5
Nennen Sie es Montgomerys Prinzip Inverser Beziehungen. Je schneller man irgendwohin gelangt, desto länger die Wartezeit am Zoll. Honolulus Awalani-Flughafen lieferte in dieser Beziehung einen netten dicken Punkt für meinen fiktiven Graphen.
Ich stoppte die Zeit. Nachdem es nur etwas über vierzig Minuten gedauert hatte, um sechstausend Kilometer zurückzulegen, brauchte ich jetzt mehr als sechzig Minuten, um die fünfzehn Meter vom Ende der Zoll/Einwanderungs-Schlange bis zur Freiheit in der Flughafenlobby zu überwinden.
Der einzige Unterschied zwischen den hawai'iani-schen Zollbeamten und denen, die mich in Casper schikaniert hatten, war die Sonnenbräune. Ansonsten waren es dieselben Trolle in zu kleinen Uniformen, die zusahen, während mir humorlose Dronen Fragen der Art stellten, ob ich Fleischprodukte in meinem Gepäck einführte. (Bei dieser Frage habe ich immer die perverse Lust, die Zolldrone zu fragen, ob eine enthauptete Leiche in meinem Koffer unter die Rubrik ›Fleischpro-dukte‹ fällt...)
Während ich in der Schlange Ausländische Besucher‹ wartete, registrierte ich mit mürrischer Verbitterung die Schnelligkeit, mit der heimkehrende Kama'ainas - Einheimische, hawai'ianische Bürger - durchgewunken wurden. Keine forschenden Fragen über Fleischprodukte, aber Lächeln und ›Aloha‹-Begrüßungen für sie anstelle der kalten Aufforderung: »Die Pässe, bitte.«
Doch schließlich war ich durch und befand mich in einer angenehm geräumigen und luftigen Lobby, in der sich, wie mir plötzlich auffiel, überproportional viele Trolle und Orks aufhielten - zumindest im Vergleich zu Cheyenne und sogar Seattle. Jetzt, wo ich darüber nach-(Lichte, fiel mir ein, daß die unbedarfte Columbia Hyper-medien-Enzyklopädie den Anteil von Orks und Trollen an der hawai'ianischen Bevölkerung mit dreiunddreißig Prozent angegeben hatte. Wie hoch war dieser Anteil in Seattle? Um die einundzwanzig Prozent, glaubte ich mich zu erinnern. Nun, ich hatte schon öfter gehört, daß (die Hawaiianer große Kinder zur Welt brachten.
Nachdem ich endlich den Unsinn am Zoll hinter mir hatte, mußte ich an mein nächstes Problem denken. Nämlich, wohin, zum Teufel, mußte ich gehen, um was zu Inn? Man würde mich in Empfang nehmen - das hatte mir der Zwerg mit den Augenbrauen wie ein überfahre-nes Eichhörnchen in Casper gesagt. Aber wer, das war die Frage.
Eine Frage, die praktisch sofort beantwortet wurde. Während ich mit einem vagen Ausdruck der Verloren-heit dastand und wartete, löste sich eine Gestalt aus einer Gruppe von mit Kameras behängten japanischen Touristen und kam auf mich zu. Eine große Gestalt - ein Ork mit erstaunlich breiten Schultern und kleinen Hauern, die vor dem Hintergrund seiner sonnengebräunten Haut unglaublich weiß aussahen - in einem gut geschnittenen Geschäftsanzug. In seinen riesigen Händen hielt er ein kleines lasergedrucktes Schild, auf dem ›Tozer‹ stand. Diesmal hatte ich keine Probleme, mich daran zu erinnern, daß ich das sein sollte, also winkte ich ihn zu mir.
Er bedachte mich mit einem breiten Grinsen, das ohne diese Fänge wesentlich freundlicher gewirkt hätte. »Mr. Brian Tozer?« fragte er mich mit einer Stimme wie Mitternacht und Samt.
Ich nickte. »Das bin ich.« Ich griff in die Tasche, zog meinen Kredstab heraus - denjenigen mit dem digitalen Paßwort im Speicher - und hielt ihn ihm hin.
Er kicherte - ein Geräusch wie eine Steinlawine - und winkte ab. »Ich weiß, daß Sie Sie sind, Mr. Tozer«, sagte er. »Wissen Sie, in Fleisch und Blut sehen Sie viel gesünder aus.«
Wahrscheinlich hatte er mein Führerschein-Holo oder etwas in der Art gesehen. (Wenn Sie jemals so aussehen wie auf ihrem Führerschein-Holo, sind Sie zu krank, um zu fahren...) Ich zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen...« Ich zögerte, da ich nicht wußte, wie ich ihn anreden sollte.
»Scott«, sagte er. »Sie können mich Scott nennen, Mr. Tozer.«
»Dirk«, erwiderte ich automatisch, um dann rasch hinzuzufügen: »Eigentlich heiße ich Brian, aber alle nennen mich Dirk.« Drek, ich mußte unter der Zeitverschiebung leiden oder irgendwas.
Scotts große braune Augen zwinkerten. »Dirk ist cool«, sagte er. »Dann wollen wir mal Ihr Gepäck holen.«
Das Gepäck der Erster-Klasse-Passagiere kam über ein eigenes Gepäckband, und die meisten von ihnen hatten ihres bereits eingesammelt und waren verschwunden, bevor auch nur die erste Tasche für die Vieh-Klasse aufgetaucht war. Ich zeigte auf meine Tasche, die Scott aufnahm, als wiege sie nichts, und dann auf einen kleinen automatischen Gepäck-Karren warf, der ihm wie ein treuer Spaniel folgte. Wir führten den Spaniel-Karren aus dem Terminalgebäude hinaus und auf die Straße.
Die Hitze traf mich wie ein Schlag. Drek, es war erst kurz nach sechs, aber ich schätzte, daß die Temperatur bereits siebenundzwanzig Grad betrug, und die Luftfeuchtigkeit war entsetzlich. Sekunden später spürte ich, wie mir das Hemd auf dem Rücken klebte. Scott mußte mein Unbehagen gespürt haben, weil er wiederum kicherte und verkündete: »Wird wieder 'ne nette Hitze heute. Am Nachmittag werden wir wohl auf einunddreißig, zweiunddreißig Grad kommen.« Er deutete auf mein schwarzes Hemd. »Ich hoffe, Sie haben sich was Praktischeres zum Anziehen mitgebracht, Bruder.« Ich betrachtete ostentativ seinen Anzug, aber er lächelte nur. »Ja klar, aber ich werde dafür bezahlt, mich unbehaglich zu fühlen.«
Es war immer noch dunkel - ja klar, wir waren in den Tropen, nicht wahr? Der Tag brach später und abrupter an, als ich es von Cheyenne gewöhnt war - aber die Natriumlampen brannten fast taghell. In ihrem gelben Schein sah ich, wohin Scott mich führte: zu einer metal-lic-grauen Limousine, einem Rolls-Royce Phaeton oder einem engen Verwandten. Ein riesiges niedriges Ding, das nach Mach 2 aussah, obwohl es noch am Straßenrand parkte. Ich stieß einen langgezogenen leisen Pfiff aus, um zu zeigen, daß ich beeindruckt war.
Scott zuckte seine mächtigen Achseln. »Ja«, bestätigte er. »So ist mir manchmal auch noch zumute.« Er zog eine kleine Fernbedienung aus der Tasche und drückte auf einen Knopf. Mit einem seidenweichen Heulen wie von einer Hochgeschwindigkeitsturbine sprang der Motor an, und einen Augenblick später öffnete sich lautlos eine der übergroßen hinteren Türen. Während der Ork-Chauffeur meine Tasche von dem Spaniel-Karren nahm und sie in einen Kofferraum warf, der groß genug für eine Partie Urban Brawl war, stieg ich hinten in den Phaeton ein.
Geistige Notiz: Ich muß mir irgendwann einen dieser Schlitten anschaffen. Nicht, um damit zu fahren. Um darin zu wohnen.
Der Fond sah größer aus als ein paar von den Buden, in denen ich schon gehaust hatte. Wo man die Rücksitzbank erwartete, befand sich ein riesiges, viel zu weich gepolstertes Sofa. Nein, korrigierte ich mich sofort, es war kein Sofa... es sei denn, man betrachtete Vierpunkt-Sicherheitsgurte als Standardausrüstung für das Wohnzimmermobiliar. Ich setzte mich und spürte, wie sich die opulenten Polster liebevoll um mein Hinterteil schmiegten. (Sollte die Limousine vielleicht auch noch eine Vorrichtung - zum Beispiel einen Kran - haben, um Passagiere aus der tiefen Polsterung wieder herauszuhieven?) Einer Eingebung folgend, zog ich meine Schuhe aus und krallte die Zehen in den flauschigen Teppich. (In einem meiner Lieblings-2D-Filme aus dem letzten Jahrhundert wird das als Rezept gegen die Zeitverschiebung vorgeschlagen, und wer bin ich, daß ich dem widersprechen könnte?)
Von außen waren die großen Rundumfenster undurchsichtig gewesen, staubgrau verspiegelt, so daß sie zum Karosserielack paßten. Von innen schienen sie völlig zu verschwinden... abgesehen von der Tatsache, daß eine subtile Polarisierung den Natriumlaternen den grellen Glanz nahm. Zwischen mir und dem Fahrerabteil befand sich eine Vorrichtung, die wie eine hüfthohe Unterhaltungseinheit aussah: Trideo, verschiedene optische Abspielgeräte, eine Stereoanlage, die meinem tech-nophilen Freund Quincy für den Rest seines Lebens feuchte Träume beschert hätte, und etwas, das nach einer Kommunikationseinheit mit Satellitenverbindung aussah. Ach ja, und ein kleines Arrangement mit Flaschenschrank/Bar. Über der Unterhaltungseinheit befand sich eine transparente Kevlarplex-Trennscheibe. Durch sie sah ich Scott auf den Fahrersitz gleiten, eine Haarsträhne zurückstreichen und ein Fahrzeugkontrollkabel in seine Datenbuchse einstöpseln. Er drehte sich um und grinste mich durch den Zentimeter verstärktes Kevlarplex an. »Fertig, Mr. Dirk?« Seine Stimme kam aus einem verborgenen Lautsprecher irgendwo hinter meinem linken Ohr.
»Nur, wenn Sie dafür sorgen, daß dieses Ding verschwindet«, sagte ich zu ihm, indem ich mich vorbeugte, um gegen die kugelsichere Trennscheibe zu klopfen. »Ich komme mir vor wie in einem Aquarium.«
Sein Kichern kam laut und deutlich aus den verborgenen Lautsprechern, während die Scheibe im oberen Teil der Unterhaltungseinheit verschwand. »Besser so?«
»Viel besser.« Als Scott den Fahrgang einlegte und der Phaeton zügig losrollte, versanken noch ein paar Zentimeter meiner Anatomie in der Polsterung. »Scott«, sagte ich nach einem Augenblick, »was meinen Sie? Brauche ich den Vierpunktgurt?«
»Hey, ich weiß, daß einige Touristen sogar dafür bezahlen, sich festschnallen zu lassen.« Ich sah ihn seinen großen Kopf schütteln. »Sie kommen auch mit dem Beckengurt aus, wenn Sie wollen, aber etwas werden Sie brauchen, um nicht quer durch den Wagen zu fliegen, wenn ich ein paar harte Fluchtmanöver fahren muß.«
Während ich den Beckengurt anlegte, stellte ich die nächste logische Frage. »Ist das wahrscheinlich? Fluchtmanöver, meine ich.«
Mein Chauffeur zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich? Nein. Möglich? Ja.« Er schnaubte. »Wir haben dieses |ahr schon ein paar Anschläge auf hohe Konzerntiere erlebt, und die Schützen machen sich vielleicht nicht die Mühe, herauszufinden, wer sich im Wagen befindet, bevor sie losballern, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Wer steckt hinter diesen Anschlägen?«
»ALOHA, wer sonst?«
Ich blinzelte. »ALOHA? Die gibt es immer noch?«
»Die wird es immer geben, Bruder. Manche Leute sind nie zufrieden mit dem, was sie erreicht haben. Yankees raus, Japse raus, Haoles raus ...«
Ich unterbrach ihn. »Howlies?«
»Haoles.« Er buchstabierte das Wort. »Anglos, Bruder. Weiße. Ausländer... wie Sie, okay?« Das Lächeln, das ich in seiner Stimme hörte, nahm seinen Worten den beleidigenden Beiklang. Dann fuhr er fort. »Wie ich schon sagte, Haoles raus, Konzerne raus ...« Er schnaubte wieder, um mir zu zeigen, was er von dieser Einstellung hielt.
Wir verließen das Flughafengelände und fuhren auf eine moderne sechsspurige Autobahn. Scott gab Gas, und die Turbine des Phaeton sang. Ich warf einen Blick auf die Bar, dachte kurz darüber nach - zum Teufel damit, warum nicht? -, öffnete sie und suchte inmitten der Miniflaschen darin nach einem Scotch. Glenmoran-gie, fünfundzwanzig Jahre alter Single-Malt - nun, das Zeug reichte gewiß für meine Ansprüche. Die aktive Radaufhängung der Limousine fraß alle Unebenheiten und Vibrationen der Straße, so daß ich keine Schwierigkeiten hatte, mir einen guten Schluck in ein massives Kristallglas zu gießen und einen Spritzer Wasser hinzuzufügen. Ich prostete schweigend Scotts Hinterkopf zu, und im Rückspiegel sah ich die kleinen Fältchen um seine Augen, als er lächelte. Ich nippte und ließ die Magie des Scotches wirken.
»Scott«, sagte ich nach ein paar Minuten, »Sie wissen, wer ich bin, stimmt's?«
Er stutzte, und ich wußte, daß er darüber nachdachte, welche Antwort er mir geben sollte. »Natürlich, Mr. Tozer«, sagte er schließlich.
Ich lächelte. »Nennen Sie mich Dirk«, erinnerte ich ihn gelassen.
Er lächelte wieder und gab zu: »Okay, ja, ich weiß, wer Sie sind.«
»Und Jacques Barnard hat Ihnen auch gesagt, warum ich hier bin?«
»Ich kenne keinen Jacques Barnard«, log er mit fester Stimme. »Mein Boß ist Elsie Vogel bei Nebula.« Er hielt inne. »Aber ich weiß, daß Sie hier sind, um eine Botschaft zu überbringen, und ich weiß auch, wem Sie sie überbringen werden.«
»Sagen Sie es mir.«
Er schüttelte den Kopf. »Das brauchen Sie noch nicht zu wissen«, sagte er, und zum erstenmal hörte ich eine Spur Stahl unter seiner Freundlichkeit. Dieser gut gekleidete Ork war nicht irgendein Konzern-Lakai, wurde mir klar, er hatte mehr drauf. »Ich fahre Sie dorthin, wenn die Zeit gekommen ist«, fuhr er fort, und seine Stimme war wieder die Freundlichkeit in Person. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«
»Wann?«
»Wahrscheinlich morgen. Der Mann, den Sie treffen werden - er ist heute auf einer der äußeren Inseln -, wird erst spät in der Nacht oder morgen früh zurückkehren. Irgendein dringender Notfall oder so.« Er drehte sich kurz zu mir um und grinste mich über die Schulter an. »Was bedeutet, Sie haben den ganzen Tag und die ganze Nacht, um sich die Sehenswürdigkeiten anzusehen, Bruder. Und mich zu Ihrer Verfügung.« Er deutete mit einem riesigen Daumen auf seine Brust. »Der Reiseführer Numero eins, das bin nämlich ich.«
Ich seufzte und ließ mir das bei einem weiteren Schluck Glenmorangie durch den Kopf gehen. Ich wollte es eigentlich nicht zugeben, aber ich fühlte mich wohl. Irgendwie mochte ich Scott - obwohl ich wußte, daß er Konzern-Stahl unter seiner Alter-Junge-Schale hatte -, und mir gefiel die Vorstellung eine Limousine mit Chauffeur zur Verfügung zu haben. Aber...
Aber ich mußte meine Paranoia wachhalten. Trotz aller Ausschmückungen handelte es sich hier nicht um einen Urlaub, sondern ums Geschäft. Und, was noch schlimmer war, ich tappte hinsichtlich der meisten Details, die dieses Geschäft beinhaltete, im dunkeln. Ich wußte nicht, wen ich treffen sollte und warum. Ich wußte nicht, wie es danach weitergehen sollte. Und ich wußte nicht, wer oder was ein Interesse daran hatte, sich zwischen mich und den Zweck des ganzen Unternehmens zu stellen. Ich befand mich nicht auf meinem gewohnten Territorium - das mußte ich mir immer wieder einschärfen - und spielte auf dem Hof anderer Leute und außerhalb meiner Sicherheitszone. Wer weiß: Vielleicht würde alles so glatt abgewickelt wie Kunstseide. Ich liefere die Botschaft ab, erhalte vielleicht noch eine Antwort, dann kutschiert mich Scott zum Flughafen zurück, und ich fliege nach Cheyenne zurück. Aber wenn nicht und ich mich plötzlich als Leiche wiederfand, weil ich keine Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatte, war mir nicht mal die Genugtuung vergönnt, Barnard bis in alle Ewigkeit als Geist heimzusuchen. Es wäre meine Schuld, nicht seine. Ich war exponiert - das durfte ich nicht eine Sekunde lang vergessen. Und ich mußte tun, was ich konnte, um diesen Zustand zu minimieren. Was mich daran erinnerte ...
»Scott.«
»Ja, Mr. Dirk?«
»Ich war gezwungen, einige... persönliche Besitztümer... auf dem Festland zurückzulassen, wenn Sie wissen, was ich meine.« Sein Nacken legte sich in Falten, und ich wußte, daß er wie ein Bandit grinste. »Ich will dieses Problem aus der Welt schaffen. Können Sie mir helfen?«
»Sie brauchen das wirklich nicht, wissen Sie?« Er klopfte mit dem Knöchel gegen sein Seitenfenster. »Haben Sie eine Ahnung, was nötig ist, um dieses Zeug hier zu durchschlagen?«
So leicht würde ich mich nicht abwimmeln lassen. »Trotzdem. Nennen Sie es einen Glücksbringer... wie ein Hasenpfote. Ich würde mich ohne einfach nicht wohl fühlen.«
Daraufhin lachte er laut auf. »Ja, eine Neun-Millime-ter-Hasenpfote, möchte ich wetten.« Er beruhigte sich schnell wieder. »Okay. Null Problemo, Bruder, ich kann Ihnen helfen.« Er sah sich wieder kurz zu mir um. »Und ich beschaffe Ihnen auch ein paar passende Klamotten. Okay?«
»Ich hatte schon immer eine besondere Vorliebe für Kevlar«, sagte ich zu ihm, »wenn Sie es in einer meiner Farben bekommen können.«
Vor uns, vor dem Hintergrund der Schwärze des Himmels, konnte ich die erleuchteten Zikkurats der Wolkenkratzer erkennen. Plötzlich erlebte ich einen dieser Augenblicke der Desorientierung. Ich hätte ebenso- gut über den Highway 5 in Richtung Seattier Innenstadt wie über die Hawai'ier Route 1 fahren können. Im Dunkeln sehen die meisten Städte gleich aus.
Wiederum schien Scott meinen unausgesprochenen Gedanken zu erraten. »Schade, daß Sie den Nachtflug nehmen mußten. Das ist eigentlich ein ganz netter Ausblick von hier aus - man bekommt einen guten Eindruck von der Stadt, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Wie ist denn Honolulu?« fragte ich ihn. »Schließlich leben Sie in der Stadt, oder nicht?«
»Ja, ich wohne im Nebula-Komplex.« Er zuckte die Achseln. »Es ist eben eine Stadt. Sie hat ihre guten Seilen, und sie hat ihre schlechten Seiten. Gegenden, die Sie ich nicht entgehen lassen sollten, und Gegenden, in denen Sie nicht begraben sein wollen. Sie hat ihre Pinkel, sie hat ihre Burakumin« - er benutzte den japanischen Ausdruck für die Heimat- oder Besitzlosen, ein beleidigendes Wort, das unter Pinkeln immer häufiger als Bezeichnung für Leute ohne Konzernzugehörigkeit benutzt wurde -, »und sie hat ihre Touristen.« Er lachte, »Brüder, und wie sie ihre Touristen hat.«
»Hochrangige Konzerntypen?«
»Die meisten, ja. Ganze Schwärme, die aus Asien rü-berkommen, und einige aus Europa. Aber es gibt auch noch die Mama-und-Papa-Typen, die jahrelang gespart haben, um einmal herzukommen und eine Zeitlang mit dem Geld herumzuschmeißen.«
»Das fördert doch die Wirtschaft, oder nicht? Der Tourismus?«
»Das behaupten jedenfalls die Reiseführer auf dem Festland«, stimmte er zu. »Aber zum größten Teil wird die Wirtschaft von den Konzernen gefördert, echt. Hey, immerhin ist Hawai'i der größte Konzern-Freihafen überhaupt. Was glauben Sie wohl, woher das Geld kommt?«
Das ließ ich mir eine Zeitlang durch den Kopf gehen, während sich um uns herum die Wolkenkratzer erhoben, Konstellationen elektrischer Sterne am Firmament. »Aha. Und was sind die schlechten Seiten dieser Stadt?« fragte ich schließlich.
»Die Politiker«, erwiderte Scott sofort mit einem humorlosen Grinsen. »Ich weiß nicht, wie sie dort sind, wo Sie herkommen, Bruder, aber hier sind alle nur Gauner, die die Hand aufhalten.«
Der Wagen wurde langsamer, und er bog um eine scharfe Kurve. Wir hielten an, und er stellte den Motor ab. »Wir sind da«, verkündete er unnötigerweise.
»Wo ist ›da‹?« fragte ich ihn einen Augenblick später, während ich ihm zusah, wie er meine Tasche aus dem Hangar-großen Kofferraum der Limousine holte. Ich betrachtete das Gebäude, das vor mir aufragte: so weiß, wie es nur künstlicher Marmor sein kann, viele geschwungene Linien, die dem Haus im schwachen Rosa des Morgengrauens einen Anflug von Bewegung zu verleihen schienen.
»Das Diamond Head Hotel«, sagte er, »direkt neben -richtig geraten - Diamond Head selbst.«
»Ist es ein öffentliches Hotel?«
»Machen Sie Witze, Bruder?« trompetete der Ork. »Selbst meine Connections reichen nicht, um hier abzusteigen. Sie wissen es vielleicht nicht, aber Sie haben eine Menge im Rücken.«
Ich nickte, als ich ihm über die Auffahrt zur Eingangshalle folgte. In Seattle gab es Konzernabsteigen - Läden, die nur Konzernmitarbeitern ab einem gewissen Rang offenstanden, und zwar unabhängig von ihrer eigentlichen Konzernzugehörigkeit -, aber die Idee hatte sich dort noch nicht richtig durchgesetzt. (Und in Cheyenne? Vielleicht ist dieses Hinterwäldlernest in einem Jahrzehnt so weit, Chummer.) Offenbar mögen die ranghohen Pinkel diese Absteigen, weil sie noch mehr zur Trennung zwischen ihnen und den Burakumin beitragen... eine Klasse, die mich einschloß, was der ganzen Sache einen netten Anflug von Ironie verlieh, nicht wahr?
Wir spazierten direkt durch die Halle. Scott warf nicht einmal einen flüchtigen Blick auf den glattgesichtigen Burschen hinter dem Empfangstresen, also tat ich es auch nicht. Wir nahmen den Fahrstuhl - mir fiel auf, daß der Ork eine Magnetkarte vor der Kontrolltafel schwenken mußte, bevor sich die Türen öffneten, und noch einmal, bevor sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte - und fuhren in den siebzehnten Stock. Das Hotel - Konzernabsteige hin oder her - vermittelte dasselbe Gefühl und Ambiente wie alle modernen Hotels überall auf der Welt, da ihnen jegliche Individualität und jeder Charakter fehlen. Ich hätte mich ebensogut im Sheraton in Seattle befinden können.
Ich folgte Scott den Flur entlang bis zu dessen Ende und wartete, während er vor der Tür wiederum die Magnetkarte schwenkte. Das Magnetschloß klickte, und er stieß die Tür mit dem Fuß auf und machte mir Platz, um mich zuerst eintreten zu lassen.
Tja, okay, das war nicht wie das Sheraton... zumindest nicht wie die Zimmer, die ich dort bisher zu Gesicht bekommen hatte (aus beruflichen Gründen natürlich). Bei genauerem Hinsehen handelte es sich im Prinzip um das unbewegliche Gegenstück zum Fond des Phaeton: ähnlich tiefgepolsterte Sofas, ähnliche Unterhaltungseinheit, ähnliche Bar. Schierer, kompakter hedonistischer Luxus. Scott, der leise über meine Reaktion lachte -wahrscheinlich die ziemlich gute Imitation eines nach Luft schnappenden Fisches -, trug meine Tasche ins Schlafzimmer der Suite und legte sie auf ein Bett, das groß genug für eine Riesenparty war. Als er wieder zu mir zurückkam, verspürte ich vorübergehend den Drang, ihm ein Trinkgeld zuzustecken.
»Wollen Sie 'ne Mütze voll Schlaf nehmen?« fragte er.
Ich dachte darüber nach, warf einen Blick auf das Bett und dachte noch einmal darüber nach. »Keine schlechte Idee«, mußte ich zugeben.
»Kein Problem.« Er sah auf seine Armbanduhr, eine ziemlich kostspielige Quasar (noch ein Beweis, falls ich ihn noch gebraucht hätte, daß er mehr war als nur ein einfacher Chauffeur). »Wie wär's, wenn ich in drei Stunden wieder vorbeikäme?«
»Sagen wir lieber vier. Und ...«
Er brachte mich mit einem Grinsen zum verstummen. »Keine Sorge, Mr. Dirk, ich bringe Ihnen Ihre Hasenpfote. Und ein paar richtige Klamotten.«
Wie üblich - es ist immer dasselbe, wenn ich das Gefühl habe, wirklich Schlaf zu brauchen - glitt ich erst eine Viertelstunde bevor der Wecker klingelte, in die tiefste und erholsamste Phase des Schlafs. Also waren meine Augen ziemlich verklebt und meine Gedanken ein wenig vernebelt, als ich mich aus dem Party-Bett wälzte.
Sonnenlicht fiel durch das Fenster, und der Ausblick nahm mich fast eine ganze Minute, in der ich nackt in der Mitte des Schlafzimmers stand, gefangen. Ich blickte auf Diamond Head - zumindest nehme ich das an eine gewaltige Erhebung aus verwittertem Gestein. Aus diesem Blickwinkel sah es weniger wie ein Diamant, sondern mehr wie ein leicht gekrümmter Amboß aus, aber im Augenblick war mir das völlig egal. Es war unglaublich schön, der Fuß war in üppiges Blattwerk gehüllt und von noch üppigeren Anwesen umgeben, und das alles vor einem Himmel, dessen Blau klarer und reiner war, als ich es je zuvor gesehen hatte. Wenn sich irgendwelcher Drek in der Atmosphäre befand -Staubpartikel, NOx und die üblichen Widerlichkeiten -, war es jedenfalls nicht genug, um die Klarheit des Ausblicks zu trüben. Nicht so, wie in Seattle - absolut nicht - oder auch in Cheyenne. Das war wohl einer der Vorteile, sich auf einer Insel mitten im Pazifik zu befinden, während ich zusah, wie der Wind durch die Kokospalmen am Strand fuhr: Der Wind bläst die gesamte Luftverschmutzung aufs Meer hinaus. Kein schlechtes System, wenn es sich arrangieren läßt.
Ich schüttelte meine Faszination ab und ging ins Badezimmer, um mich neben anderen Dingen dem Pelz zu widmen, der sich auf meinen Zähnen gebildet hatte. Ich hatte mir einen Bademantel übergeworfen und erwog gerade, etwas Drastisches mit meinem Haar zu unternehmen - Gel oder vielleicht (noch besser) Lack -, als de Türklingel summte.
Wissen Sie, wodurch man ein echtes Luxushotel von einem Möchtegern unterscheidet? Durch die Sprechanlage im Badezimmer, die sich sowohl aus der Badewanne als auch von der Kloschüssel mühelos erreichen laßt. Das Diamond Head Hotel gehörte eindeutig zur ersten Kategorie. Ich beugte mich vor und drückte auf den Knopf der Sprechanlage. »Ja?«
Der zwei Zentimeter durchmessende Bildschirm erhellte sich, und ich sah Scotts grinsendes Gesicht. »Sind Sie wach, Mr. Dirk?«
»Mehr oder weniger. Kommen Sie rein, und fühlen Sie sich wie zu Hause. Ich bin gleich da.« Ich drückte auf den Knopf mit der Aufschrift »Tür öffnen«.
Als ich kurze Zeit später ins Wohnzimmer ging, stand der große Ork da und starrte aus dem Fenster, offensichtlich von demselben Ausblick fasziniert, der mich vor ein paar Stunden in Beschlag genommen hatte. Er war in Zivil. In seinem maßgeschneiderten Geschäftsanzug hatte er schon groß ausgesehen. Jetzt wurde der Eindruck überwältigender Massigkeit durch die Tatsache unterstützt, daß er ein Hawai'i-Hemd trug - ja, offenbar waren diese Dinger immer noch in Mode -, in dem er wie ein Strauß Dschungelblumen aussah, der beschlossen hatte, einen Spaziergang zu machen. Auf dem Sofa neben ihm lagen ein paar Päckchen.
Er drehte sich um, als ich aus dem Badezimmer kam. »Tut mir leid, daß Sie warten mußten«, sagte ich, indem ich mir mit den Händen durch die Haare fuhr, die an manchen Stellen immer noch wie Stacheln abstanden.
Scott kicherte und betatschte eine seiner eigenen widerspenstigen Locken. »Ich versteh' schon, Bruder.« Er deutete auf die Päckchen auf dem Sofa. »Ich hab' Ihnen ein paar Sachen gekauft. Wollen Sie sie anprobieren?«
»Haben Sie die Größe geraten?« Ich warf noch einen prüfenden Blick auf die mächtigen Schultern des Chauffeurs. Wie gut konnte er die Größe von jemandem mit einem normalen Körperbau schätzen?
»War gar nicht nötig, ich hab' einfach in Ihrer Akte nachgesehen. Größe einsfünfundachtzig, Gewicht neunundachtzig. Brustumfang hundertfünf, Taille vierundachtzig. Richtig?«
»Nicht ganz.« Ich war perverserweise froh, daß zumindest eine Zahl falsch war. Jesus... wenn Barnard meine verdammten Maße in seiner Akte hatte, was hatte er dann sonst noch über mich? Eine genaue Liste meiner sexuellen Eroberungen? Eine Schätzung meiner täglichen Kalorienaufnahme? »An der Taille habe ich mittlerweile eher sechsundachtzig.«
Scott grinste triumphierend. »Ich dachte mir, daß die Zahlen überholt sein könnten, also habe ich mir die Freiheit genommen, die Sachen in der Taille etwas weiter zu kaufen. Probieren Sie sie an.«
Mit einem Seufzer nahm ich die Päckchen und ging ins Schlafzimmer, um mich umzuziehen.
Die Sachen paßten perfekt, und ich mußte zugeben, daß sie tatsächlich wesentlich praktischer waren als diejenigen, die ich mitgebracht hatte. Ein paar helle, sehr leichte Hosen - fünf Taschen, etwas ausgebeulte Beine und an den Knöcheln umgekrempelt. Ein paar Hawai'i-Hemden - Blumenmuster, aber wesentlich gedämpfter als Scotts Exemplar -, sehr weit, kurzärmelig und so geschnitten, daß sie über der Hose getragen werden konnten. Ein zweites Päckchen, das einen Körperpanzer von Ares Arms enthielt - natürlich kurzärmelig -, der mir wie angegossen paßte. Ich wählte eine knochenweiße Hose und ein mattblaues Hemd mit rotem Hibiskusblü-tenmuster. Solange ich das Hemd zugeknöpft trug, konnte man den Körperpanzer darunter nicht einmal ahnen.
Scott nickte beifällig, als ich wieder zum Vorschein kam. »Viel besser«, sagte er grinsend. »Sie sehen fast wie ein Kama'aina aus.«
»Was ist mit...?«
»Ihrer Hasenpfote?« beendete er die Frage für mich. »Hier.« Er griff unter sein Hemd, zog etwas heraus und warf es mir zu.
Ich fing es instinktiv auf und betrachtete den Gegenstand. Eine kleinkalibrige Pistole, eine Seco LD-120, in einem kompakten Hüfthalfter. Ich holte die klobige schwarze Makroplastwaffe heraus, entfernte das Magazin und lud durch. Perfekter Zustand - wie ich erwartet hatte. Das Halfter hatte zwei Seitentaschen, in denen sich jeweils ein Reservemagazin befand - insgesamt verfügte ich also über sechsunddreißig Schuß. Die kleine Pistole hatte nicht annähernd die Durchschlagskraft meines guten alten Manhunter, aber wenn der Drek zu dampfen anfing, konnte ich einem Gegner zumindest ein wenig zu denken geben. Mit einem Nicken des Dankes schob ich das Halfter in den Hosenbund und befestigte die Klammer am Gürtel. Ich schaute in den Spiegel und sah, daß das locker sitzende Hemd die Waffe fast perfekt verbarg.
»Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte Scott.
Der erste Punkt auf der Tagesordnung war Essen. Die leichte Mahlzeit, die im Flugzeug serviert worden war, hatte ich nicht angerührt, also hatte ich das letztemal vor fast achtzehn Stunden gegessen. Mein Magen mußte wohl langsam den Verdacht hegen, daß man mir die Kehle durchgeschnitten hatte.
Scott führte mich nach unten ins Restaurant - opulent, wie ich erwartet hatte - und auf eine offene Terrasse, wo weißgekleidetes Personal und ein Frühstücksbuffet warteten. Einen Moment lang zweifelte ich an der Klugheit einer offenen Terrasse, doch dann fielen mir die kleinen Warnschilder auf, die im Abstand von drei Metern am Terrassengeländer angebracht waren - Achtung: Schutzmagie. Ich nickte verstehend. Vermutlich irgendeine physikalische Barriere, die durch einen Spruchzauber verstärkt wurde. Es konnte keine Manabarriere sein, weil die Vögel ungehindert zwischen der Terrasse und den Palmen in der Umgebung hin und her flogen.
Die Terrasse war leer, abgesehen von Scott und mir und dem Personal... und ungefähr einem Dutzend kleiner beiger Vögel, die wie Tauben aussahen. Der Ork führte mich zu einem Tisch am Geländer und fragte mich, was ich zum Frühstück wünschte.
Während er meine Bestellung aufgab - ich könnte mich an diese Art von Bedienung gewöhnen, schoß es mir durch den Kopf -, genoß ich die Aussicht. Von dieser Stelle wurde der Blick auf Diamond Head durch ein paar Häuser versperrt, aber der Blick nach Westen auf die Innenstadt von Honolulu, den Awalani-Flughafen und Pearl Harbor dahinter war frei. Auf dem glatten azurblauen Wasser der Bucht wimmelte es von Booten aller Art und aller Größen. Grellfarbene Spinnaker glitzerten in der Sonne, während hier und da Motorboote Gischtvorhänge aufwirbelten, wenn sie sich in eine enge Kurve legten. In der Ferne sah ich ein Hochgeschwindigkeitsboot, das schnell wie der Blitz war, aber praktisch kein Kielwasser erzeugte. Wahrscheinlich irgendein Tragflügelboot, möglicherweise eine Fähre, die zwischen den Inseln verkehrte.
Als Scott mit meinem übervollen Teller zurückkehrte -entweder hatte er meinen Appetit überschätzt oder seinen eigenen zum Maßstab genommen -, hörte ich ein entferntes Donnern. Ich schaute auf und nach Westen.
Zwei bösartig aussehende kleine Pfeile schössen durch die Luft und hinaus aufs freie Meer - zweifellos Kampfflugzeuge, die von Pearl Harbor aufgestiegen waren. Zwar wußte ich, daß sie nicht schneller waren als das Suborbitalflugzeug, in dem ich noch vor ein paar Stunden gesessen hatte - Drek, ihre Höchstgeschwindigkeit war vielleicht sogar geringer aber sie sahen viel schneller aus. Schiere, gewalttätige Energie, so kamen sie mir in dem Augenblick vor: lebhaft und offensichtlich bereit, jeden Augenblick ein schwindelerregendes Manöver zu fliegen oder mit Waffen von phantastischer Durchschlagskraft zuzuschlagen.
Nun, da ich zum Himmel schaute, fiel mir etwas anderes auf, das ich auf dem Festland bisher nur ein paarmal gesehen hatte. Es war der Kondensstreifen einer in sehr großer Höhe fliegenden Maschine, aber es handelte sich nicht um die geometrisch perfekte gerade Linie eines Hochgeschwindigkeits-Zivilflugzeugs. Nein, dieser Kondensstreifen sah aus wie Donuts auf einer Leine - ein Mittelstreifen, der in regelmäßigen Abständen von wulstigen Kringeln umgeben war. Nach allem, was ich von Luftfahrttechnologie wußte - nicht viel, nur den Drek, den man aus der Populärpresse aufschnappt -, war das einzige Triebwerk, das den charakteristischen Kringel-auf-einer-Schnur-Kondensstreifen erzeugte, ein Puls-Detonations-Antriebssystem. Soweit ich wußte, wurden Puls-Detonations-Triebwerke nur bei einer Art Flugzeug eingesetzt: bei Überschall-Spionage-flugzeugen der Aurora-Klasse und darüber.
Ich runzelte nachdenklich die Stirn. Die Puls-Detonation ist eine verteufelt heiße Sache. Selbst jetzt, Jahrzehnte nach ihrer Einführung, war sie eine noch ziemlich heikle Angelegenheit. Jeder konnte ein normales Düsentriebwerk herstellen - Turbofan, Ramjet, sogar SCRAMjets —, aber nur wenige Ingenieure konnten einen Puls-Detonations-Antrieb entwerfen und bauen, der auch funktionierte, ohne sich und seine Umgebung in kleine Stücke zu sprengen. Ich hätte nicht gedacht, daß Hawai'i die Möglichkeiten sowohl finanzieller als auch personeller Art hatte, so etwas Kompliziertes zu entwickeln.
Andererseits hatte das Königreich vielleicht nicht bei Null anfangen müssen. Als Danforth Hos zivile Armee die Bürgerwehr erledigt und die Inseln praktisch übernommen hatte, mochte er sich ebensogut einen Haufen interessanter Tech angeeignet haben.
Und dieser Gedanke warf eine ganze Wagenladung anderer Fragen auf. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, wurde mir klar, daß die Schilderungen, die ich über Danforth Hos Coup und die Abspaltung der Inseln von den Vereinigten Staaten gelesen hatte, in einigen wesentlichen Punkten ziemlich oberflächlich gewesen war. Die Geschichte mit der Pazifik-Flotte - die konnte ich verstehen. Der Kommandant eines Schiffsverbandes streitet nicht mit Thorhämmer. Aber was war mit den Waffen und Soldaten der Militärbasen auf den Inseln? Und mit den Basen selbst? Hätte die amerikanische Regierung sie so leicht aufgegeben, ohne Kampf? Oder hatte es einen Kampf gegeben, der in den offiziellen Darstellungen nur verschwiegen wurde?
Ich wandte mich an Scott. Er hatte sich ebenfalls einen Frühstücksteller geholt - der noch voller war als meiner - und bereits die Hälfte davon verzehrt. »Sie sind hier geboren, nicht wahr?« fragte ich ihn.
Er nickte. »Auf Oahu gezeugt und geboren«, bestätigte er, den Mund voller belgischer Waffeln.
»Dann erzählen Sie mir von der Abspaltung.«
Er kicherte und wischte sich Sirup und Schlagsahne -echte Schlagsahne, um Himmels willen - von den Lippen. »Was glauben Sie, wie alt ich bin, Bruder?« fragte er. »Das war damals, Siebzehn. Da war ich nicht mal ein Jucken in der Hose meines Vaters.«
»Aber Ihre Eltern haben Siebzehn doch gelebt, oder?« hakte ich nach. »Und Sie müssen einen Haufen Leute kennengelernt haben, die alles miterlebt haben, vielleicht sogar daran beteiligt waren. Und die Leute reden.«
Scott schüttelte den Kopf, während er eine weitere ge-waltige Portion hinunterschluckte. »Das ist genau die Sache, Bruder - sie reden nicht, jedenfalls nicht über die Abspaltung. Ja, sicher, sie reden schon darüber - aber nur über den Kram, der dazu geführt hat, und über die Zeit danach. Was wirklich abgegangen ist, was die Kahu-nas mit der Bürgerwehr angestellt haben, über diesen Kanike - diesen Drek - redet niemand.«
»Warum nicht?«
Der Ork zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, Hoa, echt nicht. Ich bin nur ein einfacher Wikanikanaka-Junge.«
»Wikani... was?«
»Sie müssen sich noch die Sprache hier aneignen, Bruder«, sagte der Ork lachend. »Hier spricht jeder eine Art Pidgin - haufenweise Ausdrücke, die dem Polynesi-schen entlehnt sind, okay? Wie Hoa - das bedeutet ›Freund‹ oder ›Chummer‹. Kanike - das ist das Geräusch von zwei Sachen, die zusammenknallen, aber es wird im Sinne von ›Drek‹ benutzt. Und Wikanikanaka - das heißt ›Ork‹. Sie werden sich daran gewöhnen.
Jedenfalls«, fuhr er fort, als er sich wieder auf das Thema besann, »wie ich schon sagte, niemand redet über die eigentliche Abspaltung.«
»Als gäbe es einiges, von dem sie nicht wollen, daß andere es erfahren?«
»Vielleicht. Oder vielleicht auch einiges, woran sie sich nicht erinnern wollen.«
»Wie zum Beispiel?«
Der Ork, dem offenbar ein wenig unbehaglich war, zuckte die Achseln. »Manchmal hört man Geschichten«, sagte er vage. »Alte Leute reden manchmal... aber dann fragt man nach Einzelheiten, und sie verschließen sich.« Er hielt inne. »Wenn man mit genügend Leuten redet, hört man echt abgefahrenes Zeug. Von Drachen, zum Beispiel. Und gewaltigen Gewittern - unnatürlichen Gewittern -, die von Puowaina heraufgezogen sind. Das ist ein Krater im Norden der Stadt. Und von irren Sachen, die im Haleakala-Vulkan auf Maui abgelaufen sein sollen. Kukae, ein alter Penner, hat mir mal erzählt, er hätte was Großes - was echt Großes - im Wasser vor Pearl Harbor gesehen, direkt neben dem Denkmal für das alte Schlachtschiff Arizona. Er sagte, was es auch war, es wär' größer als das Schlachtschiff gewesen und hätte ihn mit Augen so groß wie Basketbälle angestarrt.« Er zuckte wiederum die Achseln. »Glauben Sie von dem Kanike, soviel sie wollen. Ich kenne die Antworten auch nicht.«
Er faltete seine Serviette und legte sie auf den Tisch. »Und jetzt essen Sie auf und lassen Sie uns abschwirren, Hoa, in Ordnung?«