20

Ach, Jesus, Theresa...« Ich fühlte mich, als sei mir alles Blut aus dem Körper gesogen und durch Eiswasser ersetzt worden. Ich fühlte mich, als seien mir die Fundamente meiner Welt unter den Füßen weggezogen worden. Ich fühlte mich wie ein Kind, das man gezwungen hatte, sich den enthaupteten Körper seiner Lieblingspuppe anzusehen. Ich fühlte mich wie... Wie konnte ich es auch nur mir selbst beschreiben?

Meine Schwester. Das einzige in meinem ganzen Leben, worauf ich stolz sein konnte - die eine idiotische Edle-Ritter-Reaktion, die wirklich etwas gebracht hatte -, war die Tatsache, daß ich Theresa aus jener kleinen Vorhölle unter Fort Lewis geholt hatte. Und ihr über die Alpträume und das posttraumatische Streß-Syndrom und all den Drek, der danach noch kam, hinweggeholfen hatte. Gesehen hatte, daß sie clean war, clean und geistig gesund, und sie dann ihr eigenes Leben hatte leben lassen.

Wofür? Wozu war das gut gewesen, können Sie mir das sagen? All die Leiden und Qualen... wofür? Drek, ebensogut hätte ich sie an jenem eitergelben Nabel im Nest von Fort Lewis und die astralen Parasiten - die Wespengeister - in ihrer Aura lassen können. Es war alles umsonst gewesen, das konnte ich in den glasigen Augen meiner Schwester erkennen- Die eine Sache in meinem Leben, von der ich geglaubt hatte, ich hätte sie richtig gemacht... jetzt hatte sich die auch in Drek verwandelt. Ach, zum Teufel damit. Ich konnte ebensogut meiner Linie treu bleiben, neh? Zumindest kann ich darauf stolz sein.

Der Körper meiner Schwester stand vor mir, ein Lächeln auf dem Gesicht. Irgend etwas sah mich aus jenen vertrauten Augen an, jenen Augen, die immer in der Lage zu sein schienen, dort Wunder und Schönheit zu sehen, wo ich nur Leiden und Gefahr sah. Irgend etwas... War Theresa noch da? War in dieser Hülle von einem Körper noch etwas von meiner Schwester übrig? Oder war sie weg, für immer verschwunden?

Es war fast so, als könne Theresa - oder das Ding, das jetzt in ihrem Körper steckte - meine Gedanken lesen. »Ich bin hier, Derek«, sagte sie leise. »Ich bin hier. Ich bin Theresa, aber ich bin noch mehr.«

»Warum?« Meine Stimme war ein heiseres Flüstern, die Lautäußerung eines Opfers der Folter.

Sie lächelte. Es war das Lächeln meiner Schwester, Theresas Lächeln. Es schmerzte so sehr, daß ich mir wünschte, ich könnte auf der Stelle sterben. »Warum?« wiederholte sie. Sie sah weg, und ihre Brauen kräuselten sich so, wie sie es immer taten, wenn sie angestrengt nachdachte. »Ich würde eine Million Worte brauchen, um es zu erklären«, sagte sie zögernd, »oder auch nur eines.«

»Eines?«

»Liebe«, sagte meine Schwester entschlossen. »Das ist die einzige Antwort, der Kern. Das Herzstück von allem.«

Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte schreien, ich wollte wegrennen. Ich wollte sie packen und schütteln. Aber ich sagte nur leise: »Das verstehe ich nicht, Theresa.«

»Es ist ganz einfach, Derek, echt«, sagte sie mit sanfter, freundlicher Stimme. Ihr Tonfall ließ mich denken, daß sie es mir wirklich begreiflich machen wollte, aber konnte ich solchen Dingen wie Tonfall und Körpersprache trauen?

»Weißt du, wie es ist, wenn man geliebt wird?« fuhr sie fort.

»Natürlich.«

Sie hob ironisch eine Augenbraue. »Tatsächlich? Wirklich? Bedingungs- und vorbehaltlos? Um deiner selbst willen - für das, was du bist, nicht für das, was du tust?

Mit dem Wissen, daß nichts - nichts! - daran je etwas ändern kann, daß du diese Liebe nie verlieren kannst?«

Ich konnte mich nicht zu einer Antwort durchringen.

»Ich wußte es nicht«, fuhr sie traurig fort. »Mom hat uns geliebt... aber nur, wenn wir uns anständig benahmen. Dad hat uns geliebt... aber nur, wenn wir uns auszeichneten. War es nicht so, Derek?« Sie nahm meine Hand. Ich wollte sie abschütteln, konnte mich jedoch nicht rühren. »Wenn wir ›liebe‹ Kinder waren - wenn wir unser Leben so lebten, wie sie glaubten, daß wir es leben sollten -, dann wurden wir geliebt. Wenn nicht, entzogen sie uns ihre Liebe.«

»Sie haben uns immer geliebt, Theresa.« Ich mußte es sagen, obwohl ich nicht völlig davon überzeugt war, daß es stimmte.

»Vielleicht«, sagte sie mit der Andeutung eines Nickens. »Vielleicht haben sie das wirklich. Aber sie haben ihre Liebe nicht ausgedrückt, oder? Und für ein Kind zählt nur der Ausdruck. Für einen Erwachsenen vielleicht auch.«

»Ich habe dich immer geliebt, Theresa ...«

Meine Schwester drückte meine Hand. »Ich weiß, das hast du, Derek. Auf deine Weise - im Rahmen deiner Fähigkeiten - hast du mich geliebt. Und dafür werde ich dir immer dankbar sein und dich lieben. Aber... das reicht nicht, nicht, wenn man mehr erlebt hat.«

Sie fixierte mich mit ihrem steten Blick. »Ich weiß, daß du mich liebst, Derek«, fuhr sie inbrünstig fort, »aber ich konnte deine Liebe nie spüren. Nicht direkt. Man kann Liebe nicht spüren. Was in den Liebesgeschichten und Trideofilmen und Liedern auch behauptet wird - man kann sie nicht spüren. Wenn die Leute sagen, sie ›spüren‹ Liebe, dann meinen sie in Wirklichkeit etwas in ihnen selbst, nicht wahr? Sie leiten die Liebe einer oder mehrerer anderer Personen ab. Sie registrieren, was die Leute zu ihnen sagen, wie sie reagieren und was sie tun, und daraus schließen sie, daß diese anderen Leute sie lieben. Und aus dieser Schlußfolgerung, aus dieser Ableitung, stammt das Gefühl, was die Leute ›geliebt wer-den‹ nennen.

Begreifst du, was ich sage, Derek? Es ist wichtig, daß du es begreifst. Das Gefühl, das wir als ›geliebt werden‹ bezeichnen, ist völlig unabhängig davon, ob man tatsächlich geliebt wird oder nicht. Verstehst du denn nicht? Wenn man tatsächlich von jemandem geliebt wird, aber man weiß es nicht - man zieht nicht die richtigen Schlußfolgerungen -, dann spürt man diese Liebe auch nicht. Wenn man von jemandem nicht geliebt wird, aber fälschlicherweise den Schluß zieht, daß man doch geliebt wird, spürt man die Liebe. Verstehst du? Man spürt überhaupt keine Liebe, sondern reagiert nur auf einen inneren Zustand, auf eine Schlußfolgerung, die man bezüglich der Außenwelt zieht.

Und mehr habe ich nie gespürt«, fuhr sie leise fort, »mehr spürt niemand. Ich habe nicht gewußt, daß noch etwas anderes existiert.«

»Bis...«, flüsterte ich.

Meine Schwester nickte. »Bis ich die Liebe der Nestkönigin spürte«, sagte sie schlicht.

Ich konnte ihrem Blick nicht standhalten. Drek, ich konnte das alles nicht mehr ertragen - jemandem gegenüberzustehen, der so aussah und klang und sich anfühlte... und Jesus, sogar so roch wie meine Schwester, und sich dann diesen Drek anhören zu müssen... Ich wollte meine Hand wegziehen, aber ich hatte nicht den Mumm.

Sie drückte meine Hand wieder, fast so fest, daß es weh tat. »Hör mir zu, Derek«, sagte sie. »Bitte.«

»Warum?« wollte ich wissen. »Warum, zum Teufel, sollte ich? Damit du mich auch überzeugen kannst? Damit deine... deine Nestkönigin meine Seele auch verschlingen kann?«

Das Gift in meiner Stimme ließ sie nicht zurückzucken und machte sie auch nicht wütend. Statt dessen sah sie traurig aus. »Das tun wir nicht«, sagte sie.

Ich krümmte mich bei diesem schrecklichen Wort. Wir.

Sie sah es, fuhr aber dennoch fort. »Wir bekehren nicht mit Gewalt - nicht mit Feuer und Schwert. Das ist die traditionelle Art, wie menschliche Religionen verbreitet werden, aber das hier ist keine Religion, Derek. Leute übernehmen diese Lebensweise, weil sie sie von sich aus wählen, weil es das ist, was sie in ihrem tiefsten Innern wirklich wollen.«

»Blödsinn«, fauchte ich, plötzlich wütend. »Als ich dich fand, hast du in einem verdammten Koma gelegen und hattest eine verdammte Nabelschnur in dir, Theresa. Das sieht für mich nicht nach freier Wahl aus.«

Meine Wut ließ sie kalt, und als ich das sah, schien sich mein Zorn einfach aufzulösen und ließ mich innerlich leer zurück. Sie zuckte die Schultern. »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie es dazu gekommen ist, Derek«, gab sie zu. »Aber ich erinnere mich noch daran, was ich fühlte, als ich dazugehörte.«

»Wie solltest du? Du lagst im Koma.«

Sie zuckte wiederum die Achseln. »Ich weiß nicht, wie, ich weiß nur, daß ich es tue.«

»Du hast nie darüber geredet. Weder mit mir noch mit den Ärzten und Therapeuten...«

»Ich weiß. Vielleicht wollte ein Teil von mir nicht darüber reden - sich nicht daran erinnern oder es vielleicht auch nicht zugeben. Aber die Erinnerung daran war da, Derek, und ist es noch immer. Ich hatte nicht ständig Zugang dazu. Vielleicht hat sie sich in Träumen geäußert - Träumen, aus denen ich erwachte und mir die Augen ausheulte, weil ich mich so einsam und leer fühlte.

Ich bin gereist«, fuhr sie sanft fort. »Ich bin in andere Städte gereist. Ich habe mir die Leute angesehen, und die fühlten sich auch einsam und leer. Manche von ihnen wußten es. Die meisten von ihnen konnten sich nicht überwinden, darüber nachzudenken. Sie waren alle allein, alle waren allem. Und die Erinnerungen kamen mir immer öfter und wurden immer stärker. Und die Trauer wollte nicht verschwinden.«

»Also bist du zu ihnen zurückgegangen.« Meine Stimme klang in meinen Ohren wie ein kalter Wind, der über einen Friedhof fegt.

»Zuerst nicht«, korrigierte sie.

»Warum nicht, wenn dein Leben so furchtbar war?«

»Wegen dir, Derek. Weil ich Angst hatte, du würdest es nicht verstehen und nicht gutheißen.«

Ich verstehe es auch nicht und heiße es noch zveniger gut, sagte ich nicht. Ich nickte nur wortlos.

»Und dann fiel mir etwas ein, etwas, das du mir gesagt hast«, fuhr sie fort, »und ich traf meine Entscheidung.«

Das schockierte mich. »Etwas, das ich dir gesagt habe?«

»Natürlich. Du hast mir einmal gesagt, daß ich mein Leben mit dem Ende vor Augen leben solle. Erinnerst du dich noch, Derek? Das hast du als eine Art Entscheidungshilfe vorgeschlagen. Daß ich mir vorstellen sollte, ich sei am Ende meines Lebens angelangt und schaue zurück. Würde es Reue geben? Würde ich auf dem Totenbett liegen und um eine Chance bitten, noch einmal zurückgehen und etwas tun zu können - etwas zu erleben, etwas zu haben was ich zuvor abgelehnt hatte? Erinnerst du dich noch, Dirk?«

Ja, natürlich erinnerte ich mich daran, jetzt, wo sie es mir wieder vorplapperte. Wieder eine dieser oberflächlichen Vereinfachungen, die ich anscheinend ganz spontan aus dem Ärmel schütteln konnte. Vielleicht glaubte ich sie sogar manchmal selbst. Wenn ich an meinem Computer saß und noch ein paar Zeilen Programmcode zu schreiben hatte und wußte, daß draußen über der Skyline von Cheyenne ein wunderbarer Sonnenuntergang stattfand, zum Beispiel. Woran werde ich mich erinnern, wenn ich auf dem Totenbett liege, fragte ich mich dann: an einen ergreifenden Sonnenuntergang oder an ein weiteres Dutzend Zeilen Programmcode? Wenn schon nichts anderes, so war es doch eine bequeme Entschuldigung dafür, Arbeit Arbeit sein zu lassen.

»Ich dachte daran, was du gesagt hattest«, fuhr Theresa fort. »Ich dachte ans Sterben. Und ich dachte daran zu sterben, ohne diese Liebe, dieses Dazugehören, je wieder zu spüren. Das konnte ich nicht ertragen.«

»Also bist du zu ihnen zurückgekehrt«, wiederholte ich.

»Tatsächlich sind sie zu mir gekommen«, korrigierte sie. »In Denver. Es war, als wüßten sie, daß ich da war und daß ich sie brauchte. Sie sind zu mir gekommen und haben mir angeboten, mich zu lieben und mich zu brauchen.«

»Und Besitz von dir zu ergreifen«, spie ich die Wörter förmlich aus, »und dir deine gottverdammte Seele zu stehlen!«

Meine Schwester sah mich traurig an. Es war eine... eine komplexe Trauer, anders kann ich es nicht beschreiben: Bedauern, das mit Verständnis und etwas anderem vermischt war, bei dem es sich fast um Mitleid handeln konnte. Ich haßte den Ausdruck in ihren Augen. Ich fürchtete ihn.

»So ist es nicht, Derek.« Ihre Stimme war so sanft wie eine Brise, die in den Blättern einer Ulme rauschte. »Ich bin ich. Ich werde immer ich sein. Aber ich bin auch mehr. Ich bin die Nestkönigin. Ich bin die anderen Mitglieder des Nests. Und sie sind ich.

In einem gewissen Sirin werde ich niemals sterben. Solange ein Mitglied des Nests existiert, existiere ich. Ein Teil meiner Erinnerung - ein Teil dessen, was ich bin -wird weiterleben. Vielleicht ewig. Es gibt keinen Verlust, Derek, nicht einen. Es gibt nur einen Geivinn. Ich bin Theresa, so wie ich immer war... nur noch mehr.«

Jetzt entzog ich ihr tatsächlich meine Hand und schlug sie vor das Gesicht. »Nein«, sagte ich. Mehr nicht, nur »Nein«. Ich konnte mich nicht dazu überwinden zu sagen, was ich dachte - daß sie doch etwas verloren hatte. Wenn schon nichts anderes, so doch zumindest ihre Menschlichkeit. Und damit hatte sie auch die Fähigkeit verloren zu wissen, daß etwas verlorengegangen war.

Jemand berührte mich sanft am Arm. Nicht Theresa. Ich kannte ihre Berührung. Ich ließ die Hände sinken.

Es war der graugesichtige Mann, der Insektenschamane. Ich zuckte vor ihm zurück, als sei seine Hand ein weißglühendes Brandeisen, das meine Haut versengt hatte. Ich starrte ihn an, seine glasigen Augen, das Gesicht, das früher einmal einem Menschen gehört hatte. Ich hatte geglaubt, schon früher in meinem Leben gehaßt zu haben. Ich hatte mich geirrt. Ich glaube, ich lächelte, als ich nach dem Manhunter griff, der in meinem Hosenbund steckte.

Die Pistole lag in meiner Hand. Mein Daumen legte den Sicherungsflügel um, während ich die massige Kanone hochriß. Der Ziellaser leuchtete auf, und ich richtete ihn auf das rechte Auge des Schamanen. Das rubinrote Licht glitzerte auf der wäßrig aussenden Pupille. Ich krümmte langsam den Finger um den Abzug.

Und ließ kurz vor dem Druckpunkt los. Der Schamane hatte überhaupt nicht reagiert. Er beobachtete mich nur. Drek, seine Pupille schien sich unter dem Laserlicht nicht einmal verengt zu haben.

Plötzlich wurde mir die Situation im Zimmer bewußt. Die drei Leibwächter hatten alle ihre häßlich aussenden MPs gezogen. Kono und derjenige, den sie Lupo nannten, hatten den Schamanen im Visier. Pohakus Waffe pendelte zwischen mir und dem Schamanen hin und her, als wisse er nicht, was er tun solle. Die Frau, Akaku'akanene, starrte mich mit ihren strahlenden, vogelähnlichen Knopfaugen an. Ich glaube, sie verstand, was ich empfand - ich glaube, daß es sich bei dem Ausdruck in ihren Augen um Verständnis handelte. Doch da war auch Entschlossenheit. Ganz tief unten, in meinem tiefsten Innern, war ich davon überzeugt, daß ich gar nicht dazu in der Lage gewesen wäre, dem Insektenschamanen eine Kugel in den Kopf zu jagen, auch wenn ich es tatsächlich versucht hätte. Die letzte Person im Zimmer war Theresa. In ihren Augen stand etwas, das ich bei jemand anderem als aufrichtige Trauer hätte bezeichnen müssen.

»Bleibt cool, Leute«, sagte ich ruhig. Ich senkte meine Kanone und sicherte sie wieder. Um mir die Versuchung zu ersparen, drehte ich mich um, und warf sie aufs Bett. Dann wandte ich mich wieder an den graugesichti-gen Insektenschamanen. »Nun?« sagte ich gelassen. »Sag deinen Spruch auf.«

Der kleine Mann nickte. »Sie befinden sich in einer interessanten Situation, Mr. Montgomery«, begann er. Seine Stimme war so grau, so unscheinbar - so leer -wie sein Gesicht. »Ohne es zu wollen, sind Sie in wichtige Ereignisse verwickelt worden.

Diese Ereignisse entwickeln sich bereits seit einiger Zeit«, fuhr er ruhig fort. »Der Anfang der Struktur ist gewoben« - seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte und keine menschliche Belustigung enthielt -, »nun, das Weben hat in der Tat lange vor Ihrer Geburt begonnen. Jetzt haben Sie die Umstände mitten in diese Angelegenheit hineinkatapultiert, und das Webmuster der Struktur hat sich dadurch verändert.«

Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du redest, Chummer«, sagte ich kategorisch.

»Das ist doch offensichtlich, oder nicht?« fragte der Schamane rhetorisch. »Sie sind in die Struktur eingewoben worden, Mr. Montgomery. Sie sind jetzt Teil des Teppichs der Ereignisse, nicht nur Beobachter. Es gibt Leute, die das spüren können.« Und jetzt warf er Akaku'aka-nene einen Seitenblick zu. »Das Weben der Struktur ist beinahe vollendet.«

Ich schnaubte. »Ich bin nicht in Stimmung für Philosophieunterricht, okay?« schnauzte ich. »Komm endlich zur Sache.«

Der Insektenschamane hielt inne, dann nickte er. »Auf den Inseln von Hawai'i gibt es mehrere Orte der Macht«, sagte er ruhig. »Puowaina, Haleakala, Honau-nau Bay... unter anderem. Für jene mit dem Wissen und der Bereitschaft, den Preis zu zahlen, gibt es Möglichkeiten, Mana von diesen Orten abzuziehen. Es gibt jene, die diese Orte für ihre eigenen Zwecke nutzen wollen. Sie sehen in diesen Orten nicht mehr als Manavorkommen, aus denen sie sich mit magischer Energie versorgen können.«

»Ich dachte, das sei unmöglich«, warf ich ein.

»Für die meisten Magier und Schamanen ist es das auch«, bestätigte er. »Aber es gibt uralte Techniken, mit denen es möglich ist. Diese sind jedoch äußerst komplex und zeitraubend. Und alle sind mit einem bedeutenden Risiko verbunden.«

»Was für einem Risiko?«

»Macht jeglicher Art muß von irgendwoher kommen«, sagte der Schamane. »Innerhalb der Gäasphäre wird sie von lebendigem Material erzeugt - von der ›Biomasse‹. Aber gewisse Orte der Macht sind wie Leitungen zu anderen« - erhielt kurz inne, um nachzudenken - »anderen Orten«, fuhr er vorsichtig fort. »Durch diese Leitungen kann Mana fließen.«

Ich nickte. Das schien zumindest einen gewissen Sinn zu ergeben. Bis zu einem gewissen Grad paßte es zu den Gedanken, die ich mir nach meinem Besuch an der Opferstelle in der Punschschüssel gemacht hatte. »Ich verstehe«, sagte ich. »Ihr wollt nicht, daß diese Burschen die ganze Macht in die Finger bekommen, ist es das?«

Der Schamane schüttelte energisch den Kopf. »Das bereitet uns keine Sorgen. Auf lokaler Ebene ist die verfügbare Macht beträchtlich, aber im globalen Maßstab ist sie unbedeutend.«

»Ein taktischer Atomsprengkopf im Vergleich zu einer städtevernichtenden Interkontinentalrakete?« schlug ich sarkastisch vor, wobei ich an Chicago dachte.

Er überraschte mich, indem er nickte. »Eine brauchbare Analogie. Aber darum geht es uns nicht.« Ach, nein? dachte ich. »Es geht darum, daß die... die Orte, von denen das Mana kommt...« Er brach ab, als suche er nach dem richtigen Wort.

»Sie sind bewohnt, nicht wahr?« Die Worte waren bereits heraus, bevor ich mir noch des Gedankengangs bewußt wurde, der dahintersteckte. Erschreckend - und noch viel erschreckender, als der Insektenschamane nickte.

»Es gibt gewisse Wesenheiten an diesen anderen Orten«, stimmte er mit wohlabgewogenen Worten zu. »Dieselbe Barriere, die den freien Manafluß verhindert, verwehrt ihnen den Zugang zur Gäasphäre.«

»Und wenn man diese Barriere so sehr schwächt, daß man das Mana absaugen kann...?« Diesmal brach ich ab.

Sein Schweigen reichte als Antwort.

»Was sind das für ›Wesenheiten‹?« wollte ich wissen.

Der Schamane zuckte die Achseln. »Ihre exakte Natur ist unterschiedlich und nicht vorhersehbar. Es reicht zu sagen, daß niemandem damit gedient wäre, sollte es ihnen gelingen, die Barriere zu durchdringen.«

Irgend etwas paßte hier nicht zusammen. »Das ist doch Blödsinn«, sagte ich zögernd. »Was ist mit den Burschen, die versuchen, das Mana abzusaugen? Wissen die denn nichts von diesen Wesenheiten?«

»Sie wissen von ihnen.«

»Und sie tun es trotzdem?«

»Vielleicht glauben sie, daß sie die Wesenheiten kontrollieren können«, sagte der graugesichtige Mann, »oder vielleicht auch abwehren, sobald die Barriere einmal geschwächt ist. In beiden Fällen irren sie sich. Die Wesenheiten werden sie überwältigen oder korrumpieren ... wenn das nicht bereits geschehen ist.«

Ich hob die Hände, um ihn zum schweigen zu bringen. »Okay, kurze Pause, mal sehen, ob ich alles verstanden habe. Irgendwo, in irgendeinem Vulkan, pfuscht ein Schamane an dieser Barriere herum...«

»Dazu ist mehr als ein Schamane erforderlich«, warf der Graugesichtige ein. »Es gibt stabilisierende Kräfte, die ganz natürlich jeder verfrühten Schwächung der Barriere entgegenwirken. Diese Kräfte müssen erst überwunden werden.«

Verfrüht? Interessantes Wort. Ich würde später darüber nachdenken. »Okay, Zusatz zur Kenntnis genommen. Also pfuscht eine ganze Wagenladung Schamanen an dieser Barriere herum und versucht Mana abzusaugen. Und anstatt der Macht werden sie diese kosmischen Gemeinheiten bekommen, die... was? Was wird die Folge sein?«

»Leiden«, sagte der Schamane, dessen Stimme kalt und distanziert klang. »Tod. Verwüstung. Anfänglich nur auf den Inseln, aber glauben Sie mir, es wird sich ausbreiten.«

Ich nickte, als ob ich verstünde. »Und diese kosmischen Gemeinheiten werden euch Burschen auch das Leben zur Hölle machen, nehme ich an?«

Seine Augenbrauen hoben sich. »Den Angehörigen des Nests? Nein«, sagte er entschlossen. »Die Wesenheiten, die durchkommen, werden keine Zeit und Mühe auf uns verschwenden. Erst wenn keine geeignetere Beute mehr zur Verfügung steht.«

Mir gefiel das alles überhaupt nicht... natürlich immer vorausgesetzt, daß ich diesem elenden Burschen glaubte. Und tat ich das? Das Urteil stand immer noch aus. »Aha«, sagte ich neutral. Dann beugte ich mich vor und stieß ihm den Zeigefinger gegen die Brust. »Warum, zum Teufel, erzählst du mir das dann alles? So, wie du redest, hört es sich so an, als beträfe euch das überhaupt nicht. Warum kümmert ihr euch dann darum? Warum lehnt ihr euch nicht einfach zurück und genießt das verdammte Schauspiel?« Meine Wut war wieder da, ein kaltes Feuer, das in meiner Brust brannte. Ich spürte meinen Puls in den Schläfen hämmern. »Und wahrscheinlich wird es doch ein ziemlich nettes Schauspiel, oder nicht? Vielleicht könnt ihr noch was leinen, zum Beispiel, wie man Leiden, Tod und Verwüstung verbreitet.« Ich hielt um der besseren Wirkung willen kurz inne. »Oder vielleicht geht es euch ja auch genau darum. Ihr wollt nicht, daß jemand in euren Teich pißt, ist es das? Jeder, der von diesen kosmischen Gemeinheiten umgelegt wird, ist einer weniger, von dem ihr Besitz ergreifen oder den ihr umbringen oder in ein verdammtes Ungeheuer verwandeln könnt, richtig? Drek, ihr wollt einfach nur keine Konkurrenz!«

Der Schamane blieb völlig ungerührt. Auf seinen Wangen und seiner Stirn glänzten kleine Speicheltropfen - ich war echt dicht an ihn herangerückt -, aber er schien das entweder nicht zu bemerken, oder es war ihm egal. »Es ist nicht unsere Absicht, Tod und Leiden zu verbreiten«, sagte er ruhig.

»Erzählt das mal den Leuten in Chicago!«

»Wir haben keinen Atomsprengkopf zur Explosion gebracht«, erwiderte er gelassen - was um so aufreizender war, weil er natürlich recht hatte. »Wir haben uns nur verteidigt.«

»Na klar!«

»Sie kennen uns nicht, Mr. Montgomery ...«

»Und ich zvill euch auch gar nicht kennen!« konterte ich.

»...Aber Sie können mir glauben: Wir sind nicht Ihr Feind. Wir führen nichts Böses gegen die Metamensch-heit im Schilde. Ganz im Gegenteil, wie Ihre Schwester bezeugen kann.«

»Laß meine Schwester aus dem Spiel, du Dreksack!«

»Unsere Ziele und Absichten sind unsere Sache«, fuhr er ungerührt fort. »Manchmal kollidieren sie mit den Zielen Ihrer Rasse. Meistens berühren sie sich nicht. Und manchmal - wie in diesem Fall - stimmen Ihre und unsere Interessen überein.«

»Und wahrscheinlich soll ich euch in dieser Hinsicht einfach vertrauen, ja?« wollte ich wissen.

»Das liegt an ihnen«, sagte der Schamane schlicht.

Ich hielt inne. Mein Verstand war ein wirbelndes Chaos einander widersprechender Gedanken. Ich wünschte mir irgendeinen Gott, an den ich glauben konnte, irgendeinen Großen Schiedsrichter, dem ich »Auszeit!« zurufen konnte. Fehlanzeige. Der Insektenschamane beobachtete mich immer noch mit glasigen Augen und ausdruckslosem Gesicht. Ich konnte einfach nicht wütend auf ihn bleiben, stellte ich fest, nicht ohne eine Reaktion von ihm. Es war so, als versuche man, einen Groll gegen eine Fußbank oder einen Türstopper aufrechtzuerhalten. Ich seufzte wieder. »Okay, Hoa«, sagte ich ruhiger. »Nehmen wir also einfach mal an, ich schlucke die Geschichte, die du mir aufgetischt hast. Was dann? Was wollt ihr von mir?«

Er antwortete sofort. »Machen Sie Ihren Einfluß geltend, um dieser Sache ein Ende zu bereiten, bevor sie zu weit geht.«

Ich lachte ihm ins Gesicht. »Einfluß? Chummer, du hast dir den Falschen ausgesucht, das kann ich dir sagen. Ich habe ungefähr so viel Einfluß wie ein verdammter Bauer in einem Schachspiel, so viel wie...« Meine Vorstellungskraft ließ mich im Stich, also wedelte ich nur vielsagend mit den Armen. »Nichts, mit anderen Worten. Null. Nada. Zero. Verstanden?«

»Sie haben Einfluß«, erwiderte er. »Sie wollen es aus welchen Gründen auch immer nicht wahrhaben, aber Sie haben Einfluß.«

»Na klar«, schnaubte ich. »Ich bin in dieser Sache so wichtig wie Titten an einem Bullen.«

»So?« Die Augenbraue des Schamanen hob sich wieder. »Das ist aber nicht der Eindruck, den andere gewonnen haben.« Er sah sich ostentativ in der Suite um, wobei sein Blick langsam von einem Mitglied des Sicherheitspersonals zum anderen wanderte. »Das ist nicht der Aufenthaltsort einer Person, der es an Einfluß mangelt.«

»Die? Sie befolgen nicht meine Befehle. Es sind die Leute des Ali'i.«

Der Schamane nickte. »Und der Ali'i hört sich an, was Sie zu sagen haben. In seiner Interpretation der Ereignisse spielen Sie eine bedeutende Rolle. Andernfalls hätte er dieses Treffen nicht arrangiert.

Dasselbe gilt für den Yamatetsu-Konzern«, fuhr er entschlossen fort. »Wenn jemand Ihren Worten zuhört oder Ihre Handlungen verfolgt, dann haben Sie Einfluß. Und es gibt noch andere, nicht wahr, Mr. Montgomery?« fragte er. »Es gibt noch andere, die Sie als wichtig betrachten.«

»So wichtig, daß sie drohen, mich umzubringen, ja«, sagte ich sarkastisch.

»Dann sind Sie in der Tat wichtig«, konterte der Schamane, »was Ihnen auch sofort einleuchten wird, wenn Sie nur darüber nachdenken. Man warnt oder bedroht niemanden ohne Bedeutung oder ohne Einfluß. Man tötet ihn, oder man ignoriert ihn einfach.

Sie haben Einfluß«, schloß er. »Benutzen Sie ihn.«

»Ich weiß nicht, wie.«

»Sie werden es wissen.«

Meine Augen verengten sich. »Du erwartest tatsächlich, daß ich euch helfe?«

Der Schamane zuckte wiederum die Achseln. »Sie wollen, daß diese Sache aufhört. Wir wollen es. Ist das wirklich so schwer zu verstehen?«

»Warum« - ich gestikulierte vage mit den Händen, auf der Suche nach den richtigen Worten - »ergreift ihr dann nicht einfach Besitz von mir, wie ihr es bei Theresa getan habt? Dann brauchtet ihr mich nicht zu überzeugen, oder? Ich würde einfach Befehle befolgen wie eine gute kleine Drone.«

Wiederum prallten mein Spott und mein Zorn einfach an ihm ab. »Das ist nicht unsere Art«, sagte er ruhig. »Es muß freiwillig geschehen... auf beiden Seiten. Sie müssen uns akzeptieren, aber wir müssen auch Sie akzeptieren.«

»Und ich habe die Aufnahmeprüfung nicht bestanden?« Der Schamane reagierte nicht. Also hatte ich von den Wanzen eine Fünf oder gar Sechs bekommen, wie? Den Göttern sei Dank für die kleinen Freuden - zumindest, wenn ich diesem Kerl glauben konnte.

Ich starrte ein paar Augenblicke aus dem Fenster. Meine Augen nahmen die Umgebung wahr, aber mein Verstand registrierte die Bilder nicht. Mehr Gedanken -Ängste, Zweifel, Hoffnungen, Träume - stiegen aus dem Sumpf meines Unterbewußtseins hoch. Ich versuchte sie zu ordnen, Vernunft von Irrationalität zu trennen. Schließlich wandte ich mich wieder an den Schamanen. »Was springt für mich dabei heraus, wenn ich es tue?« fragte ich.

Er blinzelte. »Die Wesenheiten werden nicht in der Lage sein, die Barriere zu durchdringen«, sagte er zögernd. »Sie werden nicht in der Lage sein, Jagd auf...«

Ich schnitt ihm mit einer scharfen Geste das Wort ab. »Nein. Was springt für mich dabei heraus? Für mich persönlich?«

Wiederum hielt der Schamane inne. »An Bezahlung, meinen Sie?« Er klang verwirrt, als hätte ich ihn etwas gefragt, das er sich noch nicht überlegt hatte.

»Ich hatte mehr an quid pro quo gedacht«, fügte ich hinzu. »Ich tue etwas, das euch nützt, ihr tut etwas, das mir nützt. Mir. Nicht der Metamenschheit allgemein. Mir. Begriffen?«

Ich beobachtete seine Augen, während er versuchte, den Gedanken zu erfassen. (Drek, wenn ich noch einen Beweis gebraucht hätte, daß die Insektengeister nichtmenschlich und absolut fremdartig waren, wäre er das gewesen. Der Gedanke an Bestechung eine Überraschung? Kaum zu glauben...) Schließlich nickte er zögernd. »Vielleicht ließe sich etwas arrangieren.«

Ich packte ihn grob an der Schulter und zerrte ihn in eine Ecke des Raumes. Weg von den Sicherheitsleuten, weg von Akaku'akanene. Weg von Theresa. »Ich will sie zurück«, flüsterte ich heiser. »Meine Schwester.«

Er blinzelte. »Was?«

»Es ist ganz einfach. Ich erledige das für euch, ihr gebt mir meine Schwester zurück. Normal, verstanden? So, wie sie war, mit ihren eigenen Gedanken, ihrem eigenen Verstand und ihrer eigenen Seele. Ihr macht rückgängig, was ihr Theresa angetan habt.« Ich verschränkte die Arme. »Das ist mein Preis.«

Die starren Augen des Schamanen fixierten mich, als versuche er, meine Gedanken zu lesen. »Können wir darüber reden?« fragte er schließlich.

»Keine Verhandlungen«, flüsterte ich energisch. »So oder gar nicht. Ihr wollt, daß ich das erledige? Dann ist das mein Preis. Wenn ihr nicht mitspielt, setze ich all meinen Einfluß ein, um euch fertigzumachen, Chum-mer. Bei allem, was ihr tut, um diese kosmischen Wider-linge aufzuhalten, werfe ich euch Knüppel zwischen die Beine.«

»Aber diese Wesenheiten...«

»Sollen sie doch kommen! Das interessiert mich alles nicht, wenn ich meine Schwester nicht zurückbekomme.« Ich brachte mein Gesicht wieder ganz dicht vor seines. »Verstanden, Wanzen-Bubi?«

Er dachte lange darüber nach - vielleicht zwei Minuten. Mir kam es eher wie zwei Stunden vor. Ich spürte, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterlief und den Bund meiner Hose anfeuchtete, so groß war die Anstrengung, meine Knie vom zittern abzuhalten.

Schließlich nickte er einmal. »Ihre Schwester für Ihre Zusammenarbeit? Ja.«

»Dann haben wir eine Abmachung?« hakte ich nach. »Wir haben eine Abmachung.«

Ich dankte allen Göttern, die gerade zuhörten, daß er nicht auf einem Handschlag bestand.