11
Die nächsten sechs Stunden saß ich abseits in einer Ecke und sah dem Schattenteam - wenn es einen Namen hatte, dann verrieten sie ihn mir (wie vorauszusehen) nicht - zu, wie es seiner Arbeit nachging. Poki, der elfische Decker, hockte die ganze Zeit vor seinen Computern und sang tonlos drei Jahre alten Shag Rock mit, der über eine seiner sekundären Datenbuchsen direkt in sein Hirn gespeist wurde. Die anderen... nun, sie erledigten ›Shadowrunner-Kram‹. Der Ork, den ich vor dem Klo getroffen hatte - er hieß Zack, wie ich mittlerweile erfahren hatte -, war so eine Art Waffenmeister des Teams und schien seine Aufgabe, die tödlich aussehenden Waffen aus dem Arsenal des Teams auseinanderzunehmen und zu reinigen, außerordentlich zu genießen. Eine chinesische Zwergin - ihren Namen habe ich nie erfahren - half ihm von Zeit zu Zeit, um zwischendurch zu Poki zu gehen und seinen Schultern bei der Arbeit eine Tiefenmassage zu verpassen. Moko schlief die meiste Zeit in einer Hängematte, die zwischen zwei Stützpfeilern aufgehängt war. Kat und eine andere Orkfrau - Kat nannte sie Beta - hatten ein paar Taschencompis zusammengeschaltet und schienen Verwaltungsarbeit zu erledigen. (Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, aber ich nehme an, daß sich selbst Schattenteams dieser freudlosen Aufgabe nicht entziehen können.)
Von den sieben Leuten im Einsatzraum hatte nur ich nichts zu tun, wenn man unterstellte, daß Mokos gegenwärtige Beschäftigung darin bestand, dringend erforderlichen Schlaf nachzuholen. Ich kann Wartezeit nicht besonders gut totschlagen, besonders dann nicht, wenn ich mein Leben in die Hände von Leuten lege, die ich im Grunde gar nicht kenne. Die Warterei gab mir ausreichend Gelegenheit, die Dinge zu durchdenken und zu bedeutenden Schlußfolgerungen zu kommen, aber mein Verstand war zu scharfem, analytischem Denken augenblicklich einfach nicht in der Lage. Ich konnte meine Gedanken nicht daran hindern, daß sie sich überschlugen, obwohl sie sich ständig im Kreis drehten und denselben ausgelatschten Pfaden folgten. Ich wünschte, ich hätte schlafen können, aber ich wußte, daß mir dieses Glück nicht beschieden sein würde.
Nach etwa vier Stunden summte der Empfänger in der Kommunikationseinrichtung des Teams. Beta eilte hin und streifte sich ein Kopfset über. Ich sah, wie sich ihre Lippen bewegten, als sie Worte formulierte, aber ich konnte nicht das geringste, weder von der ankommenden noch der ausgehenden Kommunikation hören. Nach einer Minute oder zwei setzte sie das Kopfset ab und ging wieder zu Kat. Beta warf einen Blick in meine Richtung, bevor sie mit Kat sprach, aber ich starrte bereits ins Leere und schenkte den Vorgängen scheinbar nicht die geringste Aufmerksamkeit. Ich hielt den Atem an, lauschte angestrengt und wünschte mir vorübergehend Cyberohren und verstärkte Periphersicht.
»Er ist dran«, hörte ich Beta sagen.
»Neheka?«
Beta schüttelte den Kopf. »Der große Wurm«, korrigierte sie. (Oder jedenfalls glaubte ich, daß sie das sagte. Es hätte auch ›der Bücherwurm‹ oder ›der große Turm‹ oder sogar ›der Hosengurt‹ heißen können, echt...) Was Beta auch gesagt hatte, es reichte, um Kat von ihrer Verwaltungsarbeit loszueisen. Sie eilte zum Kopfset, das wie üblich seinen Job erledigte, so daß ich keine einzige Silbe des Gesprächs verstehen konnte, das länger als fünf Minuten dauerte.
Als Kat fertig war und die Verbindung unterbrochen hatte, begutachtete ich aus dem Augenwinkel ihre Miene und Körpersprache, während sie zurück zum Kartentisch und den zusammengeschalteten Compis ging. Ohne Resultat. Vielleicht haben Hawaiianer auch ihre eigene Körpersprache.
Etwa zwei Stunden nach dem Gespräch mit dem ›Ho-sengurt‹ stieß Poki plötzlich einen beachtlichen Schlachtruf aus. Ich war augenblicklich auf den Beinen und lief zu ihm. Kat kam mir jedoch zuvor - verchippt? fragte ich mich -, und zu ihr sagte der Decker: »Erledigt.«
»Ja?«
Poki bedachte mich angesichts meiner Skepsis mit einem gemeinen Lächeln und sagte: »Hey, Opa, Siebzig-Bit-Codes sind ein alter Hut. Wo warst du in der letzten Zeit?«
Ich schüttelte den Kopf. Gibt es irgendwas, das sich nicht so schnell ändert, daß man nicht mehr Schritt halten kann? Der Elf hatte einen Konzern-Code in weniger als einem Viertel der Zeit geknackt, die ich dafür veranschlagt hatte. Wo soll das noch hinführen, etcetera etce-tera drekcetera. Ich streckte die Hand nach dem Chip aus, aber der Decker zeigte nur auf den hochauflösenden Bildschirm.
Ich warf Kat einen bedeutungsvollen Blick zu, und sie reagierte sofort. »Hast du ein paar Sekunden Zeit, um dir mal den Speicher meines Compis anzusehen, Poki?« fragte sie. »Könnte sein, daß er sich einen Virus eingefangen hat.«
Der Decker sah einen Moment lang hell empört aus, und er öffnete den Mund, um zu maulen. Aber dann sah er den harten Glanz in Kats Augen, schluckte seinen Protest hinunter und nickte. (Ich hatte mir schon gedacht, daß Kat in diesem Laden das Sagen hatte, aber es war nett, eine kleine Bestätigung zu bekommen.)
»Ja, okay«, sagte er, obwohl seine Stimme mir und allen anderen verriet, daß es nicht okay war. Er stand auf, stöpselte sich aus und folgte Kat zum Besprechungstisch ... doch nicht, ohne mir zuvor eine gehörige Portion Stinkeblick zu gönnen. Ich bedachte ihn dafür mit meinem besten ›Hey, ich bin nur ein harmloser Idiot, der wahrscheinlich nicht den gesamten Speicherinhalt deiner Computer löscht‹-Lächeln und setzte mich auf den Stuhl, der gerade frei geworden war.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich aus dem Be-nutzer-Interface des Computers schlau geworden war. (Klar, moderne Systeme folgen angeblich denselben Grundsätzen, aber nur, weil man einen Volkswagen Elektro fahren kann, heißt das noch lange nicht, daß man sich hinter dem Steuer eines fünfhundert Stundenkilometer schnellen Formel-U-Rennwagens sofort heimisch fühlt, richtig?) Als ich glaubte, alles im Griff zu haben, kontrollierte ich zuallererst, wie viele Kopien des Chipinhalts Poki gespeichert hatte. Soweit ich sehen konnte, gab es nur die eine: eine Kopie der Datei im Arbeitsspeicher, deren Inhalt auf dem Schirm angezeigt wurde. Unglücklicherweise war die entscheidende Formulierung »soweit ich sehen konnte«. Wenn ein novaheißer Decker eine Sicherheitskopie vor einem Amateur wie mir verstecken wollte, würde ihm das auch so sicher wie nur was gelingen. Nachdem ich in puncto Sicherheit getan hatte, was ich konnte, las ich die Nachricht auf dem Bildschirm.
Offenbar hatte Barnard nie gelernt, wie man prägnante Briefe schrieb. (Andererseits bedeuten die Pro-Bit-Gebühren für elektronische Nachrichtenübermittlung einem Konzernpinkel natürlich auch nicht ganz so viel.) Die Botschaft von Jacques Barnard für den verstorbenen Ekei Tokudaiji füllte drei Bildschirmseiten. Ich las sie zweimal, Wort für Wort, dann ging ich sie noch einmal im Hinblick auf ihren allgemeinen Inhalt durch.
Wenn man bedachte, was ich dem Text an sinnvoller Bedeutung entnahm, hätte sich Barnard auch auf zwei oder drei Zeilen beschränken können. Hätte man mich gebeten, eine Zusammenfassung des Briefes à la Oberschule zu liefern, wäre etwa Folgendes dabei herausgekommen: »Setzen Sie fort, womit Sie gerade im Hinblick auf das angesprochene Thema beschäftigt sind, und vergessen Sie nicht, daß andere, nicht identifizierte Leute Schritte unternehmen könnten, um sie daran zu hindern. Einen schönen Tag noch.«
Seufz. Damit hätte ich wohl rechnen müssen. Es gibt mehr Möglichkeiten, Bedeutung zu verschleiern, als die Benutzung eines 70-Bit-Codes. Unklare Redewendungen, kryptische Bezugnahmen, die niemandem etwas sagen, außer den beiden Gesprächspartnern, Anspielungen auf so interessante Dinge wie »unser Gespräch vom 18. 12. 55« und »die Angelegenheit, die unserem gemeinsamen Freund solche Sorgen bereitet« ...
Abgesehen von meiner simplen Zusammenfassung konnte ich tatsächlich eine Sache mit einer gewissen Sicherheit aus der Botschaft schließen. Nämlich: Tokudaiji und Barnard waren sich nicht fremd, und ihre Interessen hatten sich in der Vergangenheit mehrfach überschnitten. Das war alles, was ich nach der Lektüre der Nachricht mit Sicherheit wußte.
Natürlich konnte ich eine ganze Reihe von Vermutungen anstellen. Erstens, nach allem, was Te Purewa -›Marky‹ für diese Leute - mir erzählt hatte, schien es einigermaßen logisch zu sein, daß es sich bei »womit Sie gerade beschäftigt sind« darum handelte, die Bevölkerung zu beschwichtigen, wenn Na Kama'aina und ALOHA sie aufzuwiegeln versuchten. Und zweitens...
Zweitens... Was diesen Punkt betraf, war ich absolut nicht sicher, aber ich wurde das Gefühl nicht los, tief im Magen und sehr beunruhigend, daß diese Botschaft kein Schwindel war, den man nur ersonnen hatte, um einen so gut wie toten Kurier beziehungsweise ein Trojanisches Pferd zu beruhigen. Wenn mich jemand aufgefordert hätte, auf den verantwortlichen für Tokudaijis Tod zu wetten, hätte ich noch vor gar nicht allzu langer Zeit einen Haufen Kreds auf einen gewissen Jacques Barnard gesetzt. Und jetzt? Keine Wette, Chummer. Klar, ich bin dafür bekannt, daß ich mich irre, aber ganz tief drinnen, wo sich die Instinkte zu Wort melden, glaubte ich es einfach nicht mehr.
Was, zum Teufel, ging also vor?
Ich vergewisserte mich, daß sich der Chip, den ich Poki gegeben hatte, noch im Chipschlitz des Compis befand, dann kopierte ich den entschlüsselten Text darauf, vergewisserte mich, daß sich der Text jetzt tatsächlich auf dem Chip befand, und löschte die Datei aus dem Speicher. Dann ließ ich den Chip wieder in das Etui gleiten, das ich in meine Jackentasche steckte.
Kat und Poki beobachteten mich, als ich zum Besprechungstisch zurückging. »Danke«, sagte ich mit einem an die Adresse des Deckers gerichteten Nicken. Dann konzentrierte ich meine Aufmerksamkeit auf Kat. »Ich muß zurück in meine Bude in Chinatown.« Natürlich log ich in bezug auf die Lage meines Unterschlupfs und achtete genau darauf, ob das eine Reaktion hervorrief.
Ich sah keine - das heißt, von einem mißbilligenden Stirnrunzeln abgesehen. »Dein Versteck ist nicht sicher«, stellte sie fest. »Die Yaks haben es vielleicht schon entdeckt.« Sie beschrieb eine einladende Geste mit der Hand. »Bleib einfach hier, Hoa, hier bist du geschützt. Was hältst du davon? Wenn du dich aufs Ohr legen willst...«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe Sachen dort, die ich brauche«, log ich treuherzig. »Wenn ich sie nicht bekomme, bin ich tot. Nicht sofort, aber ziemlich bald.«
Sie warf einen Blick auf Moko, der immer noch in seiner Hängematte lag. »Ich kann Moko schicken...«
»Ganz schlecht«, warf ich ein. »Die Sachen sind gesichert. Es sei denn, ich schneide mir den Daumen ab und gebe ihn Moko mit...« Ich zuckte die Achseln und ließ den Gedanken in der Luft hängen.
Kat dachte darüber nach. Die Tatsache, daß sie bei meiner Implikation, ich würde ein Daumenabdruck-Sicherheitssystem benutzen, mit keiner Wimper zuckte, verriet mir etwas mehr über die Hilfsmittel der Gruppe.
»Moko kann mit dir kommen«, schlug sie einen Augenblick später vor.
Ich schüttelte den Kopf. »Das hieße, Ärger geradezu herauszufordern, oder nicht?« stellte ich fest. »Schließlich kann man nicht gerade sagen, daß Moko ein unauffälliger Typ ist.« Daraufhin mußte sie lächeln, und ich wußte, ich hatte gewonnen. »Ich setze mich mit euch in Verbindung, sobald ich meine Sachen habe«, sagte ich zu ihr, um ihr die Niederlage zu versüßen. »Gib mir ein kaltes Relais, unter dem ich euch erreichen kann.«
Kurz darauf nickte sie einmal und leierte ein paar Zahlen herunter, die ich mir merkte. »Mach sein Motorrad fertig«, sagte sie zu Zack. Dann wandte sie sich wieder an mich. »Ich hoffe, du weißt, was du tust, Bruder.«
»Ich auch«, erwiderte ich inbrünstig, und das waren die ersten wahren Worte, die ich in den letzten Minuten von mir gegeben hatte.
Ich mußte fast zehn Minuten lang im Kreis durch Ewa fahren, bevor ich auf einen Orientierungspunkt stieß, den ich kannte. Von dort aus brauchte ich nur noch weitere fünf Minuten bis zu meiner Bude.
Natürlich war ich vorsichtig, als ich hineinging. Ich hielt es nicht für sonderlich wahrscheinlich, daß die Yak-Soldaten meine Bude unter Beobachtimg hatten, aber man vertraut sein Leben nicht blindlings so flüchtigen Dingen wie ›Wahrscheinlichkeiten‹ an. Im Treppenhaus und im Flur hielten sich keine ungewöhnlich aussenden Leute auf, und als ich die Tür zu meinem Zimmer erreichte, waren alle Markierungen, die ich hinterlassen hatte, noch an Ort und Stelle. Zum erstenmal zuversichtlich, daß ich tatsächlich das Richtige tat, ging ich hinein und sperrte die Tür hinter mir ab.
Dann verflüchtigte sich die Zuversicht. Ich wußte, was ich zu tun hatte - oder vielmehr, was ich glaubte, zu tun zu haben -, aber das machte es nicht leichter. Bisher war ich gut damit gefahren, meinen Instinkten zu trauen, aber eines Tages würden sie mich im Stich lassen, endgültig und abrupt. Ich setzte mich vor das Telekom, zog den Manhunter aus dem Hosenbund und legte ihn auf den Tisch neben die Tastatur. Dann starrte ich einfach nur ein paar Minuten lang auf den Schirm.
Hatte ich den Mumm, es zu tun? Hatte ich den Mumm, es nicht zu tun? Drek, ich haßte diese Fragen. Schließlich akzeptierte ich, daß a) ich eigentlich gar keine Wahl hatte, und b) wenn ich alles richtig machte, sich dadurch die Gefahr, in der ich mich befand - ohnehin bereits maximal -, nicht wesentlich erhöhte. Ich seufzte, und dann tippte ich die LTG-Nummer ein, die ich damals in Cheyertne auf meinem Anrufbeantworter vorgefunden hatte.
Ich zuckte und zappelte, während sich das Telekom durch die Zwischenstationen des kalten Relais klickte. Schließlich blinkte das Klingelzeichen auf dem Schirm auf. Etwas verspätet rechnete ich mir aus, wie spät es gerade in Kyoto, Japan, war. Kurz vor Mitternacht, wenn ich nicht irgendwo eine Zeitzone übersehen hatte. Würde sich Mr. Jacques Barnard noch in seinem Büro aufhalten? Ich bezweifelte es. Wenn nicht, würde der Anruf dann weitergeleitet werden, oder würde ich diese hassenswerteste aller Stimmen hören, diejenige, die sagt: »Bitte hinterlassen Sie Ihre Nachricht nach dem Signalton«?
Das Klingelzeichen erstarb, aber der Schirm blieb leer. Dann hörte ich das elektronische Klicken eines weiteren Relais. Nach einigen Sekunden nahm ein Bild auf dem Schirm Gestalt an, und ich starrte in das Gesicht von Jacques Barnard.
Er war wohl zu Hause. Hinter ihm, ein wenig unscharf, war eine nächtliche Stadtlandschaft zu sehen, und zwar aus beachtlicher Höhe - wie zum Beispiel vom Penthouse eines Wolkenkratzers in der Innenstadt. Er war wach und aufmerksam, aber er sah geistig erschöpft aus. Als ich ihn aus Cheyertne angerufen hatte, schien er in vier Jahren um eine Dekade gealtert zu sein. Jetzt kamen weitere fünf Jahre hinzu. Er lehnte sich zurück, wischte sich ein imaginäres Staubkorn von der Manschette seiner kastanienfarbenen, samtenen Smokingjacke - eine verdammte Smokingjacke - und bedachte mich mit einem Lächeln, das mich an Haie und Barrakudas erinnerte.
»Mr. Montgomery«, sagte er. »Ich freue mich, daß Sie es für richtig befunden haben, Kontakt mit mir aufzunehmen. Würden Sie mir bitte einen großen Gefallen tun und mir sagen, was, zum Teufel, eigentlich los ist?«
Innerlich zuckte ich angesichts der Wildheit seiner Worte zurück. Ich hatte noch nie erlebt, daß Barnard die Beherrschimg verloren hatte, und hätte nie gedacht, daß ich es je erleben würde. Ich wünschte, das Vergnügen wäre mir erspart geblieben. »Tokudaiji ist tot«, sagte ich zu ihm.
»Das habe ich mitbekommen«, sagte er kalt. »Ich gehe davon aus, daß Sie nicht dafür verantwortlich sind...«
»Das sehen Sie ganz richtig«, sagte ich inbrünstig. Dann fuhr ich fort, indem ich ihm kurze Zusammenfassung dessen gab, was vorgefallen war. Er unterbrach mich nicht und stellte auch keine Fragen, aber ich sah ihm an, daß es hinter seinen Augen mit 1000 Umdrehungen pro Minute arbeitete. »Ich dachte, Scott gehörte zu Ihrer Mannschaft«, beendete ich meinen Bericht.
»Eine vernünftige Annahme«, bestätigte er zögernd, »zumal ich von derselben ausgegangen bin.« Er hielt inne. »Wie ist der... der Tenor auf den Inseln in dieser Angelegenheit?«
»Ich weiß es nicht direkt«, sagte ich, »aber ich kann mir zusammenreimen, wie sich die Dinge entwickeln. Sie haben Tokudaiji benutzt, um ALOHAs ›Konzerne raus‹-Rhetorik zu kontern, nicht wahr? Wenn sich herumspricht, daß er von einem Konzernkiller umgelegt wurde« - ich hob die Hand, um dem unvermeidlichen Widerspruch zuvorzukommen - »ich weiß, Sie sagen, Scott hat nicht auf Yamatetsus Anweisung gehandelt, aber wer wird das glauben?«
»Sogar Sie hatten einige Schwierigkeiten, es zu glauben«, warf er beißend ein.
Das brauchte ich nicht zu bejahen. Er konnte es mir zweifellos ansehen. »Jedenfalls«, fuhr ich verbissen fort, »werden die Hitzköpfe der ALOHA alle Möglichkeiten ausreizen, die sich ihr dadurch bieten. ›Konzerne beseitigen Beschützer des einfachen Volkes‹ und den ganzen Drek. Sie haben die Leute hinter sich und werden Ihnen ernstlichen Kummer bereiten können.«
»Sie wären außergewöhnlich dumm, wenn sie es versuchten«, sagte Barnard entschieden. »Es gibt Personen innerhalb der Konzernsphäre, die weniger... zurückhaltend sind als ich. Und viele von ihnen haben gute Verbindungen zum Zürich-Orbital und dem Konzern-Ge-richtshof.« Er hielt inne. »Dennoch stimme ich mit Ihrer Analyse überein.«
»Tja, da wird mir ganz warm ums Herz«, sagte ich sarkastisch. »Holen Sie mich schleunigst hier raus, Barnard. Sofort. Hawai'i wird mir langsam zu heiß, wenn Sie mir das Wortspiel verzeihen.«
Barnard lächelte, aber seine Miene verriet keinen echten Humor. »Ich fürchte, das ist augenblicklich nicht möglich«, sagte er kategorisch. »Vielleicht in ein oder zwei Wochen...«
»Ich bin schon in ein oder zwei Tagen tot.«
»Nicht, wenn Sie die Fähigkeiten einsetzen, die mich bei unserer ersten Begegnung so beeindruckt haben«, stellte er fest. Normalerweise bin ich ebenso empfänglich für Schmeicheleien wie jeder andere, aber diese traf mich eher wie ein Schlag ins Gesicht. Aber ich behielt meine Reaktionen unter Kontrolle. »Es gibt noch eine weitere unbedeutende Angelegenheit, bei der ich Ihre Hilfe zu schätzen wüßte«, fuhr er fort.
»Eine weitere ...?« lachte ich laut auf. »Scheren Sie sich zum Teufel, Barnard, und zwar mit samt dem Besen, auf dem sie hereingeritten sind. Ihre letzte ›unbedeutende Angelegenheit reicht schon aus, um mich zu geeken.«
»Ich verstehe Ihre Animosität«, sagte Barnard einsichtig. »Ich könnte Ihnen versichern, daß ich weder den Wunsch noch die geringste Ahnung hatte, daß sich die Dinge so entwickeln würden... aber natürlich würden Sie mir nicht glauben.« Er hielt inne.
»Mr. Montgomery«, fuhr er fort, indem er sich ein wenig vorbeugte, »es ist außergewöhnlich wichtig, daß wir uns einigen. Hier stehen wichtigere Dinge auf dem Spiel als der Tod eines Oyabun... und mit Sicherheit wichtigere als das Schicksal eines ehemaligen Shadow-runners aus der Sioux Nation.« Sein Mund verzog sich zu einem ironischen Lächeln. »Wichtigere als der Vizepräsident eines Megakonzerns, wenn wir schon dabei sind.
Sie müssen noch einen Kontakt herstellen, Mr. Montgomery.«
»Auf keinen Fall«, antwortete ich. »Nicht nach dem letzten. Drek, soll ich zum Beispiel mit dem Gebietsleiter von Renraku ›Kontakt aufnehmen‹ zusehen, wie er umgelegt wird, und dann den Rest meines kurzen Lebens damit verbringen, auch noch vor den Roten Samurai wegzulaufen? Keine Chance.«
»Das ist bedauerlich«, sagte er traurig. »Wirklich bedauerlich. Wenn das Ihr letztes Wort ist...«
»Das ist es.«
»...Dann ist Ihr Tod unvermeidlich. Gefolgt vom Tod anderer - vielleicht vieler anderer. Aber...«
Er ließ den Gedanken in der Luft hängen wie einen Köder vor der Nase eines Fisches. Ich haßte mich dafür, aber ich wollte dieses ›aber‹ hören.
»Aber«, fuhr Barnard zögernd fort, »falls Sie mir in dieser Angelegenheit helfen, wären Sie in der Lage, den Aufruhr zu besänftigen, den all das verursacht hat. Sie würden das Leben unzähliger anderer retten. Und nebenbei stünden Sie unter dem Schutz jener, die herauszufordern sich selbst die Yakuza-Soldaten zweimal überlegen würden. Sobald sich die Lage beruhigt hat, ist es kein Problem - absolut kein Problem -, sie von den Inseln zu ... evakuieren und zu einem Ort Ihrer Wahl zu bringen. Und das, wie ich hinzufügen möchte, mit der Dankbarkeit Yamatetsus, die sich in finanzieller und anderer Hinsicht äußern würde.«
Drek, ich wußte, ich hing am Haken, und wußte, daß Barnard es wußte. Eigentlich blieb mir keine Wahl, oder? »Stirb sofort, oder komm vielleicht mit heiler Haut aus der Sache heraus.« Alles in allem irgendwie keine so schwierige Entscheidung, neh?
Ich seufzte resigniert. »Mit wem soll ich Kontakt aufnehmen?«
»Mit einem Herrn namens Gordon Ho.«
Das mußte ich erst einmal verarbeiten. »Mit Gordon Ho? Mit König Kamehameha, dem Fünften? Dem verdammten Ali'i? Was, zum Teufel, fällt ihnen ein? Jesus!«
Barnard beobachtete mich gelassen, während ich mich langsam wieder beruhigte. »Genau den meine ich.«
»Warum verlangen Sie nicht einfach von mir, daß ich Dunkelzahn eine verdammte Pizza oder was bringe?«
»Ich verstehe Ihre Reaktion«, sagte Barnard gelassen, »aber Sie müssen auch die Bedeutung von alledem verstehen. Es ist wichtig - ungeheuer wichtig -, dem Ali'i zu versichern, daß die Konzerne mit dem Attentat auf Ekei Tokudaiji nichts zu tun haben. Was der Wahrheit entspricht.«
»Rufen Sie ihn doch einfach an, um Himmels willen.«
»Unmöglich«, konterte Barnard. Seine Stimme war völlig ruhig und kontrolliert, und in diesem Augenblick haßte ich ihn dafür.
»Warum? Drek, Barnard, Sie sind Yamatetsu, bei allen Geistern. Wie viele Komm-Satelliten besitzt Yamatetsu? Schicken Sie ihm eine verschlüsselte Nachricht...«
Er unterbrach mich wiederum. »Unmöglich«, wiederholte er. »Tatsächlich sogar aus mehreren Gründen. Der erste ist der, daß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Treffen von Angesicht zu Angesicht erforderlich sein wird, um seine Zweifel zu beseitigen.«
»Dann treffen Sie sich doch mit ihm!«
Barnard kicherte. »Ich wünschte, ich könnte, wirklich. Ich bin Gordon Ho schon mehrfach begegnet - er und mein Sohn sind gemeinsam auf die Universität gegangen -, und ich würde es begrüßen, wenn ich die Möglichkeit hätte, mich wieder einmal mit ihm zu unterhalten.« Das mußte ich erst einmal verdauen. Ich hatte nicht einmal gewußt, daß Barnard einen Sohn hatte, konnte mir nicht vorstellen, daß er etwas so Normales tat, wie Kinder in die Welt zu setzen. »Aber leider ist die politische Situation augenblicklich so, daß sich ein hochrangiger Konzern-Exec keinen Besuch beim Ali'i des Königreichs von Hawai'i leisten kann. Was wissen Sie über die politische Situation auf den Inseln?«
»Ich hatte andere Dinge im Kopf, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist«, stellte ich trocken fest.
Der Pinkel kicherte erneut. »Vermutlich.« Er hielt kurz inne. »Aber Sie wissen, wie Gordon Hos Vater - Dan-forth Ho, König Kamehameha IV. - den Thron bestiegen hat?«
Ich glaubte zu wissen, worauf er hinaus wollte. »Unter anderem durch Abmachungen mit den Mega-konzernen.«
»Korrekt. Viele von Danforths Ratgebern sprachen sich gegen Abmachungen mit den... den Konzern-Teufeln aus. Anfangs waren sie völlig außer sich, als Ho die Abmachungen traf. Und sie waren geradezu aus dem Häuschen, als er nach der Abspaltung zu diesen Abmachungen stand.
Haben Sie von der Na Kama'aina gehört?«
»Natürlich. Ich bin noch nicht völlig hirntot.«
»Das habe ich auch nie geglaubt«, sagte Barnard schmeichlerisch. »Dann werden Sie auch wissen, daß es immer noch eine große und auch mächtige Na Kama'aina-Fraktion in der Regierung gibt.«
Ich nickte. Das stimmte mit den Daten überein, die ich mir während des Herflugs im Suborbitalflugzeug angesehen hatte.
»Der Ali'i muß wirtschaftliche Realitäten mit populären Standpunkten vereinbaren«, fuhr Barnard glatt fort. »Er darf nicht als den Konzerninteressen nahestehend wahrgenommen werden und muß trotzdem den Status quo aufrechterhalten. Können Sie sich vorstellen, wie die Na Kama'aina-Opposition ein privates Treffen -und es würde privat sein müssen - zwischen König Ka-mehameha V. und dem hochrangigen Vertreter eines Megakonzerns mit ausgedehnten finanziellen Interessen auf den Inseln ausschlachten würde?«
Okay, ich konnte es mir vorstellen. Es gefiel mir nicht - ich knirschte mit den Zähnen, so wenig gefiel es mir -, aber ich konnte es mir vorstellen. Ich versuchte es mit einem letzten Einwand. »Aber er ist doch der verdammte König, oder nicht? Er kann tun, was er verdammt noch mal will.«
»Er ist der König«, stimmte Barnard zu, »aber in einer konstitutionellen Monarchie mit einer gewählten Legislative.«
Der Punkt ging an ihn. Jeder, der in der Schule gewesen ist, weiß, was mit einer konstitutionellen Monarchie passiert, wenn das Parlament die Nase voll hat. Fragen Sie nur die Windsors, ehemals die Königliche Familie des Vereinigten Königreichs. Barnard hatte eine Schlacht gewonnen, aber ich war nicht bereit, den ganzen Krieg verloren zu geben. »Dann schicken Sie ihm eine Nachricht«, versuchte ich es noch einmal.
Er lachte. »Glauben Sie wirklich, daß elektronische Kommunikationsverbindungen, und seien es auch die eines Königs, abhörsicher sind? Es besteht die Möglichkeit - nein, eigentlich die Gewißheit -, daß die Na Kma'aina-Fraktion der Regierung die gesamte Kommunikation des Ali'i überwacht und aufzeichnet. In welcher Beziehung würde sich eine angeblich geheime Botschaft vom Exec eines Megakonzerns von einem Privatbesuch unterscheiden?
Nein, Mr. Montgomery, noch einmal, die Botschaft muß persönlich abgeliefert werden, und zwar von jemandem, den ich verleugnen kann.«
Da war es schon wieder. Was, zum Teufel, hatte ich nur an mir? Stand mir ein Spruch - »Hi! Mich kann man verleugnen. Macht mich fertig« - in einer Leuchtschrift auf der Stirn, die nur Konzern-Pinkel lesen konnten? »Falls ich es tue - ich sage nicht, daß ich es tue, aber falls -, wie, zum Teufel, soll ich vorgehen?« wollte ich wissen. »Soll ich einfach zum Palast gehen und sagen: ›Ich habe eine Geheimbotschaft für König Kam. Ach ja, und erzählt es keinem. ‹ Na klar. Ich brauche eine Art Eintrittskarte.«
»Die kann ich Ihnen nicht geben«, antwortete Barnard sofort. »Aus den bereits genannten und auch noch anderen Gründen.« Er lächelte in dem Wissen, daß er gewonnen hatte. »Jemand mit Ihren Talenten sollte keine Schwierigkeiten haben, eine Privataudienz zu arrangieren.«
Ja, klar. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie nichts tun können, um mir zu helfen?«
»Nichts, worauf Sie sich so sehr verlassen sollten, daß Sie andere Möglichkeiten außer acht lassen können«, korrigierte er rasch. »Durch verschiedene andere Quellen werde ich den Ali'i wissen lassen, daß er den Besuch eines gewissen Dirk Montgomery erwarten soll und es ihn vermutlich interessieren wird, was er zu sagen hat.« Er zuckte die Achseln - ein wenig entschuldigend, fand ich. »Aus offensichtlichen Gründen dürfen diese Botschaften nicht zu... auffällig sein, falls Sie verstehen, was ich meine. Aber sie könnten Ihnen den Weg ebnen.«
»Also das ist es? Ich soll zum verdammten König gehen und ihm sagen, ›Hey, Bruder, Yamatetsu hat den Yak nicht umgelegt, auf Ehre und Gewissen.‹...?«
»Ohne den Sarkasmus... ja.«
Ich schüttelte den Kopf. Es wurde immer besser. Oh, Junge. »Ich denke darüber nach.«
»Denken Sie nicht zu lange nach«, warnte er mich. »Es gibt verschiedene Fraktionen, die Sie tot sehen wollen. Zum einen natürlich die Yakuza, zum anderen die tatsächlichen Mörder Tokudaiji-sans.«
»Und die wären...?«
Barnard blinzelte. »ALOHA. Ich dachte, das wäre offensichtlich. Sie würden gerne dafür sorgen, daß Sie nicht mehr bezeugen können, daß es kein von Konzernen initiiertes Attentat war.«
Diese Möglichkeit hatte ich noch nicht vollständig durchdacht, aber, zum Teufel, sie klang auf eine häßliche Art und Weise logisch.
»Denken Sie schnell«, betonte der Exec noch einmal, »und handeln Sie. Es ist nicht nötig, deswegen noch einmal Kontakt mit mir aufzunehmen. Ich werde durch andere Kanäle entweder von Ihrem Erfolg oder von ihrem bedauerlichen Ableben erfahren.«
»Sie haben eine nette Art, mit Worten umzugehen, hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?« Ich knirschte so heftig mit den Zähnen, daß ich damit rechnete, der Zahnschmelz würde absplittern.
»Haben Sie noch Fragen, Mr. Montgomery?«
Ich erwog eine Klugscheißer-Antwort, entschied mich jedoch dagegen. »Nur eine«, sagte ich nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Nicht zur Sache gehörig, nehme ich an, aber ich bin neugierig. Sie sagten, Sharon Young erledige einen Job für Sie in Cheyenne, der mit diesem Drek in Verbindung stünde. Wie?«
Er lächelte schwach. »Ich habe mich schon gefragt, wann Sie darauf zu sprechen kommen würden. Die Person, die ich Ms. Young nachzuspüren auftrug - Jonathan Bridge, falls Sie sich noch erinnern -, hat Verbindungen zu den Inseln. Tatsächlich ist er unter dem Namen ›Kane‹« - er sprach es CAH-nay aus - »einer der höher-stehenden menschlichen und metamenschlichen Anführer ALOHAs.«
Ich blinzelte überrascht. »Augenblick mal«, sagte ich. »›Einer der höherstehenden menschlichen und metamenschlichen Anführer? Was, zum Henker, soll das jetzt wieder bedeuten?«
»Der wirkliche Anführer ALOHAs ist eine gefiederte Schlange«, sagte er zu mir. »Ein Vasall des Großdrachen Ryumyo, wenn sich mein Geheimdienst nicht irrt.«
»Also wird die Gruppe, die Ihnen Kummer bereiten will, von einem verdammten Drachen geführt?« Ich schüttelte den Kopf. »Erinnern Sie mich doch bitte, nicht mehr in Ihrem Hinterhof herumzuhängen, Barnard. Ich mag Ihre Spielgefährten nicht.«
Der Pinkel kicherte wieder. Dann wurde sein Gesicht todernst, und etwas Kaltes und Häßliches krampfte sich um meinen Magen. »Da ist noch eine Sache, die ich Ihnen erzählen sollte, Mr. Montgomery«, sagte er ruhig. »Hinter dieser Angelegenheit steckt mehr, als Sie begreifen können... oder, um aufrichtig zu sein, mehr, als ich begreifen kann. Es hat den Anschein, als seien einige... ehemalige Bekannte von Ihnen in die Sache verwickelt.«
»Was soll das jetzt wieder heißen?«
»Ich gehe davon aus, daß diese Leitung nicht sicher ist.« Er formulierte es nicht als Frage. »Dann kann ich Ihnen nur sagen, daß es den Anschein hat, als habe Adrian Skyhill einiges Interesse am Ausgang dieser Angelegenheit.
Guten Tag, Mr. Montgomery.« Und der Bildschirm wurde schwarz.