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Doch bevor ich Bruder Te Purewa - geborene Mark Harrop - im ›Cheeseburger im Paradies‹ meine Aufwartung machte, gab es noch ein paar andere Dinge, um die ich mich kümmern mußte. Als da war, mich mit allen Hilfsquellen in Verbindung zu setzen, die sich als nützlich erweisen mochten, selbst wenn sie sich nicht auf den Inseln befanden.
Als ich mich heute morgen für die Tour in Scottys Limousine fertigmachte, hatte ich überlegt, ob ich meinen Taschencomputer mitnehmen sollte oder nicht. Drek, ich hatte gedacht, daß die Anlage im Rolls meinen Taschencomputer bei weitem in den Schatten stellen würde, sollte ich unterwegs irgendwelche Daten oder Kommunikationsverbindungen brauchen. Aber aus alter Gewohnheit - und meinetwegen auch einem Gespür für die Tücken des Lebens - hatte ich das kleine Ding eingesteckt.
Den Geistern sei dank für Gewohnheiten und Gespür. In einem kleinen Dorf namens Kaaawa hielt ich an und benutzte eine öffentliche Telekomzelle vor einem baufälligen Lebensmittel/Eiskrem/Touristen-Krims-Krams-Laden. Erster Punkt auf der Tagesordnung - nachdem ich das Transpex so polarisiert hatte, daß mich niemand sehen konnte - war das Unbrauchbarmachen der Videokamera, was ich auf höchst effektive Weise tat, indem ich die Linse mit dem Kolben der Browning einschlug, die ich geerbt hatte. Dann zückte ich meinen treuen Compi, stöpselte ihn in den Dateneingang des Telekoms und startete das hochentwickelte - und scheußlich illegale - Spiegel-und-Rauch-Programm, das mein alter Chummer Quincy (wann hatte ich den Burschen zuletzt gesehen?) - lang, lang ist's her - auf die EPROM-Chips des kleinen Geräts gespielt hatte. Telekom und Compi klickten und summten ein paar Sekunden, während Quincys Code das LTG-System verführte. Mit einem Piepen, bei dem es sich um das elektronische Äquivalent zu »Nimm mich, Geliebter, aber sei sanft« handelte, gab das Telekom dem drängenden Flehen des Compis nach, und schon gehörte mir eine sehr kleine Ecke des PA/HIRTG.
Eins nach dem anderen. Indem ich das unschuldige, vertrauensselige Telekomsystem davon überzeugte, daß ich ein autorisierter leitender Manager des Hawai'iani-schen Telekommunikations-Konzerns war, richtete ich eine private und gesicherte Mailbox im automatischen E-Mail-System des HTK ein. (Unglücklicherweise handelte es sich nur um eine zeitweilige Einrichtung. Ich hatte weder die Zeit noch die Mittel für eine permanente Mailbox. Irgendwann, in ein oder zwei Monaten, würde irgendein Wachhund-Programm anfangen zu bellen, wenn es bemerkte, daß niemand für die Mailbox bezahlte, obwohl sie noch aktiv war. HTK würde sie augenblicklich schließen, aber bis dahin war mir das vermutlich völlig egal. In ein oder zwei Monaten war ich entweder tot oder nicht mehr auf den Inseln.) Bei dieser Mailbox handelte es sich um das elektronische Äquivalent eines ›toten Briefkastens‹ auf dem Gebiet der Spionage. Leute konnten dort für mich Nachrichten hinterlassen, und ich konnte sie nach Belieben abrufen, aber theoretisch gab es keine Möglichkeit für eine interessierte Partei wie Jacques Barnard, meinen tatsächlichen Aufenthaltsort aufzuspüren, auch wenn er die Mailbox auffliegen ließ.
Zweiter Schritt: Kontakt mit den Personen aufnehmen, von denen ich wollte, daß sie mir Nachrichten hinterließen. Für die erste war das simpel. Eine der tollen kleinen Utilities auf meinem von Quincy frisierten Compi ermöglichte mir, eine Textbotschaft durch eine Reihe kalter Relais zu einem gewissen Telekom im tiefsten, dunkelsten Renton zu schicken. Die Nachricht enthielt keine Namen, nichts, was Absender oder Empfänger kompromittieren könnte. Die Nachricht ging an den Präsident der Demolition Man Building Servives Inc. Der Text bestand aus der digitalen Adresse meiner neuen Mailbox, natürlich zyklisch verschlüsselt (wofür ich mich wiederum bei Quincy bedanken konnte, für immer und ewig, Amen). Wie ich es sah, würde nur ein noch lebender Mensch die Anspielung verstehen und wissen, wer ihn zu erreichen versuchte. Wenn Argent in den Sprawl zurückkehrte, würde er die Botschaft erhalten und über den toten Briefkasten hoffentlich Kontakt mit mir aufnehmen.
Für die zweite Person war es schwieriger, aber wiederum halfen mir Quincys Programme. Nach wenigen Minuten hatte ich einen simplen kleinen Arbeitssklaven von einem Smartframe zusammengeschustert, das ich durch die Matrix in das Cheyenner LTG jagte. Einmal dort angekommen, würde das Frame nach Erwähnungen einer Sharon Young suchen und ihr eine Nachricht übermitteln.
Die Nachricht selbst war problematischer als die für Argent. Young und ich hatten nicht einmal den Ansatz eines gemeinsamen Hintergrunds, und wir benutzten auch keinen gemeinsamen Code wie Argent und ich. Meine Botschaft mußte drei Kriterien erfüllen. Erstens mußte sie mich identifizieren, ohne Namen zu nennen. Zweitens mußte sie meine Mailbox-Adresse codiert mitteilen. Und drittens mußte der Schlüssel für diesen Code auf eine Weise enthalten sein, mit der nur Sharon Young etwas anfangen konnte, so daß sie in der Lage war, die Adresse zu entschlüsseln.
Ich hatte mein Hirnschmalz ziemlich strapazieren müssen, aber schließlich war mir etwas eingefallen, das seinen Zweck erfüllen sollte. »Bin mittlerweile direkt exponiert«, begann die Botschaft, indem ich Bezug auf unser Gespräch im Buffalo Jump nahm. »Unterhaltung nötig über außergewöhnliche Spesen. Bestätige Zah-lungsbedingungen: letzter Liefertermin achtundvierzig Stunden, zwanzig Prozent für zwölf, zehn für achtzehn.« Und darunter stand der verschlüsselte Zeichensatz, bei dem es sich um die Adresse meiner Mailbox handelte.
Raffiniert. Zu raffiniert? Die Zahlungsbedingungen, die ich in der Botschaft nannte, waren im Hinblick auf unsere tatsächlichen Vereinbarungen völlig daneben, und ich hoffte, Young würde das bemerken und die Bedeutung der Veränderungen erkennen. Nehmen Sie die Zahlen, die ich genannt hatte: 48, 20, 12, 10, 18. Natürlich waren sie der Schlüssel für die Adresse: 48201-21018. Clever, neh? Wir würden es sehr bald herausfinden. Ich vergewisserte mich noch einmal, daß alles koscher war, dann benutzte ich den Compi, um dem Telekomsystem mitzuteilen, es solle die Vorgänge der letzten zehn Minuten vergessen. Ich stöpselte meinen Compi aus, kletterte zurück in den winzigen Buddy und fuhr mit dem kleinen Dreirad zurück Richtung Honolulu.
Es ging bereits auf den Abend zu, als ich in Ewa ankam. Vielleicht lag es daran, daß ich zu abgelenkt war, um die Straßenschilder richtig lesen zu können. Wenn einem ein Megakonzern und die Yakuza auf den Fersen sind, ist es leicht, Kapaa und Kapua zu verwechseln und sich total zu verfahren. Die Sonne versank bereits im Ozean, eine dieser spektakulären Ansichten, für deren Anblick Touristen viel Geld bezahlen, und alles, woran ich denken konnte, war: »Beeil dich doch endlich!« Im Schutz der Nacht würde ich mich viel besser fühlen.
Ich stellte den Buddy ein paar Blocks vom ›Cheese-burger im Paradies‹ entfernt ab, wobei ich alle Fähigkeiten einsetzte, die mir zur Verfügung standen, um mich zu vergewissern, daß mir niemand ein unnormales Maß an Aufmerksamkeit widmete. Ich schien keine Schatten zu haben, aber es ist ein Grundsatz der Straße, daß man niemals jemanden ausmacht, der einen mit Erfolg beschattet, richtig? Auf dem Weg zu der Kneipe sah ich mein Spiegelbild im Schaufenster eines Ladens. Mein geblümtes Hemd war an einer Seite zerrissen, meine Hose wies an einigen Stellen Flecken einer Substanz auf, von der ich hoffte, daß es sich um Lehm handelte (und nicht etwa um Überreste von Tokudaijis geplatztem Schädel), und ich hatte immer noch Hibiskuszweige in meinen verdammten Haaren. Ich mußte zugeben, daß ich schon besser ausgesehen hatte. Ich nahm alles an Schadensbegrenzung vor, was mir unter diesen Umständen möglich war - praktisch nichts, um ehrlich zu sein und schlenderte dann in das ›Cheeseburger im Paradies‹.
Die Kundschaft sah genauso aus wie am Tag zuvor, als Scott mir zwei Bier ausgegeben hatte - dieselben hartgesichtigen Einheimischen, dieselben Straßenratten, die der Stripshow keine Aufmerksamkeit schenkten. Derselbe Ork mit denselben schartigen Hauern war hinter der Bar, und er bedachte mich mit einer gehörigen Portion dessen, was Scott ›Stinkeblick‹ genannt hatte, als ich hereinkam. Andererseits war ich der einzige Haole vor Ort, und Sie können Ihre Okole verwetten, daß ich das auch spürte. Ich war nicht in meinem Element, ein Fisch auf dem Trockenen, und die Gäste im ›Cheesebur-ger im Paradies‹ würden dafür sorgen, daß ich das nicht vergaß.
In diesem Augenblick hätte ich mich am liebsten umgedreht, um wieder in der Dämmerung zu versinken, wo niemand versuchte, Löcher in mich zu starren. Das ging natürlich nicht, also schlenderte ich weiter, als gehöre mir der Laden. Ich dachte immerzu an die schwere Browning in meinem Gürtel - nicht, daß man dieses Gerät so leicht vergessen konnte -, um jenen Gästen, die gerne ›Entdeckt die Kanone‹ spielten, die Arbeit zu erleichtern. Die Nische, in der Scott und ich am Tag zuvor gesessen hatten, war leer, also glitt ich hinein und lehnte meinen Rücken fest gegen die beruhigend solide wirkende Wand. Nun, da ich mich so sicher fühlte, wie das unter diesen Umständen überhaupt möglich war, sah ich mich nach Bruder Te Purewa um.
Nein, er war nicht da. (Drek, natürlich nicht. Das alte Montgomery-Glück blieb sich treu, dachte ich angewidert.) Ich glaubte, einen oder zwei von den Burschen wiederzuerkennen, mit denen er gestern aufgelaufen war, aber ich konnte mich auch irren. Ein in Leder gekleideter hawai'ianischer Ork mit lausigem Benehmen sieht für das ungeübte Auge aus wie der andere.
Eine Kellnerin kam zu mir - nicht dieselbe wie gestern, aber sie hätten Schwestern sein können -, die ihre ›Ja, was denn?‹-Miene aufgesetzt hatte.
Ich seufzte. »Bring mir ein Dog«, sagte ich zu ihr. Und richtete mich auf eine längere Wartezeit ein.
Den Geistern sei Dank brauchte ich nicht so lange zu warten, nicht viel länger als eineinhalb Stunden. Währenddessen trank ich ungefähr eineinhalb Liter Black-Dog-Bier und schwitzte etwa die doppelte Menge an kaltem, stinkendem Angstschweiß aus. Ein paar Tische mit hartgesichtigen Einheimischen bedachten mich mit spekulativen Blicken. Ich wußte, sie hatten bei meiner Ankunft mitbekommen, daß ich bewaffnet war, aber sie näherten sich langsam dem Punkt, an dem die Chancen nicht schlecht standen, daß sie dem Haole auf den Zahn fühlen würden, nur um festzustellen, ob er die Hardware, die er bei sich hatte, auch benutzen konnte.
Gegen neunzehn Uhr kam Te Purewa hereinstolziert, und ich war so froh ihn zu sehen, daß ich ihm mit Freuden die Zunge - oder auch jeden anderen Körperteil -herausgestreckt hätte, wenn das bewirkte, daß er mich wohlwollender betrachtete. Er sah mich in dem Augenblick, in dem er zur Tür hereinkam, und seine finstere Miene verstärkte den Stinkeblick-Quotienten um einen beträchtlichen Faktor. Ich warf einen Blick auf die hart-äugige Kellnerin - ich hatte ihr bereits erklärt, was sie tun sollte, und ihr ein so hohes Trinkgeld zugesteckt, daß sie sich vielleicht tatsächlich daran erinnerte - und nickte ihr zu.
Ich konnte nicht hören, was sie sagte - wahrscheinlich etwas wie: »Siehst du den durchgeknallten Haole da drüben in der Nische? Er sagt, er will dir einen ausgeben. Solltest du zufällig deinen Kredstab fallen lassen, verpaß ihm 'nen Tritt, bevor du dich bückst, um ihn aufzuheben, ja?« -, aber das spielte eigentlich keine Rolle. Te Purewa - Mark Harrop - warf mir einen schmetternden Blick unter seinen buschigen schwarzen Brauen hervor zu, aber ich sah ein neues Element in seinem Blick -Neugier.
Er kam nicht sofort zu mir - das wäre selbstverständlich nicht cool gewesen, und Coolsein ist alles. Er zögerte es gute fünfzehn Minuten hinaus, bevor er zu mir schlenderte, um mich aus kürzerer Entfernung anzufunkeln. Ich warf einen bedeutungsvollen Blick auf den Stuhl mir gegenüber, aber er setzte sich nicht. Das Schweigen dehnte sich, dann grunzte er: »Maletina sagen, du mit mir reden wollen.«
»Kia ora, Te Purewa«, erwiderte ich. »Was trinkst du?«
Er zögerte, dann zuckte er die stämmigen Schulter. »Wodka.«
Ich nickte der Kellnerin, Maletina, zu, die in der Nähe geblieben war, wahrscheinlich, um sich den Spaß nicht entgehen zu lassen, wenn der kräftige Pseudo-Maori beschloß, den Haole zu Brei zu schlagen. Sie bedachte mich mit einer weiteren Kostprobe des Stinkeblicks, schob jedoch in die ungefähre Richtung der Bar ab.
»Wir hatten gestern einen unglücklichen Start«, sagte ich in gemessenem Tonfall, während wir auf seinen Drink warteten. »Ich hatte nicht die Absicht, dich zu beleidigen.« Ich ließ mein bestes entwaffnendes Lächeln aufblitzen. »Wir dämlichen Touristen, wissen es eben nicht besser, neh?«
»Dämliche Touristen oft enden mit eingeschlagenem Schädel«, knurrte er. Aber trotz dieser demonstrativen Härte sah ich, daß er eigentlich lachen wollte. Zum erstenmal seit einiger Zeit gestattete ich mir den Luxus, ein wenig Hoffnung zu empfinden.
Dann kam Maletina mit dem Drink des Pseudo-Maori. Er sah aus wie ein Dreifacher, was nicht zuletzt an der Tonne Eis im Glas lag. Maletina spielte offenbar »Nimm den Haole aus«, aber ich beschwerte mich nicht. Ich hob mein Glas Dog und versuchte mich an Scotts Trinkspruch zu erinnern. »Okolemaluna«, sagte ich schließlich.
Te Purewa hob sein Glas ebenfalls. »Gleichfalls.« Er trank die Hälfte des Wodkas in einem Zug, dann blies er die Wangen auf und stieß ein zufriedenes Grunzen aus. Sein hartes Funkeln war ein wenig weicher geworden.
»Du kennst Scott schon eine ganze Weile, nicht?« fragte ich nach einer angemessenen Pause.
Der Möchtegern-Maori zuckte die Achseln. »Ganze Weile, klar«, stimmte er zu. Er lächelte. »Zusammen getrunken, Pilikia - Ärger - gemacht und so. Aikane -Freund.« Plötzlich verengten sich seine Augen mißtrauisch. »Wo Scott hin, Ule, häh? Wo?«
Es gab keine schonende Art, ihm die Neuigkeit beizubringen - zumindest keine, die mir das gewünschte Ergebnis liefern würde. »Er ist tot«, sagte ich gerade heraus. »Irgendein Kerl namens Tokudaiji hat ihn umlegen lassen.«
Er war halb aus seinem Stuhl, und seine Hand griff nach einer Ausbuchtung unter seiner Lederjacke. Ich knallte den Lauf meiner Browning gegen die Unterseite des Tisches - ich hatte die Kanone aus dem Gürtel gezogen, während er sich mit seinem Wodka beschäftigte -, und als ich wußte, daß ich seine Aufmerksamkeit hatte, entsicherte ich die Waffe. Der Art nach zu urteilen, wie sich seine Augen bei dem metallischen Klick weiteten, wußte er mit dem Geräusch etwas anzufangen. Lang-sam zog er die Hand von seiner Waffe zurück und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Aber sein Blick wich nicht von meinem Gesicht, und ich spürte die Wut, die er im Moment hinunterschluckte.
»Haole, du tot«, flüsterte er. »Du pau, klar? Vielleicht nicht sofort. Aber irgendwann du pau.«
Es war nicht leicht, so zu tun, als ließe mich so viel Haß kalt, aber mir gelang ein unbeschwertes Achselzucken. »Da hast du recht, Te Purewa«, sagte ich glatt. »Ich war bei Scott, als er gegeekt wurde. Glaubst du nicht, daß Tokudaiji mich auch umlegen lassen wird, um den Job zu beenden? Natürlich bin ich tot, Bruder. Aber glaubst du, ich hätte Angst vor dir, wenn Yakuza-Samu-rai hinter mir her sind?«
Das drang zu ihm durch, wie ich es gehofft hatte. »Die Yakuza?« Er blinzelte. »Der Tokudaiji? Er Da kine... er Oyabun. Nui großer Yak.«
»Das hast du erfaßt«, bestätigte ich.
»Yaks Scott umgelegt? Tokudaiji meinen Aikane umgebracht?«
»Genau das ist passiert.« Ich hielt inne. »Ich weiß nicht, was dahintersteckt, Te Purewa. Ich bin nach Hawai'i gekommen, um eine Botschaft zu überbringen -Scott wußte, wem ich sie überbringen sollte, ich nicht. Heute habe ich zum erstenmal von Ekei Tokudaiji gehört. Ich muß mehr wissen. Was kannst du mir über ihn sagen?«
Es hatte funktioniert, das sah ich. Die vielen Schocks -Scotts Tod, die Identität seines Mörders (zumindest in meiner Version der Geschichte), dann das offene Eingeständnis, daß ich seine Hilfe brauchte - hatten ihre Aufgabe erfüllt. Te Purewa wußte nicht genau, was er von mir halten sollte. Letzten Endes mochte er zu dem Schluß kommen, daß der Haole sterben mußte. Aber für den Augenblick hatte ich seinen Widerstand gebrochen.
Der Beinahe-Maori blinzelte wieder. Dann sagte er: »Auf den Inseln sind haufenweise Japaner.« Mir fiel auf, daß sein Akzent und die Stärke seines Pidgin-Dialekts längst nicht mehr so ausgeprägt waren, als habe er über die Mühe, sich zu erinnern, seine polynesische Herkunft vergessen. »Du weißt Bescheid über die Yakuza, ja? Sie sind traditionell die ›Beschützer der Leute‹. Wenn irgendein Herr zuviel Pilikia macht, können die Leute zu den Yaks gehen und sagen: ›Helft uns mit diesem Ule‹, und die Yaks tun es. Auch heute noch. Gibt zwar keine Herren mehr, aber dafür Konzerne und Bullen und Politiker und so, ja?
Also haben die Japaner, das gewöhnliche Volk, nui Respekt vor den Yaks, ja?« fuhr er fort. »Die Yaks sagen ihnen, kein Sorge, keine huhu, wenn sie aufgebracht sind. Sie beruhigen sie also auch.
Ist mit Na Kama'aina passiert, ist mit ALOHA passiert ...«
Ich hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. »Augenblick. Was ist mit Na Kama'aina und ALOHA passiert?«
Te Purewa schnaubte. »Konzerne raus, Haoles raus, ja? Der ganze Kanike, genauso.« Er zögerte und runzelte wieder die Stirn. »Scott hat dir davon nichts erzählt? Scotty hatte 'ne Menge für den ALOHA-Kanike übrig.«
Jetzt blinzelte ich. Hatte er nicht, oder? Aber jetzt war nicht die Zeit, das zuzugeben. »Ja, davon hat er kurz erzählt«, sagte ich beruhigend, »aber kaum Einzelheiten. Ich war ja der dämliche Haole, klar?«
Er kicherte, und ich wußte, daß ich sein Mißtrauen wieder beschwichtigt hatte... fürs erste. »ALOHA versucht, großen Pilikia zu machen«, fuhr Te Purewa fort, »großen Ärger, jeder huhu, ja? Ein paar Yaks sagen: ›Na und? Nicht unser Problem, Kumpel. «‹ Ich glaubte, langsam zu verstehen - zumindest einiges davon. »Aber nicht Tokudaiji?«
»Du hast's erfaßt, Hoa«, stimmte er vehement zu. »Tokudaiji sagt, ALOHA-Kram alles Kanike, gibt keinen Sinn, ja? Hawai'i braucht Konzerne. Hawai'i braucht Haoles - wenigstens ein paar.« Er schnaubte wieder.
»Hawai'i braucht Geld, Bruder, das weiß ich ganz sicher. Wenn's keine Konzerne mehr gibt, wo kommt dann das Geld her, häh? Wo kommt das Essen her? Können schließlich nicht die Landschaft essen.«
Ich nickte zögernd. »Also haben ALOHA und Na Kama'aina versucht, die Leute zum bewaffneten Aufstand gegen die Konzerne aufzustacheln, richtig? Und dann hat sie Tokudaiji wieder beruhigt?«
»Die Japse beruhigt«, korrigierte Te Purewa. »Japse die einzigen, die ihm richtig zuhören.« Der Möchtegern -Maori hielt inne, und seine Miene nahm einen entschlossenen Ausdruck an. Ich glaubte zu wissen, was er als nächstes fragen würde.
Ich behielt recht. »Was Scotty getan, daß er umgelegt wurde, häh?« fragte er mich leise. »Oyabun auf Zehen getreten? ALOHA-Drek gebetet? Oyabun ganz pupule gemacht - total sauer gemacht, ja?«
Was, zum Henker, irgendwann mußte ich es ihm ohnehin sagen. »Das könnte man sagen«, stimmte ich zu.
»Was Scotty Oyabun getan, häh?«
»Er hat ihn umgelegt«, sagte ich.
Ich war schon hier gewesen, und ich haßte es.
Nun, nicht genau hier, aber an genügend Orten wie diesem, daß mir die Umgebung auf deprimierende Weise vertraut war. Nach einer Weile ist eine Ein-Zim-mer-Bude wie die andere - irgendwie verschmelzen sie im Gedächtnis zu einer einzigen. Zugegeben, es gab Unterschiede - in dieser gab es Küchenschaben anstelle von Ratten, und ich sehnte mich nach einer Klimaanlage anstatt nach einer Heizung. Aber abgesehen davon -null Unterschied.
Ich lag auf der ausgeleierten Matratze und wälzte mich umher, um eine Stellung zu finden, in der sich so wenig Federn wie möglich in meinen Körper bohrten. Ich starrte an die Decke.
Wo war ich hier nur hineingeraten? (Diese Frage war mir ebenfalls auf deprimierende Weise vertraut.) Ich glaubte jetzt, einen Anhaltspunkt zu haben. Ich glaubte, mir zumindest einen Teil der Geschichte zusammenreimen zu können. Plötzlich sah es nicht mehr so aus, als wüßte ich einen Drek darüber, was wirklich abging. Ich seufzte.
Zumindest hatte ich jetzt eine Hilfe. Einen zeitweiligen Verbündeten. Te Purewa natürlich. Ich konnte mich nicht zu sehr auf ihn verlassen. An irgendeiner Stelle fielen ihm vielleicht ein paar der Ungereimtheiten in der Geschichte auf, die ich ihm aufgetischt hatte, und dann würde er mit einigen seiner übergroßen Freunde vorbeikommen, um mir richtig auf den Zahn zu fühlen. Nein, es war besser, wenn ich mein Glück nicht allzusehr auf die Probe stellte.
Doch im Augenblick hatte sich dieser neue Verbündete mehr als bezahlt gemacht. Ich brauchte eine Bleibe - er hatte mir eine Bleibe besorgt, ein Zimmer in einer abgewrackten Pension am Rande der Innenstadt von Ewa. Ich brauchte einen fahrbaren Untersatz - er hatte mir einen fahrbaren Untersatz besorgt, eine fünfzehn Jahre alte 250er Suzuki. Ich brauchte ein Schießeisen - er hatte mir ein Schießeisen besorgt, einen Colt Manhunter, von dem er Stein und Bein schwor, daß er nicht registriert war und sich in keiner ballistischen Datenbank befand. Und ich brauchte Schlaf. Dabei half er mir nicht.
Aber natürlich konnte ich nicht schlafen. Ich war noch zu aufgewühlt von dem Attentat und den Folgen, und die Gedanken drehten sich in meinem Kopf wie ein Propeller. Immer wieder ging ich die Ereignisse durch und versuchte die Puzzleteile an die richtigen Stellen zu schieben, so daß alles einen Sinn ergab. Tolle Aussichten.
Ein paar Stunden lang hatte alles so einfach ausgesehen. Ein Konzernattentat auf Tokudaiji - von Barnard initiiert - mit mir als Tarnung und Scott als Attentäter -natürlich beide entbehrlich und via Bauchbombe zu be- seitigen- Ungefähr so einfach und klar, wie heutzutage etwas sein kann, neh?
Aber so einfach konnte es nicht sein. Zum einen schien Tokudaiji, der Oyabun, ein bedeutender Befürworter der Konzerne zu sein... wenn ich Te Purewa in diesem Punkt vertrauen konnte. Wenn ALOHA und die anderen Hitzköpfe versuchten, die Bevölkerung gegen die Megakonzerne aufzuwiegeln, war es Tokudaiji, der alles daransetzte, um sie wieder zu beruhigen. Also mußte es in Barnards bestem Interesse sein - in Yama-tetsus bestem Interesse und im besten Interesse aller Megakonzerne, die einen Haufen Kreds aus Hawai'i herauszogen -, Tokudaiji am Leben zu lassen. Jetzt, wo er nicht mehr da war...
Nun, Te Purewas Interpretation der Situation - und ich mußte ihm zustimmen - sah so aus, daß Tokudaijis Tod bedeutende Auswirkungen haben würde. Das Attentat würde als Unternehmen eines Megakonzerns betrachtet werden. Gerüchte in dieser Hinsicht kursierten schon auf den Straßen, während ich noch Dog mit dem Pseudo-Maori trank. Was würde die Bevölkerung - und insbesondere die zahlreiche (und ziemlich einflußreiche) japanische Bevölkerung daraus machen? Die bösen, hinterhältigen, gemeinen und widerlichen Megakonzerne hatten gerade einen wichtigen ›Beschützer des Volkes‹ beseitigt. Plötzlich würde es für ALOHA und Na Kama'aina viel einfacher sein, die Bevölkerung gegen die Konzerne aufzuwiegeln, richtig? Ich konnte mir mühelos gegen Anlagen und Personal von Konzernen gerichtete Vergeltungsmaßnahmen vorstellen.
Warum - warum und nochmals warum - sollte Barnard den Oyabun aus dem Weg räumen lassen? Es sei denn, er wollte die Einheimischen gegen die Konzerne aufwiegeln.
Wie paßte das zusammen? Tatsächlich ziemlich gut.
Zuerst wird der Oyabun umgelegt. Dann werden die Einheimischen provoziert. Dabei gehen ein paar Res-sourcen der Megakonzerne verloren. Dann - natürlich mehr aus Sorge, denn aus Wut - werden weitere Einheiten Konzernsicherheit verlegt, Privatarmeen, um die Inseln zu ›befrieden‹. Wenn man schon dabei ist, kann man auch gleich die Regierung absetzen, die sich als unfähig erwiesen hat, die Interessen der Megakonzerne zu schützen. Zum Teufel, derartiger Drek ist auch früher schon erfolgreich abgezogen worden. Fragen Sie mal einen Historiker.
War es dann das? War ich in eine Verschwörung - eine weitere Verschwörung, um Himmels willen - verwickelt, die souveräne Regierung der verdammten Hawai'i-In-seln abzusetzen und einen Plutokraten auf den Thron zu setzen? Sanford B. Dole im neunzehnten Jahrhundert, Jacques Barnard im einundzwanzigsten...?
Alle Fakten paßten zusammen - oder ich konnte sie zurechtbiegen -, aber ich mußte zugeben, daß es bestenfalls Indizienbeweise gab. Drek, wie ich es nur allzu oft tue, hielt ich mich fit, indem ich von Schlußfolgerung zu Schlußfolgerung sprang. Die ›Konzerncoup‹-Theorie beantwortete einige Fragen, ließ aber ein paar verwirrende Zweifel offen. Diese Zweifel nagten weiter an mir, während die rostigen Bettfedern unter meinem Rücken quietschten. Insbesondere mußte ich immer wieder an die beachtliche Diskrepanz denken, die zwischen Te Purewas Schilderung der politischen Überzeugungen seines Freundes Scott und der Art und Weise lag, wie Scott sich mir präsentiert hatte. Als wir die Demonstranten vor dem Regierungsgebäude sahen, hatte er kein Mitgefühl, keine Solidarität mit ihnen zum Ausdruck gebracht. Warum nicht, wenn er laut Te Purewa ein überzeugter Anhänger von Na Kama'aina/ALOHA war?
Konnten Barnard und Yamatetsu auf irgendeine Weise mit ALOHA im Bett liegen?
Ich wälzte mich herum, und etwas bohrte sich in meine Hüfte. Keine Bettfeder, sondern etwas anderes...
Und mit dem Ausruf: »Du bist ein verdammter Idiot!« schoß ich kerzengerade in die Höhe und wühlte in meiner Tasche. Und dort war es, wo ich es unbewußt hineingesteckt hatte, als mir der erste Schuß des Roomswee-per in den Ohren dröhnte.
Das Etui mit dem Chip, den Barnard mir für Tokudaiji gegeben hatte.