6
Ich wartete in der Eingangshalle, während Scott den Phaeton aus dem unterirdischen Parkhaus holte. Der große Rolls hielt lautlos vor mir an, und die hintere Tür öffnete sich.
Ich bedeutete ihm ›nein‹, indem ich meine Handkanten kreuzte wie Karatekämpfer, die einander begegneten. Scotts Stimme ertönte aus einem Außenlautsprecher. »Probleme, Mr. Dirk?«
»Ich will nicht in dem Laufstall fahren«, erklärte ich -wobei ich mir ein wenig albern vorkam, weil ich mit einem Wagen redete, der sich so sichtlich abweisend gab. »Haben Sie irgendwas gegen Gesellschaft vorne einzuwenden?«
Ich hörte den Ork kichern, ein Geräusch, das über die Lautsprecher ein wenig blechern klang. »Ihre Entscheidung, Bruder, aber Sie sorgen noch dafür, daß ich vergesse, daß ich hier nur der Chauffeur bin.« Die hintere Tür schloß sich wieder, und die Vordertür klickte leise. Ich ging um den Wagen herum, stieg ein und gab mir alle Mühe, die Tür zuzuknallen, aber das Ergebnis war nur ein leises Klick. Wie erwartet, war die Fahrerkabine nichts im Vergleich zu dem Salon hinten, aber sie war immer noch komfortabler und besser eingerichtet als einige meiner früheren Behausungen.
Scott grinste mich an. Das haardünne Glasfaserkabel, das seine Datenbuchse mit der Steuereinheit verband, schien in der Sonne zu glühen. »Okay, Mr. Dirk, wollen Sie was Bestimmtes sehen?«
Ich zuckte die Achseln. »Sie sind der Kama'aina«, sagte ich. »Sie sagen mir, was ich sehen sollte.«
Sein Grinsen wurde breiter. »Schon begriffen, Hoa.« Auf ein geistiges Kommando des Orks setzte sich der Rolls in Bewegung. »Irgendwelche Einwände gegen etwas Musik? Einheimisches Zeug.«
Ich zuckte die Achseln. »Solange es nicht ›Aloha Ohe‹ ist.«
Darüber mußte er lachen. »Nicht in diesem Wagen, darauf können Sie Gift nehmen. Haben Sie je traditionellen Slack-Key gehört?« Ich schüttelte den Kopf. »Dann können Sie das jetzt nachholen.« Während sich Scott gemütlich zurücklehnte und die Arme verschränkte, schaltete sich die Stereoanlage ein und das Wageninnere war plötzlich von Musik erfüllt.
Ich hatte schon immer eine Vorliebe für Musik - echte Musik, für die man eine Begabung braucht, Musikalität, nicht den Drek, den jeder mit einem Synthesizer herausleiern kann. Vorzugsweise für alten Blues und traditionellen Jazz, aber ich bin nicht festgelegt. Drek, gelegentlich höre ich sogar Country. Slack-Key war etwas Neues - akustische Gitarren, unterschiedlich gestimmt und mit virtuosem Fingerpicking gespielt. Von der Technik her so ähnlich wie Bluegrass, aber mit eigenem Sound und eigenem Feeling.
»Gefällt es Ihnen?«
»Es gefällt mir«, bestätigte ich. »Davon hätte ich gern etwas für meine Sammlung. Wer sind die Musiker?«
»Eine alte Gruppe. Sie haben die Scheibe schon vor der Jahrhundertwende aufgenommen. Kani-alu nennen sie sich. Keiner von ihnen ist noch am Leben. Sie sind alle an Altersschwäche oder an der VITAS gestorben. Über diese CD bin ich vor ein paar Tagen ganz zufällig gestolpert. Ein paar Burschen sind die alten Kataloge durchgegangen und haben einen Haufen dieses Zeugs neu abgemischt.« Er hielt inne. »Wenn Sie wollen, können Sie mein Exemplar bei Ihrer Abreise haben. Ich kaufe mir ein neues.«
»Danke. Das fände ich wirklich Sahne.« Begleitet von den üppigen Klängen längst verstorbener Musiker verließen wir das Grundstück des Diamond Head Hotels und fuhren in Richtung Stadt.
Scott war ein guter Reiseführer. Er wußte lustige und interessante Geschichten über fast alles zu erzählen, woran wir vorbeikamen. Wir fuhren nach Nordosten und bogen dann nach Nordwesten ab, um durch den Kapiolani-Park zu fahren, der im Schatten des Diamond Head lag. Dann landeten wir auf der Kalakaua Avenue (was haben die Hawaiianer nur mit dem Buchstaben K?), die am Strand entlangführte.
Man konnte die Touristen mühelos von den Einheimischen unterscheiden, sowohl am Strand als auch im Wasser. Die Touristen waren bläßlich weiß - wie Maden unter einem Stein - oder rot gebrannt. (Ich machte mir meine Gedanken über Sonnenschutz und die dünner werdende Ozonschicht. Ich hatte ein Sonnenschutzmittel zum Aufsprühen mit Lichtschutzfaktor 45 mitgebracht, aber würde das reichen? Ich betrachtete meine Arme: so madenweiß wie die der anderen Neuankömmlinge.) Im Gegensatz dazu waren die Einheimischen -von denen es aus irgendwelchen Gründen gar nicht so viele gab - alle bronze- oder mahagonifarben und trugen dieselbe tiefe Sonnenbräune zur Schau, wie ich sie schon bei Sharon Young in Cheyenne gesehen hatte.
Die Brandung war nicht sehr stark - Wellen, die vielleicht einen Meter hoch waren. Ein paar bleiche Touristen versuchten mit Surfbrettern auf ihnen zu reiten, auf denen in grellen Schriftzügen der Name der Firma prangte, die sie verliehen hatte. Es sah nach schrecklich viel Arbeit aus, nur um naß zu werden. Während wir langsam weiterfuhren, sah ich einen Burschen - einen Elf mit ebenholzfarbenen Haaren und elfenbeinfarbener Haut - tatsächlich auf sein Surfbrett steigen und auf einer Welle reiten ... für ganze zwei Sekunden, bevor die Nase des Bretts untertauchte und er ins Wasser fiel.
Dann erwischte jemand anders weiter draußen eine Welle perfekt und ritt einen Augenblick später darauf.
Es war ein Troll auf einem Brett, das größer war als alles, was ich jemals an Eßtischen besessen habe. Sein langes schwarzes Haar peitschte im Wind, als er sein Brett auf der Welle hielt und dabei den Köpfen der Schwimmer wie Torstangen bei einem Slalom auswich. Als sich die Welle aufgezehrt hatte, sprang er geschmeidig von seinem Brett herunter, hob es mit einer einzigen Bewegung - und deutlich hervortretenden Schulter- und Armmuskeln - auf, drehte es um und paddelte wieder hinaus. Ich beobachtete das Spiel der Muskeln unter der goldbraunen Haut seines Rückens.
Scott hatte sich dieselbe Schau angesehen. »Nicht schlecht«, sagte er beifällig.
»Machen Sie das auch?«
»Ja«, bestätigte er grinsend, »aber nicht hier in der Gegend. Wenn Sie mal Zeit haben, zeige ich Ihnen ein paar richtige Wellen, Bruder. Zehn Meter hoch und sie kommen eine nach der anderen. Ziemlich irre.«
Während ich nickte, wurde mir plötzlich etwas ziemlich Überraschendes klar. Der Anblick, den der Strand bot, hatte etwas Merkwürdiges, und es dauerte einen Moment bis ich daraus schlau wurde. Diese viele nackte Haut - das war es, was mich störte.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht prüde. Nackte Haut ist toll. Unter den richtigen Umständen und insbesondere in der richtigen Begleitung liebe ich nackte Haut absolut und von ganzem Herzen. Aber...
Nackte Haut bedeutet keine Körperpanzer. Ich betrachtete all die Touristen, die dort im Sand lagen und sich rösten ließen. Bei den meisten davon mußte es sich wohl um Shaikujin handeln - Angestellte des einen oder anderen Megakonzerns. Wo in Seattle würde man so viele Shaikujin sehen, die ohne den Schutz jeglicher Körperpanzerung in der Öffentlichkeit herumwanderten? Nirgendwo. Hier hätte ein entschlossener Heckenschütze, der noch eine Rechnung zu begleichen hatte, keine Probleme: Jeder Schuß ein Treffer. Entweder hatten die Touristen ein unglaubliches Vertrauen in die Sicherheitsvorkehrungen - ein übermäßiges Vertrauen, wenn Sie mich fragen -, oder die Tropensonne hatte ihnen den Selbsterhaltungstrieb aus ihren kleinen Schädeln gebrannt.
Ich gab meine Überlegungen an Scott weiter, und der nickte zögernd. »Wahrscheinlich ist es ein wenig von beidem«, antwortete er. »Na Maka'i - das sind die Cops, die Hawai'ianische Nationalpolizei oder HNP -, die hat in Waikiki alles ziemlich unter Kontrolle. Dieser Stadtteil ist kein guter Ort, um Ärger zu machen, Hoa, das können Sie mir glauben. Wenn man keinem Konzern angehört, ist man gar nicht hier, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Sie meinen, ganz Waikiki ist eine Konzernenklave?«
»Mehr oder weniger, Bruder, mehr oder weniger.« Er nickte mit seinem großen Schädel. »Es ist mehr eine Sicherheitsfrage. Wenn man hier spazierengeht und nicht so aussieht, als ob man hier hergehört, hält einen die Na Maka'i an und stellt einem ein paar Fragen - echt höflich und alles, aber man sollte ihnen besser die richtigen Antworten geben und auch die richtigen Ausweise und Papiere haben, die zu den Antworten passen.«
Er zuckte die Achseln. »Aber strenge Sicherheitsvorkehrungen und stichprobenhafte Ausweiskontrollen auf den Straßen sind nicht alles, richtig? Die Sicherheit ist zwar gut in Waikiki, aber sie ist nicht so gut.« Er deutete durch das Fenster auf die knapp bekleideten Gestalten am Strand. »Wenn ich wirklich ein paar Pinkel erledigen wollte, könnte ich es auch... und mich anschließend absetzen.«
Ich nickte zögernd. So stellte ich es mir im wesentlichen auch vor. »Was ist dann aber mit den Einheimischen?« fragte ich. Ich zeigte auf den surfenden Troll, der bereits auf einer neuen Welle ritt. »Man sollte meinen, daß er nicht so dumm ist, den Cops zu trauen. Aber er trägt auch keine Panzerung.«
Scott kicherte. »Nein, er trägt keine Panzerung, Hoa, er ist Panzerung. Raten Sie mal, was die zweitbeliebteste freiwillige medizinische Prozedur auf den Inseln ist, der sich die Leute unterziehen.«
»Dermalpanzerung«, tippte ich.
»Sie haben's erfaßt, Bruder. Nui Dermalpanzerung -Dermalpanzerung im ganz großen Stil. Zusammen mit kosmetischer Körpergestaltung, damit es gut aussieht... oder so gut, wie es eben geht. Und jetzt sehen Sie sich mal den Burschen dort drüben an. Ein klassisches Beispiel.«
Ich sah dorthin, wohin er zeigte. Ein Ork spazierte den Strand entlang. Er trug nichts weiter als Shorts, die noch greller waren als Scotts Hemd. Seine Arme und Beine waren eher hager und knochig. Seine Schultern waren nicht sehr breit. Aber, um Himmels willen, was hatte der Bursche für Brust- und Rückenmuskeln - gewaltig und unglaublich klar in den Konturen, als seien sie aus einem anderen Material als Fleisch gemeißelt. Was sie in der Tat waren. Brust und Rücken wurden von ausreichend Dermalpanzerung geschützt, um eine Kugel aus einem Manhunter aufzuhalten. Die Seco an meiner Hüfte würde ihn kaum ankratzen.
»Wollen Sie wissen, was die beliebteste medizinische Prozedur ist?« fragte Scott.
»Sagen Sie es mir.«
»Sonnenschutz, Bruder. Genetische Behandlung der Haut, um die UV-Strahlen abzuhalten. Sie haben es zuerst mit verschiedenen chemischen Behandlungen versucht, aber man mußte sich ständig einer Auffrischung unterziehen, weil man die behandelte Haut schließlich irgendwann abstieß. Bei der genetischen Methode ist die neue Haut genauso widerstandsfähig wie die alte. Sehen Sie das?« Er streckte die Hand aus und nahm eine Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger. »Das ist Lichtschutzfaktor fünfundachtzig, Hoa. Permanenter Sonnenschutz.
Meine Augen habe ich ebenfalls behandeln lassen -modifizierte Iris und lichtempfindliche Chemikalien in der Pupille. Ich brauche keine Sonnenbrille, egal, wie hell die Sonne scheint.«
»Teuer, nehme ich an.«
»Die Augen, ja«, gab er zu. Dann kicherte er. »Ich bin froh, daß Nebula die Rechnung bezahlt hat.
Aber die Hautbehandlung? Nein, Bruder, die ist gar nicht so teuer. Die Kliniken haben sie so weit rationalisiert, daß es ein Fließbandverfahren ist, und man kann zwischen nui Arten wählen. Eine Komplettbehandlung kostet fünftausend Nuyen, und die reicht fürs Leben. Und viele Kliniken bieten spezielle Familienpakete an -Sie, Ihre Frau und die ganzen Bälger für sieben K.« Er zeigte auf meinen bleichen Unterarm. »Falls Sie sich entschließen hierzubleiben, sollten Sie es selbst in Erwägung ziehen.«
»Hey«, protestierte ich rasch. »Ich bleibe nicht hier. Ich erledige nur meinen Job, dann verschwinde ich wieder.«
Der Chauffeur zuckte die Achseln. »Das sagen alle. Am Anfang.«
Wir befanden uns immer noch auf der Kalakaua Avenue und rollten westwärts in die Innenstadt von Waikiki.
Ich wußte nicht, was ich von Waikiki erwarten sollte, glaubte aber, daß es irgendwie anders sein würde. Ich wurde enttäuscht. Es war nur eine Stadt wie jede andere, echt. Abgesehen von dem gebogenen Strand, dem dunkelblauen Meer und dem perfekten Wetter hätte es sich um jede beliebige Konzernenklave in jedem beliebigen Metroplex der Welt handeln können. Okay, es war sauberer als in den meisten Städten, die ich kannte. Aber abgesehen davon hätte es ebensogut das reiche Konzernviertel von Tokio oder Chiba sein können.
Warum ich zwei japanische Städte als Beispiel wählte? Die Leute auf den Bürgersteigen, Chummer, darum. Neun von zehn waren Japaner. Darüber wunderte ich mich eine Zeitlang, aber dann fiel mir etwas ein, das ich vor langer Zeit gelesen hatte. Offenbar war in den letzten Dekaden des vergangenen Jahrhunderts ein Haufen Japaner - und ein Haufen japanisches Geld - auf die Inseln gewandert. (Der Schlaumeier, der den Artikel geschrieben hatte, sagte so etwas wie: »Nachdem die Japaner Hawai'i im Zweiten Weltkrieg nicht erobern konnten, kamen sie hinterher einfach dorthin und kauften es.«) Fügte man zu dem großen Anteil der japanischstämmigen Bevölkerung die Touristenmassen von Angehörigen in Japan beheimateter Megakonzerne hinzu, hatte man die Erklärung.
Scott fuhr den Phaeton die breite, makellose Straße von Waikiki entlang und zeigte mir alles Wesentliche. Das Royal Hawai'ian Hotel - ›Pink Lady‹ nannte es Scott -, eine flamingofarbene Extravaganz in pseudomaurischem Architekturstil, die über hundert Jahre alt war, aber immer noch als eines der prächtigsten Hotels auf den Inseln galt. Der Internationale Marktplatz, ein Freiluft-Markt, auf dem Dutzende von Geschäften und Ständen unter den Zweigen eines Banyan-Baums ihre Waren anboten. (Scott erklärte, daß der ursprüngliche Internationale Marktplatz um die Jahrhundertwende in ein Versammlungszentrum umgewandelt worden sei, doch nachdem dieses im Jahre 2022 von einem Feuer zerstört worden sei, habe der Stadtrat angeordnet, einen neuen Banyan-Baum anzupflanzen, und der Marktplatz sei zu neuem Leben erwacht.) Und so weiter und so fort. Schließlich verschmolzen all die prächtig aussehenden Hotels zu einem einzigen, und meine Augen wurden langsam glasig.
Scott bemerkte es augenblicklich, fuhr den Wagen an den Straßenrand und sagte: »Sie langweilen sich, ist es das?«
Ich zuckte die Achseln. »Nennen Sie es Kulturschock.«
Der Ork schnaubte verächtlich. »Sie nennen das Kultur? Das ist Pomp, Bruder, schlicht und einfach.«
»Das meine ich ja«, antwortete ich. »Ich bin nicht daran gewöhnt, daß sich soviel Geld an einem Ort konzentriert.«
»Jetzt hab' ich's begriffen, Mr. Dirk.« Scott lachte. »Sie wollen die Kehrseite der Medaille sehen, richtig? Okay, sollen Sie haben.« Und er fuhr weiter.
Kaum waren wir aus der Waikiki-Enklave heraus und im richtigen Honolulu, fühlte ich mich sofort heimischer und auch wohler. (Irgendwie deprimierend, aber es ist nun mal so.) Scott zufolge liegt die offizielle Einwohnerzahl von Honolulu bei fast drei Millionen - und damit um nur hunderttausend niedriger als die Seattles. Natürlich handelt es sich in beiden Fällen nur um die offizielle Zahl. Wenn man in Seattle noch die SINlosen hinzunimmt - die Obdachlosen, die Bedürftigen, die I )urchreisenden und die Shadowrunner -, steigt diese Zahl, je nachdem, welcher Schätzung man glauben soll, auf knapp vier bis über fünfeinviertel Millionen.
Bei der Einwohnerzahl Honolulus handelt es sich wahrscheinlich ebenfalls um eine zu niedrige Schätzung, aber nachdem wir eine Weile durch Straßen und Sträßchen gefahren waren, konnte ich nicht glauben, daß der Unterschied zwischen offizieller und tatsächlicher Bevölkerung so groß war. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich sah durchaus Vagabunden und Obdachlose. (Ich sorgte dafür, daß Scott entsprechende Orte in unsere Rundreise einschloß.) Aber sie waren nicht annähernd so zahlreich wie in Seattle oder auch Cheyenne. Es gab ein paar ziemlich drekkige Armen-Wohngegenden und ein oder zwei uralte Wohnkomplexe, bei denen man unwillkürlich an Stadtsanierung vermittels Sprengstoff denken mußte, aber es gab nichts, das ich wirklich als Slum einstufen würde. Und es gab mit Sicherheit keine so verkommenen und nervtötenden Gegenden wie Hell's Kitchen, Glow City oder die Barrens in Seattle.
Das Interessanteste an Honolulu war für mich die relative Nähe der drekkigeren Stadtteile zum Konzernherzen der Stadt. Der finanzielle Mittelpunkt ist in etwa die Kreuzung King Street und Punchbowl Street, wo man ausschließlich unverdorbene, urtümliche Wolkenkratzer und Konzernangestellte auf der Straße sieht. Kaum einen halben Kilometer entfernt befindet sich die ›La-sterpromenade‹, das heißt die Hotel Street, auf der es von Sex-Shows, schmierigen Kaschemmen und Porno-Chip-Läden nur so wimmelt und die von abgewrackten Strichern aller vier Orientierungen (hetero- und homosexuelle Männer, hetero- und homosexuelle Frauen), von Chip- und Flash-Dealern und von dem Frischfleisch bevölkert wurde, das unterwegs war, um mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Sogar Seattle hat es geschafft, diese beiden Facetten seines Wirtschaftslebens ein wenig stärker voneinander zu trennen.
Die Hotel Street war, Scott zufolge, das Herz China-towns, aber ich sah nicht allzu viele gebürtige Chinesen auf der Straße. Dafür haufenweise große Kerle und Schnallen, von denen ich vermutete, daß es sich um Po-lynesier handelte, und eine in etwa gleich große Anzahl von Leuten, die ich für Filipinos hielt. Wenn wir langsam vorbeifuhren, kam die Action - Kontraktverhandlungen verschiedenster schmutziger Art - vorübergehend zum Erliegen, wenn die Verhandlungspartner dem Rolls nachstarrten. Ich schloß daraus, daß es wahrscheinlich nicht so viele Rolls-Royces in dieser Gegend zu sehen gab. (Bei genauerem Nachdenken zeigte diese langsame Spazierfahrt noch einen weiteren Unterschied zwischen Honolulu und Seattle auf: Niemand gab auch nur einen ungezielten Schuß auf den Wagen ab.)
Von Chinatown fuhren wir wieder nach Westen, am Flughafen und an dem riesigen Sperrgebiet vorbei, bei dem es sich um die Militärbasis von Pearl Harbor handelte, und dann in das als Ewa bekannte Gebiet (EH-vah: Scott sorgte dafür, daß ich den Namen richtig aussprach). Noch vor dreißig Jahren, erzählte mir mein Reiseführer, sei Ewa eine eigene Stadt gewesen, zwar nahe bei Honolulu gelegen, aber eben doch eigenständig, letzt nicht mehr: Die größere Stadt hatte sich ausgebrei-tet und die kleinere schließlich geschluckt. (Ganz so wie Everett und Fort Lewis, wenn ich genauer darüber nachtlachte.) Vom Wetter und der Reinheit der Luft abgesehen, konnte ich mir, während wir durch die Straßen von Ewa fuhren, mühelos vorstellen, daß ich mich in Renton befand.
Ich sah auf die Uhr. Wir düsten jetzt seit fast zwei Stunden herum, und mein Magen fing trotz des üppigen Frühstücks schon wieder an zu knurren. »Ich brauche einen Happen zu essen«, sagte ich Scott. »Und außerdem wird es langsam Zeit für ein Bier.«
»Die Bar hinten ist vollständig bestückt«, erwiderte der Ork. »und wenn Sie ganz unten in den Kühlschrank sehen, finden Sie da auch was zu essen...«
»Nein«, unterbrach ich ihn. »Ich will hier irgendwo anhalten. Betrachten Sie's als Teil der Besichtigungsfahrt.«
Daraufhin lächelte er. »Was schwebt Ihnen vor?«
Ich sagte es ihm, und sein Lächeln wurde noch breiter. »Klar, Bruder, das ist okay. Da weiß ich genau den richtigen Laden.«
Der Laden hieß ›Cheeseburger im Paradies‹, und er befand sich im finstersten Herzen von Ewa. Scott nannte mir den Namen, als sei er ein Witz, aber ich verstand ihn nicht. Er erzählte mir etwas über ein Stück von irgendeinem toten Country-Sänger namens Jimmy Büffet, von dem ich noch nie gehört hatte, und mittlerweile war es eigentlich nicht mehr komisch. Jedenfalls erklärte er, ›Cheeseburger im Paradies‹ sei ursprünglich eine Kette gewesen, die in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf Maui begonnen und sich schließlich auch auf die anderen Inseln ausgebreitet hätte. In den Zwanzigern sei die Kette den Bach runtergegangen, und der Laden hier hätte den Namen als eine Art ironischen Kommentars aufgeschnappt. Als nenne sich irgendeine hinterletzte Absteige Hilton Hotel.
Ich fühlte mich heimisch, kaum daß ich die Tür geöffnet hatte. Unterschwellige Wogen mühsam gezügelter Anspannung, Intensität, Gefahr und Gewalt schlugen über mir zusammen. Im Halbdunkel der Kneipe konnte ich mir mühelos vorstellen, daß ich mich wieder im Blue Flame in Seattle oder auch im Buffalo Jump in Cheyenne befand.
Ich ging als erster hinein - Scott hatte vorangehen wollen, aber ich hatte darauf bestanden -, und ich spürte die Blicke auf mir ruhen, die mir aus düsteren Nischen und von ebensolchen Tischen zugeworfen wurden. Der Barmann, ein ergrauter Ork mit abgestoßenen Hauern, bedachte mich mit einem höhnischen Begrüßungslächeln. Aus der ungefähren Richtung der Bühne - die gegenwärtig leer war, obwohl die Scheinwerfer auf etwas glänzten, bei dem es sich um Öl auf dem abgewetzten Teppichboden handeln mochte - hörte ich eine gemurmelte Bemerkung, dem Tonfall nach zu urteilen etwas sehr Abfälliges, und ein rauhes Lachen. Jawoll, das war genau die Art Laden, die ich suchte.
Die Tür öffnete sich hinter mir, und ich spürte die Anwesenheit Scotts im Rücken. Augenblicklich veränderte sich die Atmosphäre im Laden - die merkwürdige Dynamik, die man immer spüren kann, wenn man auf seine Instinkte lauscht. Ich konnte nicht glauben, daß die Gäste des ›Cheeseburger im Paradies‹ Scott persönlich kannten, aber sie hatten gewiß erkannt, was er war, wenn auch nicht, wer: ein Leibwächter, und zwar ein ziemlich kompetenter. Ich konnte die Veränderung spüren, als die Anwesenden ihren Eindruck von mir rasch korrigierten.
Ich schlenderte zu einer Nische, wobei ich an die Kanone an meiner Hüfte dachte. Mehr ist gar nicht nötig, echt nicht - man braucht nur an die Flak zu denken, die man bei sich hat, und wo man sie trägt. Das verändert auf ganz subtile Weise den Gang und die Körperhal-lung. Jeder mit Straßeninstinkten wird diese Verände-rung bemerken und korrekt interpretieren. Auf eine Art, die weder auf Konfrontation angelegt war noch bedroh-lich wirkte, hatte ich allen, auf die es ankam, unmißverständlich klar gemacht, daß ich nicht unbewaffnet war. Scott folgte mir, und wir glitten in die Nische und setz-ten uns nebeneinander und mit dem Rücken zur Wand.
Eine Kellnerin - eine hartgesichtige Frau, deren strohblonde Haare schwarze Ansätze aufwiesen - war eine Minute später bei uns. »Was kann ich euch bringen?«
»Mir nichts«, begann Scott, aber ich warf ihm einen mißbilligenden Blick zu. Er zögerte, dann strahlte er: Dann bring mir ein Dog«, sagte er.
Ich hob fragend eine Augenbraue.
»Black-Dog-Bier«, erklärte Scott. »Es wird von einer winzigen Brauerei in Kailua gemacht. Echt gut, wenn man dunkles Bier mag.«
»Dann nehme ich auch ein Dog«, sagte ich zu der Kellnerin. Sie ging, ohne die Bestellung zu bestätigen, kehrte aber ein paar Minuten später mit zwei Halblitergläsern an unseren Tisch zurück, die bis zum Rand mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt waren.
Ich wollte bezahlen, aber Scott war zu schnell für mich. »Ich übernehme das«, sagte er, indem er der Kellnerin Geld - richtige Scheine, was mich überraschte -zuschob. »Sie haben schon das Frühstück bezahlt.«
»Habe ich das?«
Er kicherte. »Es ist Ihnen jedenfalls auf die Rechnung gesetzt worden.« Er sah auf sein Glas. »Das sollte ich nicht tun, nicht im Dienst, aber« - er grinste wie ein Bandit und hob sein Glas - »okolemaluna!«
Ich prostete ihm zu. »Was immer Sie gerade gesagt haben.« Das Bier hatte eine nette Schaumkrone und einen süßlichen, leicht nussigen Geschmack. Ich nahm einen zweiten Schluck und nickte beifällig. »Gut. Wie ist das Essen hier?«
Als wir unser Mittagessen - einen großen Soyburger mit Maui-Fritten für mich, zwei davon für Scott - beendet hatten, trudelte die Nachmittagskundschaft ein. Eine Reihe von Tänzerinnen - im großen und ganzen ziemlich hübsch, und manche konnten sogar tanzen - entkleidete sich und zog für das gleichgültige Publikum ihre Schau ab. Als die Gäste an der Bar und in den finsteren Nischen zahlreicher wurden, fühlte ich mich noch heimischer. Abgesehen von der Kleidung und dem Vorherrschen dunkler Sonnenbräune, waren diese Burschen ein ziemlich genaues Abbild der Kundschaft meiner bevorzugten Kneipen in Seattle und Cheyenne. Zähe Burschen, jedenfalls die meisten von ihnen - absolut zu Hause in der Realität der Straßen, wenn nicht sogar richtiggehende Bewohner der Schatten. Viele trugen Waffen - das sah ich an der Art, wie sie sich bewegten -, und diejenigen, die nicht bewaffnet waren, sahen aus, als könnten sie sich auch ohne Waffe ganz gut behaupten.
Ich nippte an meinem zweiten Bier. Scott war immer noch bei seinem ersten und lehnte mein Nachschub-Angebot ab. »Trinken und Fahren ist keine gute Kombination mit einem Fahrzeugkontrollrig«, sagte er entschlossen.
In der hintersten Ecke des Ladens redeten ein paar echte Härtefälle übers Geschäft. Makroplast funkelte für einen Augenblick im Licht, als ein Kredstab die Hände wechselte. Ich rückte ein wenig näher an Scott heran, nickte in Richtung der Unterhändler und fragte leise: »Wie sind denn hier so die Schatten?«
Er nahm einen Schluck Bier, um einen Augenblick Zeit zum nachdenken zu haben. »Ziemlich düster, Bruder«, sagte er schließlich. »Wenn die Sonne strahlt, können die Schatten verdammt düster sein.«
»Große Schattengemeinde?«
Er zuckte die Achseln. »Das hängt wohl davon ab, was Sie unter ›groß‹ verstehen. Es fällt einiges an Geschäften an, jedenfalls höre ich das.« Er grinste schief. »So, wie ich das sehe, liegt das daran, daß hier so viele Megakonzerne präsent sind.
Aber der harte Kern, die Profis?« Er zuckte wiederum die Achseln. »Wahrscheinlich gibt es davon nicht allzu viele. Wahrscheinlich weniger als da, wo Sie herkommen. Und auch weniger Möchtegerns.«
»Wie kommt das?«
Das Grinsen des Orks wirkte einen Moment lang raubtierhaft. »Das liegt in der Natur der Inseln, Hoa. Wir haben hier eine ziemlich kleine Gemeinde. Wenn man was verpfuscht, hat man keinen Platz, um wegzulaufen, und noch weniger, um sich zu verstecken. Nach allem, was ich gehört habe, ist man entweder gut... oder tot.«
Ich nickte zögernd. Das klang auf bestürzende Weise logisch. Als eine Art geistige Übung ging ich ein paar Notpläne zur Flucht von den Inseln durch, falls irgend etwas völlig danebenging... und erkannte rasch, wie wenig Möglichkeiten es eigentlich gab. Unangenehm. Ich habe immer gern etwas Bewegungsspielraum. »Wie groß ist denn der Umfang der Geschäfte eigentlich, die hier abgewickelt werden?« fragte ich nach einer Weile.
Scott hob die Augenbrauen. »Hey, Sie fragen den falschen Wikanikanaka, Bruder«, protestierte er gelinde. »Ich bin hier nur ein Chauffeur.«
Meine Miene verriet, was ich von dieser Bemerkung hielt. »Jetzt aber mal im Ernst, Chummer«, sagte ich. »Sie sind nicht unbeteiligt. Jemand wie Sie kann es sich gar nicht leisten, unbeteiligt zu sein. Richtig?«
Ich beobachtete seine Augen, während er sich überlegte, ob er zu seinem Bluff stehen sollte, aber schließlich entschied er sich dagegen. Er lächelte ein wenig verlegen. »Ja, okay, ich habe mein Ohr an der Wand. Ich höre Sachen.« Er hielt inne. »Hier und in anderen Läden wie diesem geht einiges an Geschäften ab. Aber die Schatten sind hier anders als sonstwo - zumindest habe ich das gehört. Auf dem Festland ist man im Geschäft, wenn man eine Ruhmesliste vorzuweisen hat. Wenn sich ein Schieber an jemanden wendet, geschieht das auf der Grundlage der Reputation, die der betreffende auf der Straße hat, ob er ihn kennt oder nicht. Richtig?«
»Manchmal«, räumte ich ein.
»So läuft das hier nicht, Hoa«, sagte er bestimmt. »Jedenfalls nicht nach allem, was ich gehört habe... und vergessen Sie nicht, daß ich das alles nur aus zweiter Hand weiß. Ich bin Fahrer, kein Shadowrunner, okay?« Er hielt inne, um seine Gedanken zu ordnen. »Ich habe gehört, daß hier auf den Inseln persönliche Beziehungen wichtiger sind als Ruhmeslisten und sogar wichtiger als Straßenreputation. Die Leute geben sich nur mit Leuten ab, die sie persönlich kennen, Leuten, von denen sie wissen, daß sie ihnen trauen können. Wenn irgendein Malihini - ein Neuankömmling - mit einer Ruhmesliste so lang wie mein Bein auf die Inseln kommt - ›ich habe Fuchi-Ice geschmolzen, ich habe eine Division Azzies umgelegt, ich habe Dunkelzahn reinge-leg‹ -, wird ihn niemand anfassen, weil er eine unbekannte Größe ist. Die Kaiepa - die Schieber - halten sich an die Runner, die sie kennen, an diejenigen, mit denen sie schon persönlich zu tun hatten... auch wenn das bedeutet, daß sie sich mit einem Haivawa begnügen müssen, der nicht so gut wie der Neuankömmling ist. Zumindest wissen die Kaiepa ganz genau, was sie erwarten können.«
Ich nickte zögernd. Das ergab in einer geschlossenen Gemeinschaft mit wenig Bewegungsspielraum durchaus einen gewissen Sinn. Man wird nicht so bereitwillig auf eine unbekannte Größe setzen, weil man schnell selbst herausfinden könnte, daß es keine Fluchtmöglichkeiten gibt, wenn der Drek zu dampfen anfängt.
Eine Gruppe von Leuten - haufenweise schwarzes, beschlagenes Kunstleder - kam hereingeschlendert und ging zur Bar. Ich konnte ihre Streitlust von meinem Platz aus beinahe spüren. Neben mir sah Scott auf und grinste. -Da ist jemand, den Sie vielleicht kennenlernen wollen, Hoa«, sagte er zu mir. Dann hob er die Stimme. »Te Purewa. Hele mai.«
Einer der schwarzgekleideten Neuankömmlinge drehte sich zu uns um. Ich spürte den Blick aus den Augen in einem Gesicht, das aus schwarzem Lavagestein hätte gemeißelt sein können, wie Laser auf mir ruhen. Adlernase, buschige Brauen, kurze schwarze Haare. Und überall im Gesicht Tätowierungen: Wirbel und geometrische Formen und Schnörkel um die Augen, so daß er wie ein Paisley-Halstuch aussah. Er lächelte - die Art von Ausdruck, die ich mit Gedanken daran assoziiere, jemandem den Kopf abzureißen - und kam an unseren Tisch. Ich sah, daß er ziemlich groß war, als er sich vor uns aufbaute. Groß und breit. Auf den Wülsten seiner Muskeln waren weitere Wülste zu sehen. »Wie geht's, Scotty?« knurrte er.
Scott zuckte die Achseln. »Geht so.« Er deutete in meine Richtung. »Ich wollte dich mit jemandem bekanntmachen, Te Purewa. Mit einem Bruder vom Festland, Dirk Tozer.«
Te Purewa - war das sein Name oder irgendein hawai'ianischer Ausdruck, den ich noch nicht verstanden hatte? - richtete seine brennenden dunklen Augen auf mich. »Kia ora!« bellte er mich an. Und dann schienen ihm fast die Augen aus dem Kopf zu quellen, und er streckte mir die Zunge heraus.
Meine natürliche Reaktion darauf bestand darin zu lachen. Und als ich die Wut in seinen Augen aufblitzen sah, wußte ich, daß ich einen Fehler gemacht hatte. Der große Kerl verzog das Gesicht, und seine Tätowierungen schienen sich zu winden. Dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab und ging.
»O je«, sagte ich leise zu Scott.
»Gut erkannt, Bruder.« Der Ork schüttelte den Kopf. »Ich hätte Sie wohl warnen müssen. Te Purewa...«
»Ist das sein Name?«
»Ja, es ist Maori, aus Aotearoa - das hieß früher mal Neuseeland.« Scott seufzte. »Jedesmal, wenn ich ihn sehe, ist er mehr Maori als zuvor. Im Grunde ist er ein guter Junge, aber manchmal geht er einfach zu weit, wissen Sie? Dieser ganze Kanike von wegen Herkunft und Abstammung... Letztes Jahr waren es die Tätowierungen« - er zog imaginäre Linien über sein Gesicht -, »dann hat er sich vor ein paar Monaten eine Sprachsoft zugelegt, damit er Maori sprechen konnte. Und jetzt zieht er auch noch den traditionellen Begrüßungsschwachsinn ab. Was das mit der Zunge soll? Er sagt, Maoris sähen einen als Zeichen des Respekts grimmig an.« Er zuckte die Achseln. »Ich halte das für Kanike, wenn man mich fragt.«
»Und jetzt haßt er mich auf immer und ewig?«
Scott kicherte. »Wollen Sie's genau wissen? Te Purewa hat nicht das Merkvermögen, um einen Groll über lange Zeit zu hegen, Hoa. Wenn Sie ihn das nächstemal sehen, knurren Sie ihn an und sagen: ›Kia ora!‹, dann wird er sie wie einen lange vermißten Bruder behandeln.« Er hielt inne, und sein Lächeln verblaßte. »Ich dachte, Sie würden ihn gern kennenlernen, weil er von allen Leuten, die ich kenne, einem Shadowrunner noch am nächsten kommt. Te Purewa ist SINlos und hängt bei einigen von den Kaiepa rum, bei denen immer was los ist. Ich weiß allerdings nicht, was er für Geschäfte für sie erledigt - und will es auch gar nicht wissen -, aber hier in der Gegend kommt er der Action noch am nächsten.«
Er sah auf die Uhr. »Noch ein Bier?«
Ich dachte darüber nach, dann schüttelte ich den Kopf. »Was liegt als nächstes an?«
Als nächstes kam der kulturelle/historische Teil, wie sich herausstellte. Scott fuhr den Phaeton zurück ins Finanzzentrum der Innenstadt von Honolulu und dann weiter nach Osten ins Regierungsviertel der Stadt. Die erste Station war ein relativ nichtssagendes zweistöckiges Gebäude, das so aussah, als bestünde es aus behauenem Lavagestein. Trotz der Tatsache, daß das Haus nichts Besonderes war, kam es mir irgendwie bekannt vor, als hätte ich es schon einmal gesehen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich mich erinnerte. Das war es - eine alte 2D-Fernsehshow, die ich bei einer Retrospektive in Seattle gesehen hatte, irgendwas über Cops in Hawai'i. Bei dieser Gelegenheit hatte ich das Haus schon einmal gesehen.
Das sagte ich auch zu Scott, doch er zuckte nur die Achseln. »Davon weiß ich nichts, Bruder, aber ich denke, daß es wohl möglich ist. Das ist der Iolani-Palast. Ein altes Gemäuer, eineinhalb Jahrhunderte alt.«
»Aber was ist das?« fragte ich.
Der Ork sah mich an, als hätte ich gerade ein paar Dutzend Punkte meines IQ verlegt. »Das ist der Palast, Hoa. Das Kapitol, in dem der Ali'i wohnt und mit seinem Kahuna hofhält.«
»Mit seinem Schamanen?«
Scott schüttelte den Kopf. »Nein. Tja, vielleicht, aber... In unserer Sprache gibt es Worte, die einen ganzen Haufen Bedeutungen haben. Nehmen Sie zum Beispiel aloha -das bedeutet ›hallo‹, richtig? Aber es bedeutet auch ›Liebe‹, ›Gnade‹, ›Mitgefühl‹, ›Mitleid‹ und vielleicht noch ein halbes Dutzend andere Sachen.
Und Kahuna? Schamane, klar. Priester. Aber es bedeutet auch ›Ratgeber‹, insbesondere dann, wenn man über den Ali'i und seinen Kahuna redet.« Scott kicherte. »Es ist auch eine Bezeichnung für jemanden, der etwas nui gut kann, okay? Erinnern Sie sich noch an den Burschen auf dem Surfbrett? Er ist ein echter Kahuna, was das Surfen anbelangt.«
Er hielt inne und zuckte die Achseln. »Wo war ich? Ach ja. Der Iolani-Palast ist das ›Alltagskapitol‹. An manchen bedeutenden, nui wichtigen Feiertagen fliegen der Ali'i und sein Hof zum alten Kapitol auf der Großen Insel. Aber meistens ist das hier der Ort, an dem König Kam seine Geschäfte erledigt.«
»Das ist jetzt König Kamehameha V., richtig?«
»Genau, Bruder.« Der Ork zeigte auf eine Stelle auf der anderen Straßenseite. »Wollen Sie König Kam I., Kamehameha den Großen, sehen? Da ist er.«
Ich schaute dorthin, wohin er zeigte, und sah die große Statue. Sie zeigte einen perfekt proportionierten Mann mit mahagonifarbener Haut und edlen Zügen, der einen Speer hielt. Er trug einen gelben Umhang und einen seltsamen runden Kopfschmuck. Beide Kleidungsstücke schienen aus Federn zu bestehen. »Tolle Mon-tur«, stellte ich fest.
»Die traditionelle Bekleidung des Ali'i«, sagte Scott. »König Kam trägt dasselbe Zeug bei offiziellen Anlässen.« Er hielt inne. »Nach allem, was ich gehört habe, ist diese Statue übrigens ein lebensgroßes Abbild. Kam der Große war ein ziemlich großer Junge.«
Ich sah mir die Statue noch einmal genauer an. Ich schätzte, daß sie mindestens zwei Meter zwanzig groß war - ohne den Kopfschmuck. »Sie haben recht, ein großer Junge«, pflichtete ich ihm bei. »Gibt es Trollblut im Stammbaum des Königs?«
Scott kicherte vor sich hin und fuhr weiter.
Unsere letzte Station war vielleicht einen Block vom Palast entfernt, die andere Seite der Regierungsgeschäfte. Scott zeigte auf ein großes Stahlbetongebäude, dessen vertikale Linien an klassische Säulen und Wasserfälle erinnerten. Über einer mächtigen Doppeltür hing eine massive Scheibe aus Metall - der Farbe nach Bronze - mit einem Wappen. »Das ist das Haleaka'au-puni«, verkündete Scott. »Ich glaube, das könnte man mit ›Regierungsgebäude‹ übersetzen. Hier sitzt das Parlament, und hier erledigen auch die Verwaltungsbeamten und Datenschieber ihren Kram.«
Mir fiel einiges von dem Material ein, daß ich im Flugzeug durchgesehen hatte. »Liegt der König immer noch mit dem Parlament im Clinch?« fragte ich.
Der Ork bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick. »Sie sind nicht so ahnungslos, wie ich gedacht habe, Bruder«, sagte er mit einem Anflug von Respekt. »Ja, König Kam und die Hitzköpfe von der Na Kama'aina innerhalb des Parlaments schlagen sich immer noch gegenseitig den Schädel ein.« Wir bogen um eine Ecke und fuhren eine andere Seite des Regierungsgebäudes entlang. Scott zeigte nach vorn. »Da ist ein Teil der Wählerschaft dieser Hitzköpfe.«
Ich sah hin.
Es war keine große Demonstration - ich habe in Seattle bei Protestaktionen gegen die Erhöhung der Fahrpreise für die Monobahn größere Menschenmengen gesehen -, aber sie hatte etwas an sich, etwas, das ich nicht eindeutig benennen konnte, das mich aber auf den Gedanken brachte, sie sei gut organisiert. Vor den Stufen des Regierungsgebäudes hatten sich vielleicht hundert Leute versammelt. Nicht viele im großen Ereignisrahmen, aber jedesmal, wenn der Nachrichten-Kameramann, der auf der obersten Treppenstufe stand, mit seiner Kamera über die Menge schwenkte, rückten sie enger zusammen. Damit die Menge dichter und daher größer aussah, wenn die Bilder heute abend über den Sender gingen, wurde mir klar. Das war ein zu stark ausgeprägtes Medienbewußtsein für eine »spontane Versammlung«. Was sich hier meinem Blick darbot, konnte durchaus die hawai'ianische Version von etwas sein, das ein alter Kollege bei Lone Star einmal ›Miet-Mob‹ genannt hatte - professionelle Agitatoren oder eine Gruppe, die zumindest von professionellen Agitatoren angeführt wurde.
Bei den Demonstranten schien es sich durchweg um Polynesier zu handeln. Eine Menge Orks und Trolle und nur wenige Menschen und Zwerge als Farbtupfer. (Aber keine Elfen, jedenfalls sah ich keine. Interessant...) Viel bronze- oder mahagonifarbene Haut, fast ausschließlich schwarze Haare. Die meisten trugen mehr oder weniger dasselbe wie Scott - dasselbe wie ich, was das betraf -, aber manche waren auch mit den traditionellen Kostümen der Ureinwohner bekleidet. Eine Menge Stroh und Gras und Federn. Die meisten Transparente waren zu klein, um sie aus dieser Entfernung lesen zu können, aber eines konnte ich erkennen. »E make loa, Haole?« las ich Scott laut vor.
Er runzelte die Stirn, dann schnaubte er verächtlich, ohne jedoch zu übersetzen.
»Was heißt das?« hakte ich nach.
»Es heißt: ›Stirb, Anglo‹«, gab er schließlich zu. »Wie ich schon sagte, Hitzköpfe.«
Ich deutete auf die Menge. »Gehören diese Leute zur ALOHA?«
Scott lachte. »Sind Sie lolo, Bruder? Glauben Sie, ich würde einem Haufen ALOHA-Schlägern mit einem Haole im Wagen so nah auf die Pelle rücken?« Er hielt inne, und als er weiterredete, klang seine Stimme ernster. »ALOHA hat für diese Art Kanike nichts übrig, Mr. Dirk. Friedliche Demonstrationen? Die sind nicht ihr Stil. Sie jagen Drek in die Luft, so verbreiten sie ihre Ideen.«
»Dann also zur Na Kama'aina?«
Er zuckte die Achseln. »Die Anführer, sicher - einer oder zwei von ihnen, die Burschen, die dafür gesorgt haben, daß die Nachrichtenfritzen hier sind. Der Rest? Das sind nur Schwachköpfe, die mitmachen, weil sie nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen.«
Einige der Demonstranten am hinteren Ende der Menge hatten sich zu der an ihnen vorbeirollenden Limousine umgedreht. Eine Frau hatte dieselben Gesichtstätowierungen wie der Maori in der Bar. Anstatt des schwarzen Kunstleders trug sie jedoch nur ein Lendentuch und eine Art Rock aus getrocknetem Schild oder einem ähnlichen Drek. »Über die Kostümwahl kann ich mich nicht beschweren«, bemerkte ich, und Scott pfiff anerkennend.
»Manche Leute entwickeln eine Idee in ihrem Kopf, und daran halten sie unter allen Umständen fest«, sagte er. »Die Kostüme. Der Versuch, die alten Sprachen zu sprechen... oder was sie für die alten Sprachen halten -manche sind ausgestorben, aber das hält die Hitzköpfe nicht davon ab, so zu tun.« Er schnaubte verächtlich. »Sehen Sie sie sich an. Flüchtlinge aus den Luan-Shows für die Touristen... nur daß diese Ule nicht wissen, daß die Show vorbei ist.«
Ich blinzelte in gelinder Überraschung angesichts der Vehemenz in seiner Stimme. »Denken Sie das auch über wie-hieß-er-noch-gleich?« fragte ich nach einem Augenblick leise.
»Te Purewa?« Er hielt inne. Dann: »Mehr oder weniger«, gab er zu. »Ich glaube nicht, daß er sich schon dazu hergegeben hat, Transparente zu schwingen, aber ...« Er zuckte die Achseln.
»Te Purewa ist nicht sein richtiger Name, oder?«
Scott stieß ein bellendes Lachen aus. »Worauf Sie sich verlassen können. Mark Harrop ist sein richtiger Name, können Sie sich das vorstellen? Mark Harrop, um Himmels willen. Vor ein paar Jahren hat er sich überlegt, daß er Maori-Blut in den Adern hat - vielleicht zwei, drei Tropfen - und den Namen aus irgendeinem Buch ausgesucht.«
Ich schwieg fast eine Minute lang, in der Scott um die nächste Ecke bog und zurück in Richtung Waikiki und Diamond Head fuhr. Schließlich fragte ich freundlich: »Was ist mit Ihnen, Scott? Haben Sie keine Sympathien für die Na Kama'aina? Sie sind doch polynesischer Abstammung, oder nicht?«
Er antwortete nicht sofort, und ich fragte mich, ob ich ihn beleidigt hatte. Dann lächelte er ein wenig verlegen. »Ich bin ein Kama'aina«, sagte er. »Ein ›Kind des Landes‹ - zu einem Viertel, aber ich habe es von beiden Seiten meiner Familie. Meine Mutter war eine Nene-Kahuna.«
»Nei-nei?« fragte ich.
»Nene, eine hawai'ianische Gans«, erklärte er. »Sie sieht wie eine kanadische Gans aus - aber sie ist nicht ausgestorben, hat Krallen an den Füßen und mag vulkanisches Gestein. Eines der hiesigen Totems.
Jedenfalls«, fuhr er fort, »kann man ein Kama'aina, ein Eingeborener, sein, ohne der Na Kama'aina anzugehören, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Und Sie haben nicht das Bedürfnis, einen hawai'iani-schen Namen anzunehmen und mit einem Gras-röckchen herumzulaufen?«
»Gras verursacht mir Juckreiz.« Er hielt inne. »Ich habe schon einen Hawai'ianischen Namen«, fügte er einen Augenblick später leise hinzu. »Ich brauche nicht erst einen anzunehmen. Meine Mutter hat mir einen gegeben.«
Ich wartete, aber er schwieg. »Und?« hakte ich schließlich nach.
Er seufzte. »Der Name, der mir gegeben wurde, lautet Ka-wena-' ula-a-Hi' iaka-i-ka-poli-o-Pele-ka-wahine-'ai-ho-nna.« Der Bandwurm ging ihm von der Zunge wie ein ruhig fließender Bach.
»Heiliger Drek«, verkündete ich, als ich sicher war, daß er fertig war.
»Ja, schon ein ziemlicher Mundvoll.«
»Und der Name bedeutet?«
»›Das von Hi'iaka im Busen Peles, der erdverschlingenden Frau, gemachte rote Leuchten des Himmels‹, wenn Sie das glauben können.«
»Sie müssen einen Schreibkrampf bekommen, wenn Sie mit Ihrem Namen unterzeichnen.«
Er lachte. »Darum hat mich mein Vater ja auch Scott genannt«, erklärte er.