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... Und er sagte: »Verschwinde hier, Bruder, ich decke dich, solange ich kann.«

Durch die Tür zum Vorzimmer hörte ich die Alarmgeräusche - gedämpft, aber trotzdem hörbar. Wenn ich diese Geräusche hören konnte, hatten die Samurai auf der anderen Seite der Tür mit Sicherheit das zweimalige Donnern des Roomsweeper gehört. Offensichtlich war die Tür versperrt, und der Öffnungsmechanismus befand sich irgendwo hier in diesem Raum - wahrscheinlich in der Nähe von Ekei Tokudaijis blutbespritzter Hand sonst wären Scott und ich längst mit Blei vollgepumpt.

»Mach, verdammt noch mal, daß du hier rauskommst, Ule«, bellte der Ork noch einmal.

Ich wußte nicht, ob ich mir in die Hose machen, mir die Augen zuhalten oder meine Armbanduhr aufziehen sollte. (Tatsächlich blieben mir nur noch zwei Möglichkeiten, weil ich glaube, daß ich eines dieser drei Dinge bereits getan hatte, als der erste Schuß neben meinem Kopf losging.) Mein Mund bewegte sich, und ich glaube, ich sagte etwas Zwingendes und Markiges wie »Gaah?« Meine rechte Hand irrte immer noch irgendwo an meiner linken Hüfte herum - offensichtlich auf der Suche nach der Seco, die auf der hinteren Sitzbank des Rolls lag also bereitete ich dem ein Ende, indem ich sie zur Faust ballte.

»Kukae!« fluchte Scott frustriert. Er fuhr herum und gab zwei ohrenbetäubende Schüsse auf das nächste Fenster ab. Der erste überzog das Panzerglas mit Sprüngen. Der zweite fegte es in das Laub dahinter. (Anmerkung: Manche Sorten Panzerglas sind keinen Pfifferling wert, wenn der Schuß von innen kommt.) »Mach endlich voran!« brüllte Scott. Er bückte sich, hob die Pistole auf, die der tote Adjutant zu ziehen versucht hatte, und warf sie mir zu. Instinktiv pflückte ich sie aus der Luft.

Schließlich setzten meine Reflexe ein, und ich machte endlich voran. Drei Schritte Anlauf, dann ein Hechtsprung durch das Fenster, um mich zu ducken und den Fall draußen geschmeidig abzurollen. Alles hätte auch Sahne geklappt, hätte nicht der verdammte Hibiskus-strauch direkt vor dem Fenster gestanden. Aus einem leisen Ducken mir Abrollen wurde ein lautes Rascheln und Knacken, aber zumindest fing der blühende Strauch meinen Schwung auf und verhalf mir zu einer (relativ) weichen Landung.

Ich kam geduckt wieder hoch und sah mich hektisch um. Niemand war hinter mir her, noch nicht. Ich lud die Pistole durch - eine brutal aussehende Browning Automatik, ein mir unbekanntes Modell - und überprüfte das Magazin. Laut Anzeige voll, sprich vierzehn Schuß plus einer im Lauf. Mit dem Gefühl, ein widerlich großes Fadenkreuz auf dem Hinterkopf zu haben, entfernte ich mich von dem zerschossenen Fenster.

Gerade noch rechtzeitig. Hinter mir hörte ich einen Knall, das scharfe Knattern leichter automatischer Waffen und dann ein gotterbärmliches Wumm, das sich anfühlte, als sei ich gerade von einem Troll geohrfeigt worden. Ich ging zu Boden - eigentlich nicht meine Idee, aber die Druckwelle traf mich voll -, und aus dem Augenwinkel sah ich einen schmutzig-roten Feuerball durch das Fenster lecken und wieder verschwinden. Ich kroch auf dem Bauch weiter durch das Blattwerk, während Splitter, Holzstücke und Gewebefetzen um mich herum niedergingen. Als ich mich ein meiner Ansicht nach einigermaßen vernünftiges Stück vom Haus entfernt hatte, richtete ich mich auf und versuchte mich zu beruhigen.

Okay, was, zum Henker, war eigentlich passiert? Scott hatte meinen Kontakt erledigt, das war passiert. Und jetzt war er tot.

Er mußte tot sein, oder nicht? Als Tokudaijis Samurai eine Granate in die Bibliothek geworfen hatten...

Nein, das ergab absolut keinen Sinn. Nach allem, was sie wußten, mochte ihr Boß, ihr Oyabun, durchaus noch am Leben sein. Sie hätten nicht den ganzen Raum gesprengt, nur für alle Fälle.

Was bedeutete, Bruder Scott hatte es selbst getan, nicht wahr? Wahrscheinlich mit irgendeiner in der Bauchhöhle versteckten Bombe. Ein Selbstmord-Kommando. Er hatte gewartet, um noch ein paar von Tokudaijis Leuten anzulocken, dann hatte er sich in die Luft gesprengt, um einige von ihnen mitzunehmen.

Warum, zum Teufel, war ich dann aber noch am Leben?

Später, sagte ich mir entschlossen, denk später darüber nach. Ich hatte im Moment weiß Gott genug am Hals, worüber ich mir Gedanken machen mußte, wie zum Beispiel, wie ich mit intakter Anatomie vom Anwesen des Oyabun wegkam. Mittlerweile würden alle Samurai Tokudaijis von dem Anschlag wissen. Sie wußten, daß zwei Leute hineingegangen waren, ein Chauffeur und irgendein blaßhäutiges Subjekt namens Montgomery. Sie würden auf hundertachtzig und gewiß nicht in der Stimmung sein, die Entschuldigung zu akzeptieren, »Hey, Chummer, ich hatte nichts damit zu tun...« Danke, Scott. Und heißen Dank auch dir, Jacques Barnard, du verdammter Hurensohn.

Ich mußte verschwinden, und zwar schnell. Seit der Schießerei war immer noch nicht mehr als eine Minute vergangen, und die Explosion, die die Bibliothek in Schutt und Asche gelegt hatte, war erst Sekunden alt. Tokudaijis Samurai würden nach Instinkt und gemäß ihrer Ausbildung vorgehen - wahrscheinlich beide hochentwickelt -, aber die Situation konnte sich nur verschlimmern, wenn sie die Möglichkeit hatten, nicht nur zu reagieren, sondern auch noch nachzudenken. Wenn sie schließlich ihre Gedanken wieder beisammen haben würden, hätte ich liebend gerne ein paar Staaten zwischen ihnen und mir gehabt. Ich versuchte mich zu orientieren und kroch dann weiter, weg vom Haus und mitten durch ein großes Blumenbeet.

Es dauerte nicht lange, bis mir die Büsche ausgingen und ich offenes Gelände vor mir hatte. Etwa zehn Meter offenes Gelände, wie sich herausstellte, das mich von einem ziemlich dicht aussehenden Dschungel trennte. Ideal. Ich sah mich rasch um und brach aus meiner Deckung hervor.

Was einen Armante-Samurai zu Tode erschreckte, der gerade um die Ecke meines Blumenbeets bog. Er war schnell wie ein geölter Blitz und schwang seine MP herum, um mich in zwei Hälften zu zerlegen. Aber die Angst hatte mich so aufgepeppt, daß ich noch schneller war. Außerdem hielt ihn vermutlich die Tatsache, daß er einen Irren mit wild rollenden Augen und Hibiskus-zweigen im Haar vor sich sah, noch ein oder zwei Millisekunden auf. Ich schob die rechte Schulter vor und sprang ihn mit der Absicht an, sie ihm in die Brust zu rammen. Er tänzelte gerade noch rechtzeitig zurück, also hämmerte ich ihm den Unterarm gegen den Hals.

Den linken Unterarm. Den Unterarm des übermenschlich starken Cyberarms, für dessen Implantation Jacques Barnard bezahlt hatte. Luftröhre, Zungenbein und Nackenwirbel knirschten unter dem brutalen Zusammenstoß mit von Kunsthaut verkleidetem Titan. Der Samurai flog in eine Richtung, seine MP in eine andere und ich in eine dritte, wobei ich nur ganz kurz innehielt, um ihm, um ganz sicherzugehen, noch eine Kugel aus der Browning in die Brust zu jagen. In vollem Lauf tauchte ich in den Dschungel ein. Hinter mir hörte ich das wupp-wupp-wupp eines kleinen Helikopters, der gerade angeworfen wurde.


Fragen Sie mich nicht, wie, zum Teufel, ich dort heil herausgekommen bin, Chummer, ich könnte es Ihnen nicht sagen. Ich schaffte es, aber ich glaube nicht, daß ich mich je an die Einzelheiten erinnern werde. Ganze Zeitabschnitte, Minuten um Minuten, waren für mich weiße Flecken. Ich weiß, daß ich durch tropischen Dschungel kroch. Ich weiß, daß ich mörderischen Samurai auswich. Ich weiß, daß ich schließlich eine verdammte Palme em-porkletterte, um über eine verdammte Stahlbetonmauer zu springen. Ich weiß, daß ich durch mehr Dschungel rannte - wie weit ich rannte, weiß ich nicht -, mir dabei die Klamotten zerfetzte, die Scott für mich besorgt hatte, und mir fast den Knöchel gebrochen hätte. Ich weiß, daß ich schließlich auf einer schmalen öffentlichen Straße in einer Wohngegend herauskam, wo ich einen Wagen aufbrach und im wesentlichen machte, daß ich weg kam. Aber die Bilder - die Erinnerungen - sind unzusammenhängend wie Szenen eines schlecht geschnittenen SimSinn-Films - desorientierend und verwirrend.

Ich fuhr in meinem gestohlenen Wagen, einem winzigen dreirädrigen Chrysler-Nissan Buddy, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, ungefähr in westlicher Richtung, als die Reaktion einsetzte. Ich lenkte den Wagen an den Straßenrand, stellte den Elektromotor ab und riß die Tür gerade noch rechtzeitig auf, um mein Frühstück auf die Straße zu würgen. Meine rechte Hand zitterte, als hätte ich Schüttelfrost. Meine linke bewegte sich nur ruckhaft, was das Cyber-Äquivalent desselben war. Mir war kalt, und meine Haut spannte, als sei sie mir zwei Nummern zu klein und gerade erst aus dem Kühlschrank geholt worden.

Schockzustand, das war es, gekoppelt mit den sehr realen Symptomen einer ›Adrenalin-Überdosis‹. Solange es dauerte, war ich unfähig, irgend etwas zu empfinden, und beinahe unfähig zu denken. Wenn Ekei Tokudaiji mit seinem aufgeplatzten Schädel zu mir gekommen wäre, hätte ich ihm wahrscheinlich seine verdammte Hand geschüttelt.

Das Zittern und die Übelkeit und das Frösteln vergin-gen schließlich, wie das immer so ist. Nach zehn oder fünfzehn Minuten war ich wieder einigermaßen normal, wenn man von den dumpfen, pochenden Kopfschmerzen und dem komischen Gefühl im Magen vom Adre-nalin-Kater absah. Ich werde zu alt für diesen Drek, sagte ich mir. Ich war kein junger Löwe mehr. Drek, ich war fünfunddreißig und ging auf die sechsunddreißig zu ... und fühlte mich im Moment ein halbes Jahrhundert älter. Ich war dabei, meinen Biß zu verlieren. Ich war dabei? Teufel, ich hatte ihn längst verloren. Wie lange hatte ich in Tokudaijis Bibliothek gebraucht, um die Tatsache zu registrieren, daß Scott mich nicht auch geeken würde?

Es lag aber nicht nur am Alter und an den nachlassenden Fähigkeiten, oder? Dahinter steckte noch mehr. Ich betrachtete meine linke Hand und ballte sie immer wieder zur Faust.

Ich schleppte sie immer noch mit mir herum, nicht wahr? Die seelische Last des Megadreks unter Fort Lewis, des Unternehmens, das mich einen Arm und Hawk, Rodney und die anderen so viel mehr gekostet hatte. Ich war noch immer durch sie beeinträchtigt. Mein Timing stimmte nicht, meine Instinkte waren... ja, waren sie tatsächlich verschüttet, oder war es nur so, daß ich ihnen nicht mehr vertraute? Ich wußte es nicht. Als der erste Schuß neben meinem Ohr losgegangen war, waren die Empfindungen, die mich gelähmt hatten, nicht die Empfindungen des Augenblicks gewesen -falls das überhaupt einen Sinn ergibt. Sie waren mit dem Nachhall der Empfindungen jener längst vergangenen Momente beladen gewesen, als Freunde um mich herum gestorben waren und mein Arm zu Holzkohle verbrannt war. Irgendwie hatte ich mich davon nie wirklich erholt. Es war, als hätte ich in Fort Lewis viel mehr als meinen Arm verloren. Einen Teil meines Selbstverständnisses, einen Teil meiner Weltsicht, vielleicht... einen Teil meiner Seele? Dieser Verlust war es, der verhindert hatte, daß ich alles hinter mir ließ und weiter meinen Weg ging.

Ich hätte die Dinge anders angehen können, wurde mir plötzlich klar. Was sagen die Leute immer, wenn man einen Sturz mit dem Motorrad hat? Steig sofort wieder auf das verdammte Ding, schwing dich wieder in den Sattel. Hatte ich mich nach meinem ›Sturz‹ wieder in den Sattel geschwungen? Kein Gedanke, Omae. Ich hatte Seattle verlassen und war in das beschaulichere Cheyenne geflohen. Und dort hatte ich mir einen Ruf als Meister der minimalen Bloßstellung aufgebaut. War ich wieder auf den Hobel gestiegen? Nein, Chummer, es war so, als sei ich davor weggelaufen und nie wieder auch nur in die Nähe von irgendwas gegangen, das schneller als Schrittempo fährt. Meine Entscheidung, und damals war sie mir vernünftig erschienen. Aber jetzt war ich aus meiner gemütlichen Null-Bloßstellung-Zone heraus, und ich würde für diese Entscheidung büßen.

Ich ließ den Motor des C-N Buddy wieder an und fuhr weiter. Ich war immer noch viel zu nahe am Tatort. Ich mußte mich beeilen, mußte Entfernung zwischen mich und Tokudaijis Samurai legen. Außerdem mußte ich die Situation durchdenken und mich für die weitere Vorgehensweise entscheiden, aber ich konnte beim Nachdenken ebensogut fahren wie ins Leere starren.

Zehn Minuten später war ich auf der Route 83, der Küstenstraße, die die Insel umrundet. Bei anderer Gelegenheit hätte ich die Aussicht genossen. Jetzt bemerkte ich sie kaum, so viel ging mir im Kopf herum.

Was, zum Henker, war dort im Haus des Oyabun eigentlich abgegangen? In was, zum Teufel, war ich da nur hineingeraten?

Offensichtlich in eine Verschwörung, den Oyabun zu geeken - das zu erraten war nicht weiter schwierig. Harnard hatte mich als eine Art Trojanisches Pferd benutzt, nicht wahr?. Mich benutzt, um durch Tokudaijis Abschirmung zu dringen, um den Yak-Boß herauszulocken, um Scott in seine Nähe zu bringen, so daß er ihn hatte umlegen können.

Und mehr als das. Offensichtlich hatte Barnard - mit den Ressourcen Yamatetsus im Rücken - die magischen Voraussetzungen geschaffen, damit Scott, der Attentäter, seinen Job erledigen konnte. Den Illusionszauber, oder was es gewesen war, der es ihm ermöglicht hatte, einen verdammten Remington Roomsweeper durch die scharfen Kontrollen zu schleusen. Den Anti-Schild-Zauber, den er benutzt haben mußte, um die magische Barriere einzureißen, mit der sich ein wichtiger Mann wie der Oyabun selbstverständlich umgab. Das notwendige Mana hatte sich in einem Zauberfokus oder einem Fetisch befunden, zum Beispiel in dem dickbäuchigen kleinen Burschen auf Scottys Revers. Scott mußte seinerseits ein Magier oder Schamane gewesen sein - wahrscheinlich letzteres, vermutete ich, da er wohl in die Fußtapfen seiner Mutter getreten war -, um das Mana zu aktivieren (so verstand ich es jedenfalls), aber er selbst brauchte gar nicht so viel magischen Saft zu haben.

Also war ich die Deckimg gewesen, die Tarnung, unter der der Attentäter nahe genug kam, um die Zielperson umzulegen. Okay, das konnte ich nachvollziehen.

Aber warum hatte Scotty mich nicht auch weggepustet?

Das war die Vierundsechzigtausend-Nuyen-Frage, nicht wahr? Drek, wenn er seine Karten richtig gespielt hätte, wäre er - vielleicht - sogar entkommen. Er legt Tokudaiji und seinen Adjutanten mit dem Roomsweeper um und putzt mich dann mit einer anderen Waffe weg. Dann behauptet er, ich sei der Attentäter und er zu langsam gewesen, um mich zu erledigen, bevor ich zum Schuß gekommen sei. Klar, vielleicht hätte es nicht geklappt. Klar, Tokudaijis Samurai hätten wahrscheinlich zuerst geschossen und dann die Leichen ausgefragt. Aber er hätte zumindest eine Chance gehabt, wenn auch eine dünne. Statt dessen hatte er sich mit einer Bauchbombe umgebracht. Warum hätte er es nicht darauf ankommen lassen sollen und vielleicht - nur vielleicht -überleben können?

Warum atmete ich also noch? Gute Frage, Chummer, auf die es zwei mögliche Antworten gab. Erstens: mich umzulegen, war ein Teil des Jobs, den Scotty einfach nicht hatte erledigen wollen. Mit anderen Worten, meine gewinnende Persönlichkeit hatte gereicht, um einen Konzernkiller dazu zu bringen, einen Teil seines Kontrakts nicht zu erfüllen. Ja, ganz bestimmt. Zweitens...

Zweitens mich am Leben zu lassen, gehörte mit zum Plan. Ein lebender Dirk Montgomery würde Jacques Barnards Zwecken besser dienen als ein toter Dirk Montgomery.

Warum? Wer, zum Teufel, konnte das ahnen? Vielleicht ging Barnard davon aus, daß ich wertvolle Ya-kuza-Ressourcen band und den Yak-Soldaten eine muntere Jagd lieferte, während... Während was? Mir gefiel die Logik nicht, die hinter diesem Gedankengang steckte. Wie Barnard die Sache sah, würde er nur davon profitieren, wenn er mich am Leben ließ. Das bedeutete, die Tatsache, daß ich noch lebte und eine Rechnung mit ihm zu begleichen hatte, stellte weder für ihn noch für seine Pläne eine signifikante Bedrohung dar. (Kein sehr vorteilhafte Einschätzung meiner Fähigkeiten, neh?) Nein, wie er die Sache sah, würde ich ihm helfen... natürlich ohne es zu wissen. Und - das war das Bestür-zendste daran - ich konnte mir ums Verrecken (buchstäblich) nicht vorstellen, wie...

Drek! Einfach wunderbar, und es kam immer besser. O Junge.

Stop, Augenblick mal, da war irgendwas, was ich übersah. Irgendwas, was einfach nicht richtig klang. Ich fuhr langsamer und ließ den Motorradfahrer vorbei, der mir mit seinem gyro-stabilisierten Feuerstuhl dicht auf der Pelle hing und mir beim Überholen den Finger zeigte.

Es war die Bauchbombe, nicht wahr? Die mir zu denken gab. Sie können mich hoffnungslos naiv nennen (ich bin schon Schlimmeres genannt worden, das können Sie mir glauben), aber ich hatte versteckte Bomben und Selbstmordkommandos immer mit ideologisch motivierten Fanatikern in Verbindung gebracht - mit anderen Worten, mit sprücheklopfenden Irren. Nicht mit Konzernkillern. Die hatte ich immer als kalte und logische Typen betrachtet, die alles bis ins kleinste Detail planen und einen Job erst dann übernehmen, wenn eine 99,99%ige Chance besteht, daß sie es überleben. Drek, Konzernleute - ob Manager oder Killer - werden vom persönlichen Profit getrieben, oder nicht? Ich bin noch nie der Ansicht gewesen, daß Treue bis in den Tod zur Konzernwelt gehört. Man erledigt seinen Job, weil man dafür bezahlt wird - in vielen Fällen sehr gut bezahlt wird -, nicht weil man aufrichtig an das glaubt, was der Konzern tut. Welcher Bursche, der noch ganz richtig im Kopf ist, würde für die Gerechte Sache des Yamatetsu-Konzerns sterben?

Aber genau das hatte Scott anscheinend getan. Wo war das Profit-Motiv in seiner Handlungsweise? Es ist nicht ganz leicht, die Früchte seiner Arbeit zu genießen, wenn man von einem Kilo C12 in der Bauchhöhle zerfetzt worden ist. Übersah ich hier irgendwas? Steckte hinter Scot-tys Handlungsweise mehr als das Offensichtliche?

Oder - und das war wirklich ein häßlicher kleiner Gedanke - hatte Bruder Scott vielleicht gar nicht gewußt, daß er mit einer Bauchbombe unterwegs war? Oder daß sie explodieren würde, als sie hochging? Vielleicht hatte er gar nicht gewußt, daß er auf einem Selbstmordkommando war. Vielleicht hatte er eigentlich damit gerechnet, sich den Weg freizuschießen... möglicherweise mit mir im Schlepptau.

Ja, das ergab tatsächlich einen Sinn. Ich konnte mir mühelos vorstellen, wie irgendein Yamatetsu-Agent das Geschehen überwachte - vielleicht durch eine Wanze irgendwo an oder in Scotts Körper - und auf den richtigen Augenblick wartete, den kleinen roten Knopf an dem Sender neben sich zu drücken. Und Scott geht hoch und mit ihm jeder Beweis, der zur verantwortlichen Partei führen könnte. (Einer dieser Beweise ist natürlich ein gewisser Dirk Montgomery...) Das würde auch erklären, warum Scotty mich gehen ließ: weil er damit rechnete, daß wir beide entkommen würden. Der einzige Grund, warum ich noch lebte und über all das nachdenken konnte, war der, daß der Agent bei der Überwachung geschlafen und den Knopf ein paar Sekunden zu spät gedrückt hatte.

Da kam Freude auf. Die Sache wurde dadurch richtig heikel, nicht wahr? Wenn meine Schlußfolgerungen auch nur annähernd korrekt waren, war ich ein lebender, atmender Beweis, der die Ermordung des Oyahun direkt mit Jacques Barnard in Verbindung bringen konnte. Also mußte ich mir jetzt nicht nur wegen der Yakuza-Vergeltungstrupps Sorgen machen, mir waren auch noch meine theoretischen Yamatetsu-Agenten auf den Fersen, die die losen Enden ihres Unternehmens verknüpfen wollten. Ach ja, und obendrein kam die Hawai'ianische Nationalpolizei hinzu. Wahrscheinlich ist Mord hier im Königreich gegen das Gesetz, und vielleicht interessierte sich die Polizei für die Angelegenheit. Plötzlich war ich sehr gefragt, nicht wahr?

Also, was, zum Henker, sollte ich jetzt tun? Ich fuhr den C-N Buddy an den Straßenrand und starrte auf den Pazifik, während mich die Verzweiflung überrollte wie eine kalte, dunkle Flutwelle. Wohin sollte ich jetzt gehen?

Ich war aufgeschmissen - richtig und wahrhaftig aufgeschmissen.

Meine Möglichkeiten - gingen wir sie eine nach der anderen durch. Ich konnte ins Diamond Head Hotel zurückkehren - Null! Im Grunde Selbstmord. Yamatetsu würde dort ebenso auf mich warten wie die Yakuza, wenn ihre Schädel nicht völlig hohl waren. Meine einzige Hoffnung, diese Begegnung zu überleben, bestand darin, daß die Yaks und die Konzernleute zu beschäftigt damit waren, sich gegenseitig zu geeken, um mich zu geeken. Keine sonderlich aussichtsreiche Wette.

Ich konnte zum Awalani-Flughafen rasen, das erste Suborbitalflugzeug nehmen und machen, daß ich hier wegkam. Schließlich hatte ich immer noch mein Blanko-Konzernticket, nicht wahr? Klar, ich konnte an Bord eines Flugzeugs gehen und meinen ganzen Kummer zurücklassen - Null! Aus Erfahrung wußte ich, wieviel Sicherheit diese Vögel umgab. Es gab einfach nicht die geringste Chance, daß Barnard - oder auch die Yaks -nicht erfahren würde, daß ich in dem Flugzeug saß, das ich genommen hatte. Auf dem Awalani, mitten im Flug oder auf meinem Zielflughafen würde ich ein sanftes Tippen auf der Schulter verspüren, das schockierender ist als ein Schlag in die Zähne. Man würde mich verschleppen und mir eine Kugel in den Kopf verpassen. Oder wer weiß, vielleicht wurde ich auch in Stein verwandelt und durfte mich den Statuen anschließen, die ich bei meinem Telekomgespräch mit Barnard im Hintergrund gesehen hatte.

Je mehr ich es mir überlegte, desto aufgeschmissener war ich. Ich hatte nicht richtig zugehört, als Scotty mir erzählte, warum es so wenig Möchtegerns in den Schatten von Hawai'i gab - kein Spielraum, falls einmal etwas schiefging. Jetzt machte ich selbst die Erfahrung, daß er recht gehabt hatte, und das Gefühl gefiel mir überhaupt nicht.

Welche Möglichkeiten hatte ich? Gab es einen anderen Weg, die Inseln zu verlassen? Spontan wollte mir keiner einfallen. Gab es einen Ort, an dem ich mich verkriechen konnte, bis Gras über die Sache gewachsen war? Spontan wollte mir keiner einfallen. Gab es jemanden, der Kontakte und Hilfsmittel hatte und mir helfen konnte? Spontan wollte mir keiner...

Augenblick mal. Vielleicht gab es doch jemanden. Es war ziemlich weit hergeholt, aber wenn die Dinge anlangen, verzweifelt auszusehen, ist ›Risikovermeidung‹ kein Thema mehr.

»Kia oral« übte ich, als ich wieder losfuhr, und versuchte dabei, genau den richtigen Anflug von Streitlust in meine Stimme einfließen zu lassen. »Kia ora!«