erklärte Scott geduldig. »Er ist absolut nicht verpflichtet, Sie überhaupt zu empfangen. Er könnte Sie einfach wegpusten lassen, und niemand könnte ihm deswegen an den Karren fahren.«

Ich verdaute das erst einmal, während Scott den Rolls auf die nordwärts führende Autobahn lenkte, die bald in einen Tunnel mündete, der durch eine Hügelkette führte. Entweder wußte Scott nicht, auf wessen Geheiß ich arbeitete - dieser Tokudaiji würde nicht mich wegpusten lassen, sondern Jacques Barnard, den geschäftsführenden Leiter von Yamatetsu Nordamerika - oder Tokudaiji war tatsächlich ein sehr bedeutender Mann.

»Sind Sie bewaffnet?« fragte Scott plötzlich.

Die Seco fühlte sich plötzlich schwer an meiner Hüfte an. »Ja«, sagte ich zögernd.

»Tststs«, machte Scott. »Das hätte ich Ihnen wohl sagen sollen. Sie müssen die Kanone im Wagen lassen, wenn Sie zu Mr. Tokudaiji gehen.«

Einen Drek werde ich... Das wollte ich sagen, aber ich seufzte lediglich und hielt den Mund. »Ich weiß nicht, ob mir gefällt, wie sich die Sache entwickelt.« Für einen Augenblick tauchte der alte Scott in seinem Lächeln wieder auf. »Hey, Bruder, zumindest kommen Sie um eine Leibesvisitation herum.«

Die Autobahn führte wieder ans Tageslicht, und die ganze Landschaft hatte sich verändert. Die Nordseite der Insel war viel üppiger bewachsen als der Süden, was auf mehr Regen hindeutete. (Hatte ich nicht irgendwo gelesen, daß das Wetter wegen der sich ständig ändernden Winde auf den Inseln im letzten halben Jahrhundert verrückt spielte? Tja, wie auch immer.) Die Autobahn beschrieb eine Kurve und verlief jetzt, dem Stand der Sonne nach zu urteilen, nach Nordwesten, um dann wieder nach Nordosten zu schwenken und einen Berghang hinabzuführen. Direkt im Norden lag eine Art Vorgebirge mit etwas an seinem Fuße, das wie eine militärische Anlage aussah. Auf der Westseite des Vorgebirges öffnete sich die Küstenlinie zu einer derartig schönen Bucht, daß sie fast nicht wirklich sein konnte. »Mr. Tokudaiji hat einen ziemlich netten Ausblick, wenn Sie mich fragen«, sagte Scott, der wiederum meine Gedanken zu lesen schien.

Wir verließen die Autobahn und folgten einer holprigen kleinen Straße, die dem Verlauf der Bucht folgte. Nach ein oder zwei Kilometern bog Scott in einen unbe-schilderten Weg ein, und die Qualität der Straße verbesserte sich drastisch. Eine Privatstraße, vermutete ich... und ein flüchtiger Blick auf eine Überwachungskamera in einem Hibiskusstrauch, die dem Wagen mit ihrer Linse folgte, bestätigte die Vermutimg einen Augenblick später. Ich klopfte meine Tasche ab, um mich zu vergewissern, daß ich Barnards Chip nach alledem nicht verlegt hatte, und schnallte ein wenig widerwillig das Halfter der Seco ab. »Sie können die Kanone einfach dort im Wagen lassen«, schlug Scott vor. »Da ist sie sicher.«

Der Rolls hielt vor einem Sicherheitsgatter, aber einem, wie ich es noch nie gesehen hatte. Kein elektrischer Kettenzaun, kein Stacheldraht, kein Metalltor auf Rollen. Statt dessen standen wir vor einer großen Palisade - das ist das beste Wort, was mir dafür einfällt -aus sorgfältig lackiertem dunklen Holz. Die eigentliche Ausfahrt war ein Torbogen im japanischen Stil. Ich sah das Motiv, das in den Bogen und in das Doppeltor eingearbeitet war, und mich überlief ein schwaches Frösteln. Eine Chrysantheme war das Schlüsselmotiv, das sich überall wiederholte. Einfach allererste Sahne.

Während wir warteten, nahm ich das Tor und die Palisade genauer unter die Lupe. Zwar sah alles wie die Kulisse aus einem alten Kurosawa-2D-Film - vielleicht Ran - aus, aber man brauchte kein Genie zu sein, um zu vermuten, daß alles wesentlich sicherer war, als es den Anschein hatte. Vielleicht bestanden die Fassade des Tors und des Zauns tatsächlich aus echtem Holz - wäre mir nicht das Chrysanthemen-Motiv aufgefallen, hätte ich auf billigeres Makroplast gesetzt -, aber darunter verbarg sich mit Sicherheit wesentlich widerstandsfähigeres Material. Zumindest eine anti-ballistische Legierung, wahrscheinlich gepanzerter Stahlbeton. Obwohl es so aussah, als würden die geschnitzten Torpfosten wie Kegel umfallen, wenn Scott den Rolls in das Tor fuhr, hätte ich viel Geld darauf verwettet, daß sogar ein leichter Panzer Schwierigkeiten bekommen würde, Ekei Tokudaijis erste Verteidigungslinie zu durchbrechen.

Nach vielleicht einer Minute - genug Zeit für das Sicherheitspersonal, den Wagen mit vermutlich jeder verfügbaren Frequenz des elektromagnetischen Spektrums abzutasten - öffnete sich ein kleines Seitentor, durch das zwei Gestalten traten. Sie trugen teure Anzüge, nicht die uralte japanische Rüstung, mit der ich halb und halb gerechnet hatte, aber ihre Gesichter, ihr Verhalten und ihre Körperhaltung wären in einem Samurai-Film nicht fehl am Platze gewesen.

Keiner der beiden trug sichtbare Waffen, aber einer bezog trotzdem eine perfekte Stellung, um dem anderen Feuerschutz zu geben. Der zweite näherte sich der Fahrerseite. Scott ließ das Fenster herunter und bedachte den Wächter mit einem förmlichen Nicken. »Kotiichi-wa«, sagte der Fahrer, dann redete er weiter Japanisch, und zwar schneller, als ich mit meinen begrenzten Kenntnissen dieser Sprache folgen konnte. Ich hörte einmal Tokudaiji-sama und ein paarmal - glaube ich - meinen eigenen Namen, aber darüber hinaus wurde ich nicht schlau aus dem Wortschwall.

Als Scott fertig war, nickte der Wächter. »Fahren Sie weiter«, sagte er in akzentfreiem Englisch und trat zur Seite, um sich seinem Kollegen anzuschließen. Das Doppeltor schwang lautlos auf, und der Rolls fuhr an.

Außerhalb des Anwesens hatte man dem Wald gestattet, mehr oder weniger wild zu wuchern. Drinnen schien alles - die Lage jedes Baums und Strauchs, sogar die Proportionen des gewundenen Fahrwegs - mit mathematischer Präzision angelegt worden zu sein. Ich hatte das Gefühl, durch die tropische Version eines japanischen architektonischen Gartens zu fahren ... was ich natürlich auch tat.

Ich stieß einen tiefempfundenen Seufzer aus und bedachte Scott mit einem mürrischen Blick. »Sie hätten mir ruhig sagen können, daß Tokudaiji ein verdammter Oya-bun der Yakuza ist«, stellte ich fest.

»Hey, verschonen Sie mich mit diesem Stinkeblick«, protestierte er. »Das war nicht meine Idee, Bruder. Ich befolge nur meine Befehle.«

»Was für eine originelle Entschuldigung«, murmelte ich.

Das Wohnhaus des Oyabun schmiegte sich an den steilen Hang eines mit Grün bewachsenen Hügels. Der Ya-kuza-Boß hatte sich offenbar einen guten Architekten besorgt - jede Linie des Hauses und der dazugehörigen Anbauten und Nebengebäude harmonierte perfekt mit den Konturen des umliegenden Geländes. Wie viele Millionen Nuyen mochte ein Besitz wie dieser wohl kosten? fragte ich mich. Jedenfalls mehr, als ich in meinem ganzen Leben je sehen würde.

Als wir vor dem Haus vorfuhren, hielt ich nach weiteren dieser Samurai in Anzügen Ausschau, wie sie uns am Tor in Empfang genommen hatten. Ich sah keine, spürte jedoch ihre Anwesenheit. Eine Minute lang passierte überhaupt nichts. Scott stellte den Motor des Rolls ab, aber er öffnete weder die Tür, noch rührte er sich. Ich dachte mir, daß er wissen mußte, was er tat, also konzentrierte ich mich auf dieselbe Art des Nichtstuns. Wiederum stellte ich mir vor, wie unsichtbare Finger aus elektromagnetischer Energie den Wagen und unsere Leiber abtasteten und Nieten, Zahnfüllungen und dergleichen mehr zählten.

Schließlich trat eine Gestalt aus der Vordertür des Anwesens - ein weiterer Samurai im Anzug - und blieb ein paar Meter vor dem Wagen stehen. Als sei dies sein Zeichen - was es wahrscheinlich auch war -, stieg Scott aus, ging um den Wagen und öffnete mir die Tür. Ich stieg aus dem klimatisierten Komfort des Wagens aus, und die Hitze und Luftfeuchtigkeit - und der unverkennbare Geruch nach Dschungel - trafen mich wie ein Schlag.

»Bleiben Sie einfach cool, okay?« flüsterte Scott, ohne die Lippen zu bewegen. Ich schnaubte verächtlich. Womit, zum Henker, rechnete er denn? Daß ich ohne jeden Grund durchdrehte und den Samurai mit bloßen Händen umzulegen versuchte? Ja, klar. Einen Moment lang fühlte sich meine linke Hüfte ohne das Gewicht der Seco schrecklich einsam. Scott bezog Stellung zu meiner Linken und einen Schritt hinter mir, während ich auf den Samurai im Armante-Anzug zuging.

Als ich noch ein paar Schritte von ihm entfernt war, drehte er sich wortlos um und ging in Richtung Haus, wobei er offensichtlich erwartete, daß ich ihm folgte. Mit einem Achselzucken tat ich es. Wir gingen durch eine breite Doppeltür - in die ebenfalls das Chrysanthemen-Motiv eingeritzt war, für den Fall, daß es einem Besucher bisher entgangen war - und in das Atrium des Hauses.

Und ›Atrium‹ ist genau das richtige Wort. Das Haus war im Stil einer römischen Villa mit einem offenen Mittelbereich angelegt. Ich nehme an, ich erwartete etwas mehr in Richtung eines japanischen Steingartens mit Fischteich und Koi. Falsch, Chummer. Keine Steine im Sand, keine genetisch veränderten Karpfen. Das Atrium war mit Marmor eingefaßt und enthielt eine Reihe von Bänken sowie eine Handvoll Statuen im klassischen Stil. (Plötzlich fiel mir der architektonische Garten im Hintergrund von Barnards Telekombild ein. Teilten sich er und Tokudaiji denselben Innenarchitekten oder was?) Im grellen hawai'ianischen Sonnenlicht strahlte der weiße Marmor geradezu.

Unser Samurai-Führer wandte sich nach links durch einen... nun, wäre dies eine Kirche gewesen, hätte ich es Kreuzgang genannt - ein Gang, der nach der Seite zum Atrium hin offen war. (Seltsame Mischung aus Stilen und Symbolen in diesem Haus. Aber irgendwie schienen sie zu verschmelzen, und die Verbindung klappte.) Aus dem Nichts erschienen zwei weitere Samurai, die Scott und mir in einigen Schritten Abstand folgten. Wiederum waren keine Waffen zu sehen. Doch wiederum überzeugte mich ihre Körperhaltung davon, daß sie keine Waffen brauchten, um mit allem fertigzuwerden, was unterhalb eines verdammten Dzoo-noo-qua rangierte.

Den halben Kreuzgang entlang spielten wir Folgt-dem-Führer, bis wir nach links abbogen und durch eine weitere massive Holztür gingen. (Keine Chrysanthemen auf dieser, als hätte das eine Rolle gespielt.) In dem Raum dahinter - einem kleinen Vorzimmer in gedämpften Farben, sehr ernst, sehr elegant - erwarteten uns zwei weitere Anzug-Samurai. Die beiden neuen zückten Scanner und tasteten jeden Zentimeter meines Körpers ab. Dabei waren sie sehr höflich - so höflich, wie man eben sein kann, wenn man so etwas tut - und murmelten ständig: »Sumimasen, chotto, entschuldigen Sie bitte.« Nicht einmal berührten sie mich - kein Abklopfen, keine Durchsuchung meiner Taschen. Der Vorgang dauerte ein paar Minuten, und augenscheinlich waren sie mit dem Ergebnis zufrieden und zuversichtlich, daß ich keine Kanone im linken Ohr oder eine Handgranate in der Wange versteckt hatte. Beide Samurai verbeugten sich förmlich und mit einem letzten ›Sumimasenund konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf einen resigniert dreinschauenden Scott.

Seine Befürchtungen hinsichtlich einer Leibesvisitation waren unbegründet - sie berührten ihn nicht einmal. Zugegeben, sie waren ein wenig zudringlicher im Hinblick darauf, wie nah sie ihm mit den Scannern kamen, und er bekam auch kein einziges ›Sumimasenzu hören, aber der Vorgang hatte nichts Auf- und Eindringliches an sich. Einer der Samurai, ein älterer Bursche mit stellenweise ergrautem Haar und hohlen Wangen entwickelte ein besonderes Interesse für die Anstecknadel, die Scott in seinem Revers trug. Für mich sah sie wie ein hawai'ianisches Götzenbild aus, ein dickbäuchiger kleiner Bursche mit großen, geweiteten Augen aus Sterling-Silber. Der alte Samurai tastete die Anstecknadel nicht mit seinen Detektoren ab, sondern starrte sie lediglich eine Zeitlang mit einem leicht verwirrten Stirnrunzeln an. Dann zuckte er die Achseln und setzte seine Untersuchung fort. Ich warf Scott einen fragenden Blick zu. Der große Ork zuckte ebenfalls nur die Achseln.

Schließlich war das Abtasten und Untersuchen vorbei, und die Tür auf der anderen Seite des Vorzimmers schwang auf. Einer der Armante-Samurai bedeutete uns hindurch. Während ich vortrat, bezog Scott wieder links und einen Schritt hinter mir Stellung. Ich trat durch die Tür...

Und blieb wie angewurzelt stehen. Ich bin schon immer auf Bücher abgefahren. Echte Bücher, diejenigen aus Papier und Druckerschwärze, diejenigen, die man in den Händen halten kann, diejenigen, die gebunden sind und einen Einband haben. (Sicher, ich weiß, es ist der In-halt, der zählt - man kann ein Buch nicht nach seinem Äußeren beurteilen, drekcetera - aber wenn Sie das schiere, sinnliche Vergnügen, ein Buch zu öffnen und darin zu blättern, bisher noch nicht verstanden haben, werden Sie es wahrscheinlich nie tun... und nie wissen, was Ihnen entgeht.) Als Bibliophiler ist es immer schon mein Traum gewesen, eine Bibliothek zu haben - einen Raum, der ausschließlich Büchern gewidmet ist. Wenn ich mir diesen Raum vorstellen müßte, hätte er ein paar große Fenster für natürliches Licht, aber jeder andere Quadratzentimeter Wand würde von Bücherregalen eingenommen. Es würde einen Sessel speziell zum Lesen geben - vorzugsweise einen großen alten Ohrensessel (obwohl ich wahrscheinlich nachträglich eine Massageeinheit einbauen lassen würde) ein paar kleine Tischchen für Karaffen mit Single-Malt Scotch und vielleicht zwei oder drei andere (kleinere) Sessel, falls ich jemals Freunde in mein Allerheiligstes einladen würde.

Sehen Sie sich die Beschreibung noch einmal an. Sie traf genau auf den Raum zu, den wir jetzt betraten, und zwar bis hin zu der Kristallglas-Karaffe mit einer rauchigen, bernsteinfarbenen Flüssigkeit auf einem Nebentischchen. Meine erste Reaktion war: »Ja, genau.« Meine zweite: »Es gibt keine Gerechtigkeit.« Und dann unterdrückte ich beide und konzentrierte mich ganz auf den Burschen, der in dem Ohrensessel saß und uns musterte.

Er sah alt und gebrechlich aus, mit Knochen so dünn und zerbrechlich wie die eines Vogels und bleicher und pergamentdünner Haut. Er war fast kahl, und seine Hände - die er nachdenklich vor den Lippen verschränkt hatte - waren knochig und fleischlos. Aber es waren seine Augen, die meine Aufmerksamkeit erregten und fesselten: dunkle, durchdringende Augen, die Augen eines Falken. Intelligenz und Wachheit funkelten in diesen Augen wie aus Fenstern zur Seele eines jungen und lebenssprühenden Mannes, die sich nur zufällig im Körper eines Achtzigjährigen aufhielt. Die Kraft seiner Persönlichkeit strahlte in Wellen von ihm aus. Hier, erkannte ich, war ein Mann, den man respektieren mußte - vielleicht sogar fürchten, aber auch mögen.

Ich spürte Scotts Anwesenheit neben mir. Hinter uns horte ich das Klicken, als sich die Bibliothekstür schloß. Ich blinzelte, und zum erstenmal nahm ich Notiz von dem Adjutanten - noch ein Samurai aus dem einund-zwanzigsten Jahrhundert der schweigend hinter dem Sessel des Oyabun stand.

Mr. Ekei Tokudaiji schwieg ein paar Augenblicke, wahrend seine Augen mein Gesicht musterten und - zumindest fühlte es sich so an - die Tiefen meiner Seele ausloteten. Schließlich verzogen sich seine dünnen Lippen zu einem freundlichen Lächeln. »Mr. Montgomery«, sagte er. Seine Stimme war weich wie Samt, nicht laut -aber das brauchte sie auch nicht zu sein - und völlig akzentfrei. »Willkommen. Bitte.« Er deutete auf einen Sessel - einen weiteren Ohrensessel aus Leder, aber kleiner als seiner -, der seinem gegenüberstand.

»Vielen Dank«, antwortete ich.

Der Yakuza-Boß beobachtete mich, während ich mich setzte. Mir fiel auf, daß der Oyabun nicht einmal einen flüchtigen Blick auf Scott warf, als existiere der Chauffeur überhaupt nicht. (Nein, korrigierte ich, als sei Scott ebenso irrelevant für unsere Unterhaltung wie ein Möbelstück... oder auch sein eigener Adjutant.)

Ich ließ meinen Blick ostentativ durch das Zimmer schweifen und nickte beifällig. »Nette Einrichtung.«

Er lächelte, als freue ihn meine Bemerkung, als bedeute es ihm auf die eine oder andere Weise etwas. »Vielen Dank.« Er deutete auf die Bücher. »Ein Mann braucht eine Zuflucht, wo ihn die großen Gedanken der Vergangenheit vor dem Chaos der Welt abschirmen.« Er hielt kurz inne. »Ich entschuldige mich für...« Er neigte den Kopf in Richtung Vorzimmer. »Eine Notwendigkeit. Das sollte keine Herabsetzung sein.«

»Ich habe es auch nicht so aufgefaßt.« Ich zwang mich dazu, mich zu entspannen, abzuwarten. Bei diesem einleitenden, bedeutungslosen Protokoll, das offenbar allen Besprechungen auf höherer Ebene zugrunde lag, fühlte ich mich nie wohl. Warum nicht einfach zur Sache kommen und voranmachen? Aber es war das Spiel des Oya-bun, und daher waren es auch seine Regeln.

»Wie geht es Mr. Barnard?« fragte Tokudaiji einen Augenblick später.

»Er ist müde«, erwiderte ich, als ich mich an Barnards Aussehen auf dem Telekomschirm erinnerte. »Aber er hat eine nette Wohnung in Kyoto.«

»Eine zauberhafte Stadt«, sagte der Oyabiin mit einem leichten Neigen des Kopfes, »mit sehr viel Geschichte und Kultur. Waren Sie schon einmal dort, Mr. Montgo-mery?«

Noch ein hochrangiger Pinkel, der sich nach meinen Reisen erkundigte. Was war das, ein Trend? Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe es nie geschafft.«

Wiederum schwieg der Oyabun einige Augenblicke, in denen er mich mit festem Blick musterte. Dann nahm ich eine subtile Veränderung in seinen scharfen Augen wahr und wußte, daß wir jetzt zum Geschäft kamen. »Ich hörte, Mr. Barnard habe eine Nachricht für mich«, sagte Tokudaiji ruhig, »und zwar eine, die er nicht der Matrix anvertrauen wollte.«

»Das ist richtig, Sir.«

Der Yak lächelte freundlich. »Worum geht es wohl, was meinen Sie?«

Ich schüttelte den Kopf. »Glauben Sie wirklich, Mr. Barnard würde das einem bloßen Boten anvertrauen?« Drek, dachte ich - man braucht nur lange genug bei diesen Leuten herumzuhängen, und schon redet man wie sie...

»Natürlich nicht, natürlich nicht.« Tokudaiji streckte die Hand aus.

Als Reaktion darauf griff ich in meine Tasche, um den Chip in seinem Plastiketui herauszuholen.

Und das war der Augenblick, in dem der Drek zu dampfen anfing. Ich spürte, daß hinter mir etwas geschah. Ich hörte nichts, ich sah nichts, ich roch oder schmeckte nichts - es war etwas anderes, aber es war auch absolut unbestreitbar. Ich spürte es direkt im Kern meines Wesens, wie das Schaudern einer Hochdruckwelle, nur innerlich anstatt äußerlich.

Magie. Ich wußte, daß es das war. Irgendwie wußte ich es.

Ich wandte den Kopf nach links. Aus dem Augenwinkel sah ich Scott unter seine Jacke greifen. Der kleine dickbäuchige Bursche auf seinem Revers strahlte ein seltsames inneres Leuchten aus, und ich spürte, daß das Schaudern von ihm ausging.

In diesem Augenblick schien sich der Zeitablauf zu verändern. Alles schien auf Zeitlupe zu wechseln wie in einem alten 2D-Film von Sam Peckinpah.

Tokudaijis Augen weiteten sich vor Überraschung und Besorgnis. Hinter ihm griff sein Adjutant nach seiner Kanone. Selbst in Zeitlupe bewegte sich der Samurai noch blitzschnell.

Aber nicht schnell genug. Der Samurai hatte seine großkalibrige Pistole kaum aus dem Schulterhalfter heraus, als sein Gesicht in einer nassen roten Wolke verschwand und er hintenüber fiel. Das Krachen eines Schusses dröhnte in meinem linken Ohr, und ich zuckte vor der Mündungsflamme von Scotts Roomsweeper zurück. (Scotts Roomsweeper? Wie, zum Henker, hatte er einen verdammten Roomsweeper durch die Kontrolle geschleust?)

Immer noch in Zeitlupe, spürte ich meinen eigenen Körper instinktiv reagieren. Ich kam aus dem Sessel hoch wie auf Sprungfedern, während die rechte Hand automatisch zu meiner linke Hüfte zuckte.

Tokudaiji bewegte sich ebenfalls, eine seiner skelettdünnen Hände tauchte in seine Tausend-Nuyen-Jacke. Sein Blick begegnete meinem, und in einem Aufblitzen augenblicklichen Verständnisses wußten wir beide, daß er zu langsam war.

Aus dem Augenwinkel sah ich Scotts Roomsweeper herumrucken und wieder Feuer spucken. Der Schuß -ein Geschoßhagel, keine einzelne Kugel - traf den Ya-kuza-Boß mitten im Gesicht, schleuderte das, was von seinem Schädel noch übrig war, in den Ledersessel zurück und verspritzte Blut und Gewebe durch den Raum. Meine Nase füllte sich mit den Gerüchen der Schießerei: Kordit, Blut, Drek...

Ich war auf den Beinen, wirbelte herum und tastete immer noch nach der Kanone, die nicht da war. Der Zeitablauf wechselte wieder auf normal, als Scott die qualmende Mündung des Roomsweeper herumschwang und auf eine Stelle zwischen meinen Augen richtete.