1
Ihr Name - zumindest der, den sie mir nannte - war Sharon Young. Nicht unbedingt schön, aber attraktiv. Ausdrucksstarkes Gesicht mit einem netten, vollen Mund. Scharfe Augen, die Art, denen nicht viel entgeht, in einem umwerfenden Grün. Lange, glatte, schwarze Haare. Und trotz ihrer, wie mir schien, kräftigen Sonnenbräune war sie ein Shadowrunner.
Natürlich sagte sie mir das nicht. Das gehört zu den Dingen, die man nur denjenigen Leuten auf die Nase bindet, zu denen man absolutes Vertrauen hat. Aber die guten Shadowrunner müssen es auch niemandem auf die Nase binden - sie haben etwas an sich, eine Art zu gehen, eine Art, alle Vorgänge in ihrer Umgebung zu registrieren -, und sie gehörte zu den guten. Sie trug eine locker sitzende Jacke, vermutlich gepanzert, die offenstand, und es dauerte nicht lange, da spielte ich wieder das alte Spiel ›Wo ist die Flak‹. Ich gab es jedoch rasch wieder auf. Unter dieser Jacke war genug Platz, um darin von einer kleinen Hold-Out bis zu einer zurechtgestutzten MP alles unterzubringen. Sie nahm einen Schluck von dem Bier, das sie sich gerade gekauft hatte, und ich sah ein leichtes Stirnrunzeln des Abscheus. Das beförderte sie auf der Montgomery-Skala des Sinns für Ästhetik eine Stufe nach oben. Das einzige, was das Bier in der Buffalo-Jump-Bar davon abhielt, grün auszusehen, war die ungesunde Mischung aus Konservierungsstoffen, künstlichem Farbstoff und Geschmacksverstärkern, die es enthielt.
Sie stellte das Glas ab. Zeit fürs Geschäft, dachte ich. »Mr. Montgomery«, begann sie.
»Derek«, korrigierte ich. »Oder Dirk.«
Sie neigte den Kopf und bedachte mich mit einem knappen Lächeln. »Dirk.« Dann hielt sie wieder inne, wohl um ihre Gedanken zu ordnen und sich darüber klarzuwerden, wieviel sie mir erzählen mußte und womit sie anfangen sollte.
Unterdessen schaute ich weg - ein Anflug von Höflichkeit, der mir außerdem Gelegenheit gab, mich meiner eigenen Paranoia hinzugeben. Mit einem raschem Rundumblick vergewisserte ich mich, daß uns niemand in der Bar ungebührliche Aufmerksamkeit widmete. Es war ungefähr fünfzehn Uhr - mitten am Nachmittag und in dem Loch zwischen dem Mittagspausengedränge und dem Nachfeierabendansturm. Nach meinem Umzug vor einem Jahr nach Cheyenne hatte ich mit gelinder Überraschung festgestellt, daß die Leute in der Sioux Nation dieselben Bürozeiten hatten wie die in Seattle, nämlich von neun bis siebzehn Uhr. Ich weiß eigentlich nicht, was für Unterschiede ich erwartet hatte... aber ich hatte welche erwartet. Mittlerweile habe ich aber begriffen, daß Städte eben Städte sind - Sara-rimänner bleiben Sararimänner, ob sie Asiaten, UCAS-Amerikaner oder Amerindianer sind.
Die Salatshow auf der kleinen Bühne war in vollem Gange. Zwei minderjährige Blondinen, die kosmetische Veränderungen erfahren hatten, um wie eineiige Zwillinge auszusehen, trugen auf eine beeindruckend oberflächliche Art zur Kriminalisierung eines Gemüses bei. Niemand schien sich sonderlich dafür zu interessieren, auch nicht die Gäste in der ›Gynäkologenreihe‹ direkt vor der Bühne. Bei der Musikbegleitung - zweitklassiger Glam-Rock, der seit zehn Jahren aus der Mode war -hätte es sich, der Aufmerksamkeit nach zu urteilen, die ihr entgegengebracht wurde, auch um statisches Rauschen handeln können. Die DAT-Aufnahme war schon so oft abgedudelt und abgenudelt worden, daß die häufigen digitalen Aussetzer die Stücke bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten. Plötzlich hatte ich eines dieser Déjà vu-Erlebnisse. Für einen Augenblick war ich nicht mehr im Buffalo Jump, sondern an einem beinahe iden-tischen Ort tausend Kilometer entfernt - im Superdad in den Redmond Barrens...
Ich schüttelte die Erinnerungen ab und drängte sie wieder in den schwarzen Sumpf meines Unterbewußtseins zurück, wohin sie auch gehörten. Ich war nicht bereit, über Seattle nachzudenken, noch nicht. Mit einiger Anstrengung konzentrierte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Sharon Young.
Mittlerweile hatte sich die attraktive Shadowrunnerin überlegt, wie sie ihr Anliegen vorbringen wollte. Mit betonter Bedächtigkeit - um bei ihrem eventuell nervösen Kontakt, das heißt mir, kein Mißtrauen aufkommen zu lassen - griff sie in ihre Tasche und holte zwei kleine Gegenstände heraus, die sie vor mich auf den Tisch legte. Bei dem einen handelte es sich um einen Speicherchip in einer Schutzhülle, bei dem anderen um einen silbernen, beglaubigten Kredstab. Wiederum hielt sie inne, als warte sie darauf, daß ich nach Chip und Kredstab griff -ein Test, um festzustellen, ob ich die Straßenetikette brechen würde. Meine Hände lagen auf der zerkratzten Tischoberfläche und rührten sich keinen Millimeter.
Dann lächelte sie, eine flüchtige Angelegenheit wie das Aufblitzen eines Stroboskops. Ich wußte, es war ein Test, sie wußte, daß ich es wußte, ich wußte, daß sie wußte, daß ich wußte, und so weiter. »Ich brauche eine Hintergrundüberprüfung«, sagte sie leise. »Eine vertrauliche Hintergrundüberprüfung.«
»In einer Einstellungssache?«
»Wenn Sie so wollen.«
»Dann gehe ich davon aus, daß in erster Linie aktuelle Informationen gefragt sind.«
Wieder dieses Aufblitzen eines Lächelns, diesmal begleitet von einem angedeuteten Nicken.
Wir verstanden einander. Sie wollte Informationen über jemanden - augenblicklicher Aufenthaltsort, gegenwärtige Aktivitäten, diese Art von Drek. Und sie wollte nicht, daß die betreffende Person von meinen Nachforschungen erfuhr. Ein normaler Kontrakt, die Art von relativ risikolosem Schnüffelkram, die ich seit meinem Umzug nach Cheyenne ständig übernahm.
»Sie haben einen Namen, nehme ich an?«
Ihre grünen Augen waren unergründlich. »Dann übernehmen sie den Kontrakt?«
Ein weiterer Test - sie war vorsichtig. »Das hängt von den Bedingungen ab«, konterte ich.
»Sie werden sich nur minimal exponieren müssen«, sagte sie gelassen. »Die betreffende Person befindet sich im Moment außer Landes.«
Ich hob eine Augenbraue. Wenn sie wußte, daß sich die Person nicht in Cheyenne befand, hinter welchen Informationen war sie dann her? Ich versuchte meine Überraschung zu verbergen, indem ich mit dem Zeigefinger leicht über den Rand meines Bierglases strich.
Mit dem linken Zeigefinger. Es war eine Konzentrationsübung. Ich wurde durch die Feststellung belohnt, daß der Finger kein Zittern, keine Instabilität erkennen ließ. Vielleicht gehörten die Aussetzer in meinem Cyberarm jetzt tatsächlich der Vergangenheit an.
»Es handelt sich tatsächlich um eine Hintergrundüberprüfung«, fuhr sie nach ein paar Sekunden fort. »Jedes Gerücht, das Sie über gegenwärtige Aktivitäten aufschnappen können, ist wichtig, verstehen Sie mich nicht falsch - Motive, Connections, Enthüllungen... Aber in erster Linie interessiert mich der eigentliche Hintergrund - warum ist er dort, wo er jetzt ist, und wie ist es dazu gekommen.«
Okay, das machte mehr Sinn. Sie wußte, daß die betreffende Person außer Landes war, aber sie wollte, daß ich in Erfahrung brachte, was sie tat und was zu der Reise geführt hatte. Ich nickte. »Sind Sie der Auftraggeber?« unterzog ich sie nun selbst einem kleinen Test.
Sie bedachte mich lediglich mit einem weiteren Grin-sen - mit Auszeichnung bestanden. »Die betreffende Person heißt Jonathan Bridge«, sagte sie schließlich. »Ork. Sioux. Geboren und aufgewachsen in Cheyenne.«
»Persönlicher Hintergrund?«
Sie tippte mit einem Fingernagel gegen den Speicherchip. »Standardtarif«, sagte sie mit einem Blick auf den Kredstab. »Die Hälfte im voraus, der Rest bei Lieferung. Letzter Liefertermin in sechsundneunzig Stunden, zehn Prozent für vierundzwanzig, zwanzig für zwölf.« Das bedeutete, zehn Prozent Bonus für jeden vollen Tag, den ich vor Ablauf des Termins lieferte, und zwanzig Prozent Abzug für jeden angebrochenen halben Tag, den ich mich verspätete. »Die üblichen Spesen.«
»Was ist mit ungewöhnlichen Auslagen?«
»Darüber reden wir.«
Ich nickte. Wie sie gesagt hatte: Standardbedingungen. Ich hatte genug Aufträge dieser Art in Cheyenne übernommen, um die gängigen Tarife zu kennen. Blieb nur noch eine Sache ... »Sollte ich direkt exponiert werden, bin ich draußen«, sagte ich entschieden.
Jetzt war es an ihr zu nicken. »Ich verstehe«, erwiderte sie... und ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, daß sie tatsächlich verstand. Wieviel mehr als das, was in meiner ›Ruhmesliste‹ stand, die ich über die Schattenkanäle von Cheyenne verbreitet hatte, wußte sie über mich?
»Alle Kontaktinformationen befinden sich auf dem Chip«, sagte sie, wobei sie sich geschmeidig erhob.
Ich stand ebenfalls auf - bot ihr jedoch ebensowenig meine Hand an, wie sie mir ihre anbot. »Ich melde mich.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte sie ruhig. Sie wandte sich ab und ging. Ich wartete, bis sie die Bar verlassen hatte, bevor ich Chip und Kredstab an mich nahm - wiederum und wie immer die Etikette. Ich setzte mich wieder und richtete meinen Blick auf die Pseudo-Zwillinge, während ich aus dem Augenwinkel nach etwaigen Reaktionen auf ihren Abgang Ausschau hielt. Nichts, kein Schatten, der ihr zum Ausgang folgte - nicht, daß ich irgend etwas in dieser Art erwartet hätte. Profi bleibt Profi, und man entwickelt ein Gespür dafür... Zumindest tut man das, wenn man in diesem Geschäft bleiben will.