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Von meiner Datensuche im Suborbitalflugzeug wußte ich noch ein wenig über die Punschschüssel - Puo-waina. Wie der Ali'i angedeutet hatte, war dieser Berg ein megawichtiger Ort in der alten hawai'ianischen Religion gewesen. Oben auf dem Puowaina - dem Berg der Opfer - hatten die alten Hawaiianer immer ihre Menschenopfer dargebracht, um ihre Götter zu beschwichtigen. Wer waren diese Opfer gewesen? Freiwillige? Verbrecher? Jungfrauen, die speziell für diesen Zweck herangezüchtet worden waren (was für eine idiotische Verschwendung)? ›Kriegsgefangene‹ von anderen Inseln? Fragen Sie mich was Leichteres, Chummer. Ich wußte nur, daß all das mit der Ankunft der Haoles - der Priester, Missionare und Ananas-Plutokraten -, die das Land selbstverständlich ›zivilisiert‹ hatten, beendet worden war.
Ich nehme an, Pele, die Göttin der Erde und der Vulkane, regte sich schließlich darüber auf, daß sie niemand mehr mit Blut beschwichtigte, aber es dauerte eine Weile, bis sie deswegen etwas unternahm. (Sie wissen ja, wie das mit Göttinnen ist: nie einen freien Augenblick...) Im Jahre 2018 brach der Haleakala aus, ein riesiger Vulkan auf der Insel Maui. Ein Kamm auf der Westseite des Vulkans stürzte ein, und ein gewaltiger Lavastrom löschte die Luxushotels und Touristenfallen von Wailea und Keokea aus. (In Reiseführern wird die Gegend - eine Wüste aus erstarrter Lava - immer noch als ›Pompeii des Pazifiks‹ bezeichnet.)
Auf jeden Fall war Puowaina im zwanzigsten Jahrhundert zu einem Militärfriedhof für die Vereinigten Staaten geworden - dem Nationalen Gedenkfriedhof für den Pazifik, eine Art ›Arlington West‹. Wie nicht anders zu erwarten, änderte sich das nach der Sezession. Die Regierung unter Gordon Hos Daddy exhumierte alle Leichen - über 26 000 - und schickte sie - mit allen gebührenden Ehren - zum Festland zurück. (Das ärgerte natürlich mehr als nur ein paar Amerikaner, aber nach den Thorhämmern, die auf den Flottenverband von Pearl Harbour abgeschossen worden waren, wagte es niemand, den amerikanischen Standpunkt allzu energisch zu vertreten.)
Und dort setzte mich Der Bus mitten an einem glühendheißen hawai'ianischen Nachmittag ab, am Puowaina. Die Gegend war mittlerweile ein öffentlicher Park. Ein netter Ort, ein alter erodierter Vulkankrater, der wie eine große Schüssel geformt war. Grasbewachsen und grün - hieß das künstliche Bewässerung? Nicht notwendigerweise, nahm ich an -, mit Bäumen und Blumen - etwa vierzig Hektar Frieden nur zwanzig Minuten vom Druck der Innenstadt entfernt. Vom Kraterrand, stellte ich mir vor, mußte man einen spektakulären Blick auf Honolulu in all seiner Pracht haben, aber ich machte mir die Mühe gar nicht erst. Unmittelbarere Dinge erregten meine Aufmerksamkeit.
Die Streifenwagen der Hawai'ianischen Nationalpolizei - zwei davon - waren tropisch weiß mit Regenbo-gen-Logos auf den Türen, nicht blau und gold wie die von Lone Star Seattle. Aber es bedarf mehr als nur einer grellen Lackierung, um einen Chrysler-Nissan Patrol One nicht brutal und bedrohlich wirken zu lassen. Nur die Hälfte der Blinklichter in den Lichtleisten der beiden Fahrzeuge waren eingeschaltet, aber ich mußte meine Augen dennoch vor dem Lichtgewitter abschirmen. Ein paar Cops - wie hatte Scott sie genannt? Na Maka'i, genau - hockten in der Nähe eines kleinen Gehölzes blühender Bäume und schienen vage mit etwas beschäftigt zu sein, das in den Bereich der Gerichtsmedizin gehörte. Ein weiterer uniformierter Beamter saß mit dem Rücken an einen Baum gelehnt auf dem Boden. Mit seinem spitzen kleinen Schädel sah er aus, als sei er auf Drogen oder Chips, aber ich wußte es besser. Ich kannte diesen leeren Gesichtsausdruck, da ich ihn nur allzuoft auf den Gesichtern von Beamten der Abteilung für Paranormale Untersuchungen gesehen hatte - ›Apus‹ für Leute wie mich, die zum gemeinen Fußvolk gehörten -, die während meiner Zeit beim Star an einigen Untersuchungen beteiligt gewesen waren. Okay, dachte ich, also war wenigstens ein Cop-Kahuna damit beschäftigt, sich auf der Astralebene nach Beweisen umzusehen. Außer diesen dreien war nur noch ein weiterer Cop anwesend. Er war ein großer Bursche - ein Mensch, aber mit einem Bauch, der dem eines Sumo-Ringers würdig gewesen wäre -, und er redete mit ein paar einheimischen Jugendlichen in Shorts. Möglicherweise Zeugen?
Na Maka'i hatte den Tatort im wesentlichen genauso abgesperrt, wie man es uns beim Star beigebracht hatte. Wo Bäume, Picknickbänke und dergleichen standen, hatten die Cops das universelle gelbe Polizei-Klebeband zwischen ihnen gespannt. Im offenen Gelände hatten sie die Teleskopstützen benutzt, die jeder Streifenwagen auf diesem Planet irgendwo im Kofferraum hat. Ich ging hin, und als ich die Absperrung erreichte, hob ich das gelbe Klebeband hoch und duckte mich darunter hinweg. Ich machte noch einen Schritt auf die beiden Cops zu, die auf dem Boden hockten...
Und stieß mir Nase und Stirn an einer unsichtbaren Barriere, die so unnachgiebig wie eine Betonmauer war. »Drek«, grunzte ich. Instinktiv versuchte ich, einen Schritt zurückzutreten.
Denkste. Hinter mir war jetzt ebenfalls eine unsichtbare Mauer. Und als ich es überprüfte, auch eine links und eine rechts von mir. Es war, als befände ich mich in einer unsichtbaren und etwas zu kleinen Telekomzelle. Ein paar Sekunden lang bot ich die alte Straßenpantomime dar, indem ich die Hände flach gegen unsichtbare Mauern preßte. Dann krümmte ich mich und hielt mir die Ohren zu, als irgendwo hinter meiner linken Schul-ter eine Alarmsirene zu jaulen anfing. Drek, warum nicht? Unsichtbare Mauern - warum dann nicht auch ein unsichtbarer Einbruchs-Alarm?
Ich sah hilflos mit an, wie der sumobäuchige Cop von den Jugendlichen abließ und durch das Gras auf mich zu kam. »Mai ne'e«, bellte er. »Rühr dich nicht, Haole.« Ich schnaubte verächtlich. Als hätte ich dazu die Möglichkeit gehabt. »Was willst du hier?«
»Ich bin hier, um mit euch zu reden«, sagte ich gelassen. Und ich zeigte auf das Abzeichen an der Tasche meines Tropenhemds.
Der Cop war gut, das mußte ich ihm zugestehen. Der Ausdruck absoluter und totaler Entrüstung hielt sich nur einen Sekundenbruchteil in seinem Gesicht, bevor er eine Miene höflicher Beflissenheit aufsetzte. »Aloha, e Ku'u haku«, grollte er. Dann schnauzte er etwas anderes, scheinbar ins Leere. Ich wäre fast gestürzt, als die unsichtbaren Mauern, die mich umgaben, plötzlich verschwunden waren.
»Vielen Dank, Officer...?«
»Konstabier Saito, Sir. Was kann ich für Sie tun?«
»Führen Sie mich herum«, schlug ich vor. »Was ist hier vorgefallen?«
Der sumobäuchige Cop nickte und führte mich über den Rasen zu der Stelle, wo die beiden Gerichtsmediziner immer noch herumstocherten. Einer der beiden sah zu mir auf und holte Luft, um zu maulen, doch Kon-stabler Saito brachte ihn mit einem grimmigen Blick zum Schweigen. »Schon wieder Opfer, Sir«, sagte Saito unnötigerweise. Er zeigte auf einen aus flachen Steinen, die ehemals die Umrandung eines Blumenbeets gebildet hatten, improvisierten Altar. Irgend etwas war auf diesem Altar verbrannt worden - etwas, das einen Haufen geschwärzter, bröckeliger Knochen hinterlassen hatte.
»Was war es?« fragte ich.
»Pua'a«, antwortete einer der Gerichtsmediziner, um dann zu übersetzen: »Ein Schwein, Sir. Ein Ferkel.«
»Und noch etwas anderes.« Die Stimme kam aus dem Nichts, von einer Stelle einen Meter rechts von mir. Ich erschrak und versuchte dann vorzugeben, daß nichts passiert sei. Magier - sie lassen sich immer wieder neue Methoden einfallen, damit ich Zustände bekomme.
»Was soll das heißen?« fragte ich.
»Hier ist noch etwas anderes getötet worden«, erläuterte die körperlose Stimme des Magiers. »Kein Schwein.«
»Ein Metamensch?«
»Ich bin nicht sicher«, sagte die Stimme. Ich warf einen Blick auf den Kahuna und sah, daß er die Stirn gerunzelt hatte. »Es ist abgeschirmt.«
»Was heißt das, ›abgeschirmt‹?«
Diesmal kam die Stimme aus dem Körper des Kahuna, der sich gerade erhob. »Hier hat es noch einen Todesfall gegeben«, erklärte er, »das kann ich spüren. Ich weiß aber nicht, was gestorben ist... und ich müßte eigentlich in der Lage sein, es herauszufinden.«
Ich nickte, als verstünde ich tatsächlich, was er sagte. »Aber nur das Schwein ist verbrannt worden?«
»Nur das Pua'a«, bestätigte der Schamane ungeduldig.
Die Gerichtsmediziner waren offenbar mit dem Sammeln ihrer Knochen- und Asche-Proben fertig und tasteten jetzt die Altarsteine mit einem UV-Laser mit geringer Intensität ab, um latente Abdrücke zu Tage zu fördern. Viel Glück, Jungens - die Hitze des Feuers hatte höchstwahrscheinlich alles Verwertbare ausgelöscht.
Ich kehrte dem Altar den Rücken und sah mir die Umgebung an. Irgendein kompliziertes Muster war in den Rasen geschnitten - nein, nicht geschnitten, erkannte ich plötzlich - gebratint worden. Die Linien waren scharf umrissen und überraschend dünn. So etwas ließ sich nicht dadurch erreichen, daß man Benzin verschüttete und es dann anzündete, wie ich zuerst gedacht hatte. Man benötigte etwas, das viel schneller und heißer brannte. Hmmm, dachte ich - jemand hatte sich hier einige Mühe gemacht.
Ich trat zurück, um mir einen besseren Gesamtüberblick über das Muster zu verschaffen. Zwei konzentrische Kreise um den Altar, der den Mittelpunkt bildete, einer vielleicht zehn Meter im Durchmesser, der andere elf. Der einen Meter breite Ring zwischen den beiden Kreisen wurde von vier Linien in vier Sektoren eingeteilt. Ich begutachtete den Sonnenstand und schätzte - ja, die vier ›Speichen‹ schienen ungefähr mit den Kardinalrichtungen des Kompasses übereinzustimmen. In dem Ring befand sich ein Dutzend seltsamer, eckiger Symbole, die jedoch nicht eingebrannt, sondern aus kleinen, sorgfältig angeordneten weißen Kieselsteinen gebildet worden waren. Ich sah mich um - nein, wie ich vermutet hatte, gab es im Puowaina-Park keine offensichtliche Bezugsquelle für die Kiesel.
Der Cop-Kahum war mit der astralen Begutachtung des Tatorts offenbar fertig und fotografierte jetzt sorgsam jedes der geheimnisvoll aussehenden Symbole. Ich ging zu ihm und wartete darauf, daß er mich zur Kenntnis nahm. Sein Stirnrunzeln verriet mir, daß er nicht wollte, aber ich sah, wie sein Blick zu meinem Abzeichen huschte. »Ja, Sir?« fragte er schließlich. (Das ›Sir‹ schien ihm körperliche Schmerzen zu bereiten.)
Ich deutete mit der Fußspitze auf die konzentrischen Kreise. »Was ist das? Ein hermetischer Kreis? Irgendeine Art von Medizinhütte?«
Er wollte die Augen verdrehen, das sah ich, aber es gelang ihm, den Impuls zu unterdrücken. Er zuckte die Achseln. »Weder noch«, sagte er, dann weniger gewiß: »Nicht wirklich.«
»Was dann?« Ein weiteres Achselzucken. »Ist das hermetisch oder schamanisch?«
Einen Moment lang sah er so aus, als fühle er sich unbehaglich. Er zuckte wiederum die Achseln.
Was interessant war. Weder hermetisch noch schamanisch... oder vielleicht sowohl hermetisch als auch schamanisch, wenn das überhaupt einen Sinn ergab. Drek, irgendwann hatte doch jeder eine dieser lockerflockigen Diskussionen über die Struktur der Magie mitbekommen - die Hypothese, daß Magie Magie ist und sonst nichts. Daß die Unterscheidung zwischen hermetisch und schamanisch völlig künstlich ist und nur vom (meta)menschlichen Verstand getroffen wird, aber nicht dem Mana inhärent ist. War es das, was diese Symbole darstellten? Oder waren sie ganz einfach bedeutungslos - hatte irgendein durchgedrehter Möchtegern-Magier irgendwas kopiert, das er im Trid gesehen hatte?
»Wofür würde man so etwas benutzen?« fragte ich den Kahuna.
»Ich würde es für gar nichts benutzen«, schnauzte er.
Ich seufzte. »Wofür würde es dann irgend jemand benutzen? Wofür könnte man es benutzen?« korrigierte ich rasch, um weiteren Haarspaltereien zuvorzukommen.
»Keine Ahnung.«
Ich warf dem Kahuna einen durchdringenden Blick zu. Jetzt fühlte er sich wirklich unbehaglich, und das machte ihn mürrisch. (Magier aller Couleur hassen es, zuzugeben, daß sie nicht alles wissen - das habe ich schon vor langer Zeit gelernt.) »Sie müssen doch irgendeine Vorstellung haben«, hakte ich nach. »Es muß Sie an etwas erinnern. Was könnte es sein?«
Einen Moment lang bedachte er mich nur mit dem Stinkeblick. Dann sah ich, wie sich der Ausdruck in seinen Augen änderte, als er aufgab. »Könnte eine Art von Beschwörungskreis sein«, murmelte er. »Könnte!«
»Um Geister zu beschwören? Sie meinen, der Magier oder Schamane oder was auch immer steht in dem Kreis...«
»Nein«, unterbrach er mich mit einem Blick, der den Gedanken eindeutig vervollständigte - du dämlicher Idiot. »Der Beschwörer steht außerhalb des Kreises, das Ding, das beschworen wird, innerhalb... bis der Kahuna es rausläßt. Okay?«
»Und was würde man mit so etwas beschwören? Elementare? Geister? Was?«
Ein undefinierbarer Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Nichts«, sagte er fest. »Man könnte damit nichts beschwören. Keine Elementare, keine Geister, okay?« Und - Sheriff-Abzeichen oder nicht - er machte kehrt und ließ mich stehen. Ich sah ihm nach, wie er in einen der Patrol One stieg, die Tür schloß und dort mit mürrischer Verdrossenheit einfach sitzen blieb.
Interessant. Was hatte der Funktionär dem Ali'i noch gemeldet? Bis jetzt sei der magische Hokuspokus in Verbindung mit den Opfern auf dem Puowaina bedeutungslos gewesen. Aber diesmal waren die Kahunas nicht sicher gewesen. Das war gleichbedeutend mit einer ziemlich signifikanten Veränderung im Verlauf der Dinge, oder? Die Reaktion des Cop-Kahuna paßte jedenfalls sehr gut zu dieser Analyse.
Also war dieser Ritualkreis-Drek dem Kram ähnlich, den die Mystiker für Beschwörungen benutzten - ähnlich, aber nicht gleich. Hätte ich mehr über Magie gewußt, hätte mir das vielleicht eine Menge gesagt. In gewisser Hinsicht ist es schon bedauerlich. Anders als viele Leute, die ich kenne, bin ich nicht magophob - wie, zum Teufel, kann man in der Sechsten Welt überhaupt magophob sein, können Sie mir das verraten? -, aber ich bin mit Sicherheit auch kein Zauberfreak. Ich glaube, die meiste Zeit, die ich je mit einem echten praktizierenden Magier verbracht habe, war, als ich in Seattle mit Rodney Greybriar zusammengearbeitet habe... bevor er ge-geekt wurde, natürlich.
Tja, Magie hin oder her, die Gesetze der Logik mußten mehr oder weniger gleich bleiben, neh? Vielleicht brauchte ich nur etwas gesunden Menschenverstand.
Was muß man tun, um einen Geist oder sonstwas zu beschwören? Nein, gehen wir noch einen Schritt weiter zurück. Wo hängen Geister und ihresgleichen herum, wenn sie nicht beschworen werden? Offensichtlich irgendwo anders. Auf der Astralebene vielleicht, oder auf einer der ›Metaebenen‹ (was, zum Teufel, das auch sein mag...). Sie zu beschwören, bedarf es einiger Mühe. Es bedarf magischer Kraft, und es kann - nach allem, was ich gehört habe - einen Magier echt auslaugen, die großen Jungens in die materielle Welt zu zerren.
Warum? Offensichtlich - nun, zumindest ist es für mich offensichtlich - gibt es irgendeine Barriere zwischen der materiellen Welt und den anderen Ebenen. Nein, geben wir ihr eine pseudo-mystische Bezeichnung - sagen wir, es gibt einen Vorhang zwischen dieser Welt und den anderen oder vielleicht auch einen Schleier. Okay, also irgendeine Art von Vorhang. Klar, das war auch logisch, weil die Leute andernfalls einfach von dieser Welt in irgendeine abgefahrene Metaebene stolpern könnten, ohne die geringste Absicht dazu zu haben oder überhaupt mitzubekommen, daß es passiert ist.
Um also etwas zu beschwören, muß man logischerweise diese Barriere niederreißen - den Vorhang wegziehen sonst würde es einfach nicht funktionieren, rieh? Könnte der verrückte Kreis dafür gedacht gewesen sein? Um den Vorhang zwischen dem, was wir lächerlicherweise die wirkliche Welt nennen, und jenen anderen Ebenen zu öffnen - oder vielleicht auch zu schwächen? Eine interessante Hypothese... und nun, wo ich darüber nachdachte, keine besonders beruhigende.
Drek... verbinden wir diesen Gedanken mit einem anderen, der mir gerade gekommen war. Als der Cop-Kahuna gesagt hatte, er würde mit diesem Kreis nichts beschwören, könnte er da gemeint haben, daß (Meta-) Menschen so etwas nicht benutzen konnten? Und wenn ja, wer konnte es dann?
Wie wäre es mit den Freunden von Adrian Skyhill? Den verdammten Insektengeistern? Sie waren irgendwie in die Sache verwickelt - wenn ich Barnard glauben sollte, und ich hatte keinen Grund, ihm im Moment nicht zu glauben.
Toll. Hatte ich nicht irgendwo gelesen, daß gewisse Orte auf der Erde - normalerweise alte ›Stätten der Macht‹ - eine hohe Mana-›Hintergrundstrahlung‹ hatten, die magische Aktivitäten erleichterten? Offensichtlich Mount Shasta. Möglicherweise der Kratersee. Warum nicht auch Puowaina?
Sollten die Insektengeister versuchen, die Macht des Berges der Opfer einzusetzen, um Hawai'i dasselbe an-zutun, was sie Chicago angetan hatten? Um Horden ihrer Art aus der Hölle hervorzubringen, die sie ausgespien hatte?
Oder war ich ein paranoider Irrer, der sich Bewegung verschaffte, indem er echt abwegige Schlußfolgerungen zog? (Geh zurück, geh weeeiiit zurück...)
Ich schüttelte den Kopf. Es war absolut sicher, daß ich es nicht herausfinden würde, indem ich einfach hier herumstand und mir das Hirn zermarterte. Vielleicht hatten die Jugendlichen - diejenigen, die Sumo-Saito befragt hatte - irgendwas von Bedeutung gesehen.
Aber die Jugendlichen waren verschwunden, als ich mich umsah. Die Jungens von der Gerichtsmedizin hatten ihre Arbeit beendet und stiegen gerade in den Wagen mit dem immer noch schmollenden Kahuna. Saito stand neben der offenen Fahrertür seines Wagens und beobachtete mich - wobei er seinen Unwillen fast verbarg -, falls der Haole seine Zeit mit weiteren idiotischen Fragen verschwenden wollte. Ich winkte ihm zu und signalisierte ihm, daß er fahren konnte, wenn er wollte. Er wollte, und ich blieb zurück, um den Staub seiner Abfahrt einzuatmen. Mit einem Seufzer machte ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle.
Ich spürte Blicke auf mir ruhen, jenes unheimliche Gefühl, von dem die Akademiker behaupten, daß es nicht existiert, das aber jeden Nichtakademiker schon oft be-schlichen hat. Ich blieb stehen und sah mich um.
Er stand völlig regungslos da, lehnte gelassen am Stamm irgendeines blühenden Baumes und beobachtete mich. Er war dünn wie ein Florett und schien ein Gefühl von aufgestauter Energie, von explosiver Bewegung auszustrahlen. Er war ein Elf, dessen war ich mir fast sicher. Aus dieser Entfernung konnte ich seine Ohren nicht sehen, aber die Morphologie sah richtig aus. Seine Augen waren hinter einer jener radikal gestalteten Sonnenbrillen verborgen, die damit werben, daß sie einem Schuß aus einer Schrotflinte vom Kaliber 12 standhalten - was nur so lange beruhigend ist, wie sich der Bursche, der einen beharkt, darauf beschränkt, auf die Sonnenbrille zu zielen -, aber ich spürte seinen Blick auf mir ruhen. Ich hob fragend eine Augenbraue.
Er löste sich von dem Baum und kam zu mir geschlendert - langsam, lässig, aber zielstrebig. (Ein Widerspruch, das stimmt. Aber genau so bewegte er sich -mit der tödlichen Lässigkeit eines Raubtiers.) Ich betrachtete ihn von Kopf bis Fuß, als er sich näherte.
Schlankes Gesicht, hohe Wangenknochen, eine Nase, für die ein Adler töten würde. Er trug sein Haar - rot, mit silbergrauen Strähnen durchsetzt - lang und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihm bis zur Mitte des Rückens reichte. Er war dunkel gekleidet -schiefergraues Kunstseidenhemd, schwarze, an den Oberschenkeln weite und nach unten enger werdende Hose. Teure Kleidung von hoher Qualität, aber vom Stil her anachronistisch. Wann haben Sie zum letztenmal ein völlig zugeknöpftes Hemd ohne Krawatte und lockere Manschetten gesehen? Es war fast so, als sei der Elf direkt den virtuellen Seiten von Gentlemen's Monthly Online entsprungen, aber einer zwanzig Jahre alten Ausgabe. Instinktiv spielte ich ›Finde die Kanone‹. Kein Glück - wenn er etwas Größeres als die allerwinzigste Hold-Out bei sich hatte, hatte er eine erstklassige Möglichkeit gefunden, die Kanone zu verstecken.
Er blieb in nicht allzu großer Entfernung von mir stehen, und musterte mich nun seinerseits von oben bis unten. Es dauerte nicht länger als eine Sekunde, und darin lächelte er.
Plötzlich wurde mir klar, daß ich mich vor diesem Elf fürchtete.
Es war eine bestürzende Erkenntnis. Drek, er hatte nichts übermäßig Bedrohliches an sich. Sein Lächeln schien aufrichtige Belustigung auszudrücken und kein Machtlächeln zu sein, das darauf abzielte, zu beeindrucken oder einzuschüchtern. Seine Körpersprache war, nun, ich wußte nicht so recht, was ich davon halten sollte, aber sie war auch nicht bedrohlich.
Doch die Furcht war echt, Chummer. Aus irgendeinem Grund verursachte er mir ein ebenso frostiges Gefühl in den Eingeweiden wie ein Eiswasser-Einlauf. Manche Leute mag man auf den ersten Blick. Andere nicht. Nie zuvor war mir jemand begegnet, vor dem ich mich automatisch gefiirchtet hatte. Ich glaube aber, daß es mir gelang, einen neutralen Gesichtsausdruck zu bewahren.
Der Elf nickte grüßend - eine Geste mit dem formellen Anflug der Alten Welt. »Mr. Montgomery«, sagte er. Seine Stimme war ein Musikinstrument, fast unmenschlich perfekt in Timbre, Tonfall und Klangfülle. Jede Tri-deopersönlichkeit hätte für so eine Stimme seine Mutter eigenhändig erwürgt. »Ich hatte mir schon gedacht, daß ich Sie hier treffen würde.«
»Dann wissen Sie mehr darüber als ich«, sagte ich wahrheitsgemäß.
Er fand das amüsant, und sein Lächeln wurde breiter. »Nun, diese Möglichkeit besteht immer, nicht wahr, Mr. Montgomery? Oder darf ich Sie Derek nennen?«
»Warum nennen Sie mich nicht Brian Tozer?« sagte ich. Dann - was sollte es? - »Aber Dirk tut's auch. Sie sind an der Reihe.«
Der Elf nickte wieder, diesmal war es fast eine Verbeugung. »Quentin Harlech, zu Ihren Diensten. Aber Sie können mich Quirin nennen.«
Ich ignorierte diese offensichtliche Eröffnung.
Harlech setzte seine kugelsichere Sonnenbrille ab -blaue Augen, schärfer als eine Monofaserklinge - und sah sich ostentativ in der Gegend um. »Ziemlich faszinierend, nicht wahr?« bemerkte er leichthin.
Ich zuckte die Achseln. »Wenn man es versteht, würde ich sagen.«
Da lachte Harlech. Es war nicht das finstere Gackern, das ich irgendwie erwartet hatte, sondern ein kehliges, freies Lachen, das aufrichtige Belustigung ausdrückte. »Ja, natürlich, Dirk, natürlich. Werden Sie mit interessanten Berichten zurückkehren?«
»Hä?« Natürlich war das keine übermäßig gewitzte Antwort, aber es war alles, was mir im Moment dazu einfiel.
Quirin kicherte wieder. »Berichte, Derek, Sie wissen schon. Für jene, die Sie geschickt haben. Bestellen Sie ihnen Grüße von mir, wenn Sie sie weitergeben, ja? Aber das würden Sie ohnehin tun, auch ohne meine Aufforderung, nicht wahr?«
Ich schüttelte zögernd den Kopf. »Entschuldigen Sie die dämliche Frage, aber sind wir beide im gleichen Film? Oder verwechseln Sie mich vielleicht mit einem anderen Dirk Montgomery?«
Der Elf seufzte und stieß einen mißbilligenden Tststs-Laut aus. »Unehrlich gesprochen, Mr. Montgomery«, sagte er. Seine Stimme klang mehr enttäuscht als alles andere. »Welch plumpe Verstellung. Das steht Ihnen nicht gut zu Gesicht, Sir.«
Ich zeigte ihm meine leeren Handflächen. »Chum-mer«, sagte ich ruhig, »ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie reden.«
»Natürlich nicht, natürlich nicht«, sagte Quinn gönnerhaft und lachte wieder. »Und natürlich wissen Sie auch nicht, daß das Spiel begonnen hat«, fuhr er sarkastisch fort. »Sie wissen nicht, daß Ihre Tarnung aufgeflogen ist und daß Sie Ihre Zeit verschwenden. Dafür habe ich gesorgt. Das sollten Sie Ihrem Herrn wirklich mitteilen.« Sein Blick huschte über mein Abzeichen, und ich sah, wie sich seine Miene unmerklich veränderte. »Ihren beiden Herren«, fügte er hinzu.
Bevor ich ein Wort sagen konnte, wandte er sich mit einem endgültigen »Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Makkaherinit« ab.
»Hey, Augenblick mal«, rief ich ihm nach.
Oder jedenfalls versuchte ich es ihm nachzurufen. Ich versuchte Luft zu holen... und konnte es nicht. Ich versuchte mich zu bewegen... und konnte es nicht. Ich versuchte zu blinzeln... und konnte es nicht.
Offenbar Magie - ein mächtiger Lähmungszauber. Harlech mußte ihn gegen mich gewirkt haben, um sich Zeit für seinen Abgang zu verschaffen. Jedenfalls dachte ich mir das später. Im Augenblick ging mir nur ein Gedanke durch den Kopf.
Ich war, verdammt noch mal, gelähmt, und ich war, verdammt noch mal, entsetzt. Ihr Geister, waren Sie schon mal gelähmt? Ich kann Ihnen sagen, es ist ganz und gar nicht so, wie man es sich vorstellt... oder jedenfalls nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Vielleicht gibt es Lähmungszauber, die nur willkürliche Muskelbewegungen unmöglich machen und die unwillkürlichen unbeeinträchtigt lassen. Dieser nicht. Ich konnte nicht atmen, weder ein noch aus, und ich konnte nicht einmal meinen Puls hören. Jede Muskelfaser meines Körpers schien in der Stellung erstarrt zu sein, die sie innegehabt hatte, als Harlech seinen Zauber, oder worum es sich handelte, gewirkt hatte.
Ich sah ihn weggehen. Dann verschwand er aus meinem Gesichtsfeld, und ich konnte die Augen nicht bewegen, um ihm zu folgen. Ich war wie festgenagelt, starrte auf ein Stück Wiese und einen blühenden Baum - der Baum war ein wenig unscharf, und ich konnte meine Augen nicht einmal fokussieren -, und ich fragte mich, ob das der letzte Anblick meines Lebens sein würde. Der Elf hatte implizit durchblicken lassen, daß ihm nichts an meinem Tod lag, was bedeutete, daß er den Zauber irgendwann aufheben würde... aber auch schnell genug? Wie gut war seine Schätzung der Anoxie-Toleranz eines über dreißigjährigen ehemaligen Shadowrunners, der nicht in bester Verfassung war? Wenn er den Zauber schließlich aufhob und meine Herzgefäße ihre Arbeit wieder aufnahmen, wieviel meines Hirns würde dann aufgrund des Sauerstoffmangels bereits abgestorben sein? Kein sehr angenehmer Gedanke...
Mein Gesichtsfeld verengte sich, und kleine verschwommene Sterne tanzten vor meinen Augen. Mit wachsender Verzweiflung versuchte ich noch einmal, Atem zu holen...
Und ich wollte verdammt sein, wenn es diesmal nicht funktionierte. Ich füllte meine Lungen, ein gewaltiges jubilierendes Inhalieren. (Wer sagt, der Orgasmus sei die beste Erfahrung der Welt? Ich weiß es besser, Chummer, es ist Atmen...) Mein Herzschlag setzte wieder ein, ein gleichmäßiges Hämmern in meinen Ohren. Ich ließ mich auf Hände und Knie fallen und genoß einfach das Gefühl, daß Brust und Zwerchfell taten, was sie tun sollten. Die kleinen verschwommenen Sterne lösten sich auf, und mein Gesichtsfeld dehnte sich langsam wieder aus, und schließlich ließ auch das Entsetzen nach. Als ich wieder an etwas anderes als mein persönliches Überleben denken konnte, war der Elf spurlos verschwunden.