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Die Lage hatte sich noch verschlimmert, entdeckte ich, als ich beim Frühstück auf meinem Zimmer Tri-deo sah. Sicherheitstruppen von Monobe hatten die Bombenleger aufgespürt - oder jedenfalls einige bequeme ›Verdächtige‹ - und sich mit ihnen in den Straßen von Aiea eine rasende Verfolgungsjagd geliefert. Alle Verdächtigen waren erschossen worden, als sie versucht hatten, sich der Verhaftimg zu widersetzen (na, klar). Was schlimmer war, alles in allem, war die Gesamtzahl der Todesopfer: vier Verdächtige getötet, zwei Unbeteiligte gegeekt, als ein MPUV ›Hummer‹ von Monobe in ihren Wagen gerast war, ein weiterer Unbeteiligter von verirrten Schüssen schwer getroffen - Zustand kritisch, Prognose miserabel -, plus vier weitere Zivilisten mehr oder weniger schwer verletzt. Teufel noch mal, wenn die Konzerne beschlossen hatten, sich besonders ins Zeug zu legen, um die Bevölkerung gegen sich aufzuwiegeln, konnte ich mir nicht viele effektivere Möglichkeiten vorstellen, die Sache anzugehen.
Außerdem brachten die Nachrichten Bilder von mehreren ziemlich üblen Demonstrationen gegen den Ali'i -eine direkt vor dem Iolani-Palast. Unter den Demonstranten mußte sich auch ein Magier oder Schamane befinden, weil die Statue von König Kamehameha dem Großen magisch verändert worden war, so daß ihre hervorstechendsten Merkmale jetzt hervorquellende Augen, eine heraushängende Zunge und ein Strick um den Hals waren. Nett.
Aus meiner Zeit bei Lone Star kenne ich mich mit Demonstrationen einigermaßen aus. Wie übel sie auch aussehen mögen, ihre tatsächliche Bedeutung hängt davon ab, wer daran beteiligt ist. Der durchschnittliche ›Mann von der Straße‹, der wirklich glaubt, was abgeht? Beunruhigend, Chummer. Professionelle agents provocateurs -der ›Mietmob‹? Weit weniger beunruhigend... obwohl man auch so eine Demonstration nicht einfach ignorieren konnte. Was war es in diesem Fall? Ich wußte es nicht.
Als die Trideokamera wieder auf das magisch veränderte Gesicht Kamehamehas des Großen schwenkte, kam mir ein neuer Gedanke. Wußte Gordon Ho, was vorging? Ich meine nicht die Bomben und die Proteste und den Drek - natürlich würde er davon Kenntnis haben. Aber vielleicht wußte er nicht, daß irgend jemand - wahrscheinlich Harlech - meine Verbindung zum Ali'i ausposaunt hatte. Ich hatte ihm versprochen, ihm alles zu erzählen, was ich von Barnard über die Situation erfuhr, nicht wahr?
Und außerdem hatte ich den unangenehmen Verdacht, daß die Dinge um mich herum auseinanderbrachen, was in mir das starke Verlangen weckte, mit jemandem - irgend jemandem - darüber zu reden. Ho war nur zufällig derjenige, der am nächsten lag und daher am bequemsten war. Ich zückte die Visitenkarte, die der Ali'i mir gegeben hatte, ging zum Telekom und tippte die Nummer ein.
Ich wartete die üblichen Verzögerungen und das Gei-ster-Klicken ab. Mittlerweile hatte ich mich an kalte Relais gewöhnt. Schließlich blinkte das Klingelzeichen auf dem Schirm auf. Ein paar Sekunden später wies ein letztes Klicken darauf hin, daß die Verbindung hergestellt war.
»Ia wai?« Der Schirm blieb leer.
Ich zögerte. Die Stimme klang nicht wie die von Gordon Ho... oder war ich nur paranoid? »Ich will mit dem Ali'i sprechen«, sagte ich.
»Ka?« fragte die Stimme. Jetzt war ich sicher - es war nicht König Kamehameha V. »Wer ist da?«
Ich gab mir alle Mühe, eine ausdruckslose Miene zu bewahren, wobei ich mich im stillen dafür verfluchte, vor dem Anruf nicht die Videokamera ausgeschaltet zu haben. »Die Tatsache, daß ich diese Nummer kenne, bedeutet, daß ich Ihnen das nicht zu sagen brauche«, sagte ich kalt, indem ich den harten Konzernmann spielte. »Geben Sie mir den Ali'i. Sofort.«
»Ich fürchte, das ist unmöglich«, sagte die Stimme, meinen Tonfall Eiszapfen für Eiszapfen kopierend. »Der Ali'i ist im Augenblick indisponiert. Hinterlassen Sie Ihren Namen und entsprechende Kontaktinformationen, darin gebe ich alles an ihn weiter.«
Ich legte auf. Mit einem Seufzer lehnte ich mich in den Sessel zurück.
Zum Teufel damit, aber irgendwas konnte da nicht stimmen. Ho hatte gesagt, die Nummer auf der Visitenkarte würde zu ihm persönlich durchgestellt, wo er sich auch gerade befinden mochte. Wenn er aus irgendeinem Grund nicht antworten konnte - wenn er zum Beispiel ›indisponiert‹ war -, würde niemand anders abheben. Offenbar hatten sich die Regeln geändert. Vielleicht war ›in-disponiert‹ nur eine höfliche Umschreibung für ›abgesetzt‹. War Gordon Ho noch Ali'i des Königreichs Hawai'i?
Ich drehte mich um und starrte aus dem Fenster. Seit diese Sache begonnen hatte, kam ich mir vor wie eine Ratte in der Falle. Jetzt schien die Falle zu schrumpfen. Langsam gingen mir die Möglichkeiten und Alternativen aus. Eine Weile hatte ich mich von dem Gedanken zum Narren halten lassen, ich hätte einen mächtigen Schutzherrn in Gestalt des Ali'i. Nicht mehr, Chummer. Nach allem, was ich wußte, baumelte Gordon Ho vielleicht schon am Ende eines Strickes, und die Augen quollen ihm hervor und die Zunge hing ihm heraus wie bei der magisch veränderten Statue. Und selbst wenn das nicht der Fall war, standen die Wetten ziemlich gut, daß ihm wichtigere Dinge im Kopf herumgingen als die Leiden eines gewissen Dirk Montgomery.
Und Barnard? Drek, ich hatte ihn bereits nach Kräften bekniet, und er hatte beschlossen, mich als Gegenge-wicht für seine anderen Informanten ›im Lande‹ zu lassen. Wie konnte ich ihn davon überzeugen, mich rauszuholen? Durch Schluchzen und Jammern?
Vielleicht stellte ALOHA ein. Ich fragte mich, was wohl der derzeit gültige Tarif für ausgebrannte Haole-Runner war...
Das Telekom klingelte, und ich wäre fast rückwärts aus dem Sessel gekippt. Ich funkelte das Zeichen in der unteren Schirmecke, das besagte, daß ein Anruf kam, haßerfüllt an.
Wer hatte diese LTG-Nummer? Offensichtlich Monot und alle anderen, denen sie die Nummer bei TIC gegeben hatte. Und das waren auch schon alle... oder?
Ein wenig ängstlich drückte ich auf eine Taste, um den Anruf entgegenzunehmen, aber erst, nachdem ich die Videokamera ausgeschaltet hatte. »Ja?«
Der Schirm füllte sich mit einem Bild von Gordon Hos starken Gesichtszügen. »Mr. Montgomery?«
Ich schaltete eiligst die Kamera wieder ein. »Ich bin es«, sagte ich unnötigerweise. »Wo, zum Teufel, stecken Sie?« Und dann kam mir ein häßlicher Gedanke. »Und wie, zum Teufel, sind Sie an diese Nummer gekommen?«
Der Ali'i von Hawai'i bedachte mich mit einem müden Lächeln. Zum erstenmal fielen mir die Ringe unter seinen Augen und die Linien der Erschöpfung in seinem Gesicht auf. »Was Ihre zweite Frage betrifft, Mr. Montgomery, so habe ich Ihnen, glaube ich, schon einmal gesagt, daß mir einige Mitglieder meines Geheimdienstes noch treu ergeben sind. Glücklicherweise scheint sich daran nichts geändert zu haben. Was Ihre erste Frage betrifft, so würde ich lieber nicht darüber reden, und zwar aus Gründen, die offensichtlich sein dürften.«
»Was, zum Teufel, ist los, e Kuw'u lani?« fragte ich.
Sein müdes Lächeln wurde traurig. »Diese Anredeform ist nicht mehr angemessen, Mr. Montgomery.«
Ich nickte. »Eine Palastrevolte?«
»Mehr oder weniger. Der Thron ist von einem entfernten Cousin von mir bestiegen worden - natürlich ziehe ich die Formulierung ›usurpiert worden‹ vor -, der offenbar von gewissen Fraktionen innerhalb des Abgeordnetenhauses von langer Hand für diese Aufgabe aufgebaut worden ist.«
»Als Sprachrohr für die Na Kama'aina«, übersetzte ich.
»Natürlich.«
»Und was ist mit Ihnen?« fragte ich.
»Ich bin des Hochverrats angeklagt, was sonst? Wie hätte die Na Kama'aina sonst vorgehen sollen?« Er zuckte seine muskulösen Schultern. »Ich habe den Palast verlassen, kurz bevor der Befehl erging, mich zu verhaften.«
Ich schüttelte den Kopf. Die Dinge brachen auseinander. Das Zentrum gab nach und der ganze Drek. »Sie haben einige Leute bei sich?«
»Einige«, bestätigte er. »Vertrauenswürdige Freunde.«
»Und einen sicheren Aufenthaltsort?«
»Für den Augenblick, ja.«
Ich rieb mir die Augen, die sich plötzlich sehr müde anfühlten. »Und was geschieht jetzt?«
Der ehemalige Ali'i lächelte. »Ich glaube, darüber möchte ich im Moment lieber nicht reden, Mr. Montgo-mery«, sagte er ruhig. »Schließlich haben meine Leute diese Leitung kompromittiert...« Er brauchte den Gedanken nicht zu Ende zu führen.
Ich seufzte. »Ja.« Was gab es sonst noch zu sagen? Die Dinge waren längst über meine Fähigkeit, sie zu beeinflussen, hinausgediehen - jedenfalls empfand ich es so. Ich trieb ohne Kompaß und ohne Ruder auf einem dunklen, leeren Ozean. »Tja«, sagte ich zu dem Ex-Ali'i, »wenn ich irgend etwas tun kann...«
Er unterbrach mich sanft. »Deswegen habe ich Sie nicht angerufen, Mr. Montgomery.«
Ich blinzelte. »Oh.«
»Ich bin gebeten worden, Ihnen etwas auszurichten.«
»Von wem?« Plötzlich verwandelte sich trostloser Fatalismus in paranoide Zwangsvorstellungen.
»Von jemandem, der behauptet, Sie zu kennen.« Hos Stimme und Körpersprache verrieten nichts, auch wenn ich ihn noch so durchdringend anstarrte. »Von jemandem, der sich mit Ihnen treffen will. Natürlich liegt es an Ihnen, ob Sie einem Treffen zustimmen oder nicht.«
Herzlichen Dank zumindest dafür, dachte ich. »Wer ist es?« fragte ich noch einmal.
»Eigentlich sind es zwei Personen«, erwiderte Ho zögernd. »Das hat man mir zumindest gesagt. Anscheinend würden Sie insbesondere mit einer dieser beiden reden wollen.«
»Warum? Und wer, zum Teufel, sind sie?«
Ho schien meine Fragen nicht gehört zu haben. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen dabei helfen, das Treffen zu arrangieren, Mr. Montgomery«, fuhr er fort. »Ein paar von meinen Leuten können die... die Parteien ... zu jedem Treffpunkt begleiten, den Sie angeben, und garantieren, daß nichts Unerwartetes geschieht.«
»Ja, sicher, danke«, sagte ich abwesend. »Aber wer, zum Teufel, sind sie, hm?«
Er wirkte ein wenig unbehaglich. »Ich nehme an, daß Ihnen das etwas sagt. Mir sagt es jedenfalls nichts. Man hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, daß Sie eine Botschaft von ›Freunden Adrian Skyhills‹ erwartet.«
Ach, einfach Sahne. Die verdammten Wanzen. Wunderbar, entzückend, welche Freude.
Natürlich stimmte ich dem Treffen zu. Drek, was sollte ich sonst tun? Schiere idiotische Neugier reichte als Motiv. Nach den Pogromen und all dem Drek, nach der Übernahme Chicagos durch die Insekten, nach der Enthüllung, daß Insektengeister und ihre Schamanen gleich nach dem Antichrist kamen... mußte da ein Wanzenschamane nicht einen verdammt guten Grund haben, seine kostbare, eklige kleine Haut zu riskieren, indem er ein Treffen mit mir arrangierte? (Neugier ist doch etwas Wunderbares, neh? Denken Sie nur an all die segensreichen Dinge, die die Menschheit der Neugier zu verdanken hat - Atomwaffen, Biowaffen, Trideo-Sit-coms...)
Als meine Entscheidung feststand, war es das Einfachste von der Welt, Gordon Hos Hilfsangebot anzunehmen. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, daß sich ein Wanzenschamane derartiger Mühen unterzog, nur um eine Null wie mich zu geeken, aber ich dachte mir, daß es auf keinen Fall schaden konnte, ein paar harte Typen dabei zu haben. (Und sei es aus keinem anderen Grund als dem, mich davon abzuhalten, ihn zu geeken. Ich war der Ansicht, daß ich den ›Freunden Adrian Skyhills‹ immer noch etwas dafür schuldete, was mit meiner Schwester Theresa geschehen war.) Und bei genauerem Nachdenken würde körperlicher Schutz nicht reichen, oder? Ich brauchte jemanden, der auch das astrale Ding beherrschte - vorzugsweise einen Schamanen und keinen Magier, ausgehend von der Annahme, daß sich gleich und gleich versteht. Ein Schamane auf meiner Seite war vielleicht in der Lage, jede beabsichtigte Gemeinheit, die der Wanzen-Bubi im Schilde führte, rechtzeitig zu erkennen und im Keim zu ersticken.
Also bat ich Ho um einen Schamanen und drei kräftige Leibwächter. Zwei von den Muskelmännern wollte ich schon vor dem Treffen bei mir haben. Der Schamane und die dritte Messerklaue konnten den oder die Wan-zen-Bubis abholen und ihn/sie zum Treffpunkt begleiten. Ho war sofort einverstanden. Ich glaube, daß er fast ebenso neugierig war wie ich und von seinen Leuten erwartete, daß sie ihm hinterher einen vollständigen Bericht lieferten.
Was den Treffpunkt anbelangte, nun, warum nicht gleich hier auf Zimmer 1905 im New Foster Tower? Ich stellte rasch eine Kosten-Nutzen-Analyse hinsichtlich der Sicherheit an, und alles in allem schien das Risiko geringer zu sein, wenn ich blieb, wo ich war, und jeden unnötigen Aufenthalt auf den Straßen vor, während und nach dem Treffen vermied. Falls nötig, konnte ich hinterher aus dem Hotel ausziehen und mir eine andere Bleibe suchen. Von mir aus eine verdammte Gasse, wenn sich nichts anderes anbot.
Also wurde es so vereinbart. Das Treffen wurde auf achtzehn Uhr angesetzt. Eine Messerklaue und ein Schamane, beide von Ho gestellt, würden meine Gäste um diese Uhrzeit zu Zimmer 1905 führen. Zwei Stunden vor der vereinbarten Zeit würden die beiden anderen Messerklauen an meine Tür klopfen.
Meine Paranoia machte Überstunden, also sah ich durch den Spion in der Tür, bevor ich das Magnetschloß öffnete. Durch die verzerrende Linse betrachtet, konnte ich mir mühelos einbilden, daß ich die beiden Messerklauen schon einmal gesehen hatte. Zwar variieren Gesichtszüge und andere oberflächliche Einzelheiten, aber ich war immer der Ansicht, daß allen wirklich guten Leibwächtern eine gewisse Ähnlichkeit zugrunde liegt. Vielleicht ist es der Grad des Selbstvertrauens oder der Glaube an ihre Fähigkeiten. Oder vielleicht ist es auch die Erkenntnis, daß ihr Job von ihnen verlangen könnte, daß sie jederzeit töteten oder starben. Wie auch immer, ich habe immer ein unterschwellig unangenehmes Gefühl in Gegenwart solcher Leute. Natürlich war dies kein gesellschaftlicher Anlaß, und ich war froh, daß dieses Paar kompetent aussah.
Die größere der beiden Gestalten hielt etwas vor den Spion - ein Duplikat des Sheriff-Abzeichens, das ich immer noch in der Tasche hatte. Ich entriegelte die Tür und öffnete sie.
Die beiden Muskelmänner nahmen nicht einmal meine Anwesenheit zur Kenntnis. Lautlos wie Gespenster schienen sie sich in ihren dunklen Anzügen an mir vorbeizuteleportieren. Der kleinere der beiden - mit leichtem Schock registrierte ich, daß es sich um eine Frau handelte - schloß und verriegelte die Tür, während ihr größerer Begleiter einfach nur in der Mitte des Zimmers stand und sich mit einem Blick umsah, der so durchdringend wie ein medizinischer Laser war.
Nach einer halben Minute nickte er kaum wahrnehmbar und wandte sich schließlich an mich. »Mr. Montgo-mery«, sagte er mit einer Stimme, die so emotionslos wie ein Vocoder klang. »Ich bin Louis Pohaku. Meine Kollegin heißt Alana Kono.« Keiner der beiden machte Anstalten, mir die Hand zu schütteln, also nickte ich ihnen zu. »Haben Sie diesen Raum einer Sicherheitskontrolle unterzogen?«
»Sie sind die Experten«, sagte ich achselzuckend.
Pohaku warf seiner Partnerin einen Blick zu, dann teilten sie sich und fingen im wesentlichen an, das Hotelzimmer auseinanderzunehmen.
Ich sah ihnen bei der Arbeit zu. Pohaku war offenbar der Boß des Zwei-Personen-Teams, und er war schon seit einiger Zeit im Geschäft. Ich schätzte ihn auf Ende Dreißig, vielleicht ein paar Jahre älter als ich, und die Welt schien nicht gerade freundlich zu ihm gewesen zu sein. Sein Gesicht war hager, die Augen leicht eingesunken, die Haut ein wenig blaß. Drek, er sah aus wie eine wandelnde Leiche, die sich für den Abschlußball der High-School zurechtgemacht hatte. Aber er bewegte sich gut - auch wenn er nur durch das Hotelzimmer ging, fiel mir auf, daß seine Bewegungen präzise und geschmeidig waren. Er hatte keine offensichtlichen Cybermodifikationen, aber ich hätte einen Haufen Kreds darauf verwettet, daß seine Reflexe bis zu einem gewissen Grad aufgepeppt waren.
So groß und hager Pohaku war, so klein und angenehm gerundet war Kono. (Ich wagte das Wort ›paus-bäckig‹ nicht einmal zu denken, weil sie mir dafür wahrscheinlich die Augen ausgekratzt hätte.) Breites Gesicht, dunkle, gelockte Haare und Kurven an den richtigen Stellen. Ihre Augen waren dunkel und lebendig, und der geringste Anflug eines Lächelns mußte sie fast zu einer Schönheit machen. Natürlich gehörte Lächeln nicht zu ihrem Job. Weibliche Attribute hin oder her, sie hätte ebensogut Pohakus seelenlose Klon-Schwester sein können.
Die beiden Leibwächter in ihren bis auf die Größe identischen dunklen Anzügen unterzogen das Zimmer einer gründlichen Inspektion. Sie probierten die versiegelten Fenster aus, sie überprüften Sichtlinien, sie tasteten jeden Millimeter Wand mit irgendwelchen elektronischen Detektoren ab, sie schlossen kleine schwarze Kästen an das Telekom an, sie schauten sogar - ich will Sie nicht hochnehmen - unter das Bett und probierten die Klospülung aus. Ein paarmal erwog ich, ihnen zu sagen, daß sie sich entspannen sollten. Drek, ich hatte bereits eine Nacht in diesem Zimmer verbracht. Ich hatte sogar das Klo benutzt, und meine Anatomie war noch intakt. Aber ich hielt den Mund. Schließlich waren sie die Profis, und von mir aus sollten sie ihren Spaß haben.
Schließlich waren sie fertig, und Pohaku kam zu mir. Ein Teil von mir erwartete ein knappes »Klo gesichert, Sahib!«, aber natürlich begnügte er sich mit einem kühlen Nicken. Meine Sicherheitsexperten waren mit der Situation zufrieden, also konnte ich es auch sein. Ich nahm mir ein Beispiel an Pohaku und erwiderte das Nicken, dann deutete ich wortlos auf das Sofa.
Ich habe mich noch nie wohl dabei gefühlt, darauf zu warten, daß irgend etwas über die Bühne geht. Ich fühlte mich noch unwohler bei dem Gedanken, das Zimmer mit den beiden emotionslosen Zwillingen zu teilen. Hätten Pohaku und Kono etwas ansatzweise Menschliches getan - gerülpst, ein Buch herausgeholt oder das (gesicherte) Klo benutzt -, hätte das die Dinge wesentlich vereinfacht. Kein Glück, Chummer. Sie saßen nur auf dem Sofa, einer an jedem Ende, stocksteif, den Blick ins Leere gerichtet.
Nein, das stimmte nicht ganz. Sie waren nicht weggetreten. Sie sahen zwar nicht mich oder einander an, aber sie hatten auch nicht dieses Tausend-Meter-Starren drauf, das ich immer mit Langeweile oder keinen Kaffee zum Frühstück assoziiere. Statt dessen huschte ihr Blick im Zimmer hin und her und ruhte nie lange auf einem Fleck, wie die Augen eines Piloten, der die Instrumente seines Flugzeugs überwacht. Ich erwog kurz, ein Gespräch anzufangen, verwarf die Idee aber ziemlich schnell. Statt dessen holte ich mir einen Fruchtsaft aus dem Kühlschrank, bot den Zwillingen jedoch keinen an. Wenn sie etwas wollten, konnten sie ihre diamantharten Schalen wenigstens so lange öffnen um zu fragen. Dann ließ ich mich mit dem Saft in der Hand auf einem Sessel nieder und übte mich in Geduld.
Laut meiner inneren, subjektiven Uhr saßen wir dort so etwa knapp ein Jahr. (Meine Armbanduhr sagte, daß es kaum länger als eineinhalb Stunden war, aber was wußte sie schon?) Ein paar Minuten vor dem offiziellen Zeitpunkt, an dem das Treffen stattfinden sollte, klopfte es an der Tür.
Pohaku und Kono waren so schnell auf den Beinen, daß ich ihre Bewegungen gar nicht mitbekam. (Genau, offenbar hatten beide aufgepeppte Reflexe.) Kono huschte durch das Wohnzimmer und bezog Stellung in einer kleinen Nische. Pohaku teleportierte sich wieder zur Tür. Wie durch Zauberei hielten sie plötzlich Waffen in den Händen, gemeine kleine Maschinenpistolen.
Pohaku sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte -wahrscheinlich irgendein Codewort - und trommelte eine rhythmische Sequenz gegen die Tür. (Warum sah er nicht einfach durch den Spion? Überlegen Sie doch mal, Chummer. Der Kerl draußen wartet, bis die kleine Linse dunkel wird - was ihm verrät, daß sich das Auge des Burschen drinnen direkt davor befindet -, und jagt dann ein oder zwei Kugeln hindurch. Aua.) Die Antworl auf das Codewort bekam ich nicht mit, aber ich hörte dir« Klopfsignal von draußen. Es klang wie ein Zitat aus Take Five.
Entweder war es das richtige Zeichen, oder Pohaku stand auf Jazz. Die beiden MPs der Messerklauen vn schwanden wieder, und Pohaku öffnete die Tür. trat zur Seite, als eine Gestalt eintrat, dann schloß und verriegelte er sie wieder. Ich betrachtete den Neuankömmling und mein Magen vollführte einen eineinhalbfachen Salto.
Es war die verdammte vogelknochige Frau, die Alte die ich durch die Überwachungskamera des Cheeseburger im Paradies und dann später noch einmal in dem Café neben dem Ilima Joy gesehen hatte. Sie trug genau dieselbe Kleidung wie bei den ersten beiden Malen, als ich sie gesehen hatte, einen formlosen Sack von einem Kleid, das früher einmal schwarz gewesen, mittlerweile aber zu einem dunklen Grau verblaßt war. Der Blick ihrer strahlenden Augen richtete sich auf mich und spießte mich auf wie einen Schmetterling. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Pohaku, und dir beiden unterhielten sich leise.
»Hey, Augenblick mal«, sagte ich laut, indem ich zu ihnen ging. Zwei Paar dunkle Augen - das eine eingefallen, das andere stechend und fast knopfartig richte ten sich auf mich. »Wer, zum Teufel, ist das?«
Die vogelknochige Frau warf mir ein flüchtiges wissendes Lächeln zu, doch es war Pohaku, der antwortete. »Sie haben um schamanische Unterstützung gebeten«, sagte er kategorisch.
»Sie?«
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber seine Miene wurde noch kälter. »Akaku'akanene genießt das volle Vertrauen des Ali'i«, sagte er ernst, wobei er den Rest des Gedankens - ›und das sollte für deinesgleichen genügen‹ - unausgesprochen ließ.
Ich hob eine Hand. »Aka-wie?«
»Akaku'akanene.« Das kam von der vogelknochigen Frau. Ihre Stimme klang schneidend, durchdringend, abrupt. »Mein Name. Bedeutet ›Vision der Gans‹.«
»Aha.« Ich hielt kurz inne. »Hören Sie, ich will mich nicht wie ein paranoides Spatzenhirn aufführen, aber...«
Akaku'akanene bedachte mich mit einem weiteren dieser flüchtigen Lächeln, die typisch für sie zu sein schienen. (Einen Moment lang legte mein Gedächtnis ein Bild meines alten Chummers Buddy über das Gesicht der Schamanin. Die Manierismen waren sich schmerzlich ähnlich. Mit einiger Mühe, schluckte ich meine Trauer hinunter.) »Bin ich Ihnen gefolgt?« fuhr sie für mich fort. »Ja.«
Ich schüttelte den Kopf. Das war nicht die Antwort, die ich erwartet hatte. Drek, ich hatte auf ein nettes, beruhigendes »Seien Sie kein Idiot« gehofft.
»Wie?« fragte ich. »Warum?« Dann kehrte ich wieder zu »Wie?« zurück. Mein erstes Gespräch mit Gordon Ho, dem Ali'i, hatte ich geführt, nachdem ich sie die beiden Male gesehen hatte. Woher, zum Teufel, hatte sie überhaupt gewußt, daß ich existiere?
»Warum?« wiederholte sie. »Nene hat von Ihnen gesungen.«
Ich wartete darauf, daß sie fortfuhr - daß sie etwas sagte, das auch einen Sinn ergab. Als sie das nicht tat, erwiderte ich: »Hä?«
»Nene hat von Ihnen gesungen«, wiederholte sie geduldig. »Sie sieht Ihren 'uhane. Ihren Geist. Sie sind die Achse. Wichtige Dinge drehen sich um Sie.« Sie sagte all das, als sei es absolut offensichtlich, als sei ich ein Obertrottel, weil ich es nicht schon längst wußte.
Okay, ich nehme an, ich war ein Obertrottel. Ich wußte nicht, wovon, zum Teufel, sie redete. Nene... das war eine Gans, oder? Ja, genau, die neue war diese hawai'ia-nische Gans - die mit den Krallen, die Vulkane oder irgendwas mag -, von der Scott erzählt hatte. Also hatte eine Gans mit dieser Frau geredet...?
Oder vielleicht war Nene irgendeine einheimische Totem-Kreatur. Ja, das ergab zumindest einen gewissen Sinn. Im pazifischen Nordwesten sind Bär und Wolf ziemlich verbreitete Totems. In der Prärie bekommen Schlange und Koyote den Zuschlag. Unten in Florida wird Alligator bevorzugt. Warum dann nicht Nene in Hawai'i? Natürlich zerstreute diese Überlegung meine Zweifel nicht. Ich hatte mich mit der Vorstellung von Totems als reale diskrete Wesenheiten noch nie so recht anfreunden können. Ich glaube, ich habe sie im stillen immer als psychologische Konstrukte betrachtet, die Schamanen benutzen, um schlau aus der Magie zu werden, ohne ihnen eine reale, eigenständige Existenz einzuräumen. Ob Akaku'akanene mir folgte, weil ihr das eine Gans gesagt hatte oder eine Stimme in ihrem Kopf, ich fand die ganze Sache trotzdem ziemlich merkwürdig.
Tja, jedenfalls, nichts von alledem war im Moment wichtig. Sollte die alte Frau Vögeln zuhören, wenn sie wollte. »Was ist mit den Besuchern?« fragte ich sie.
»Sind draußen. Zwei.«
»Sauber?« fragte Pohaku.
»Nein«, antwortete Akaku'akanene, ohne zu zögern. »Aber sie sind unbewaffnet.« Pohaku blinzelte daraufhin. Ich fühlte mich gleich eine Spur besser, als ich sah, daß er die schamanische Weltsicht von Zeit zu Zeit ebenfalls ein wenig verwirrend fand.
»Und Lupo ist bei ihnen?« hakte der Leibwächter nach.
Akaku'akanene nickte.
Pohaku wandte sich an mich. »Fertig?«
Ich zuckte die Achseln. »Nein«, gab ich ehrlich zu. »Aber wir können trotzdem anfangen.«
Der Leibwächter nickte und gab Akaku'akanene ein Zeichen. Die alte Frau öffnete die Tür und ging wieder nach draußen. Ich hörte, wie Kono hinter mir eine andere Stellung bezog. Pohaku hatte wieder seine Waffe gezogen, deren Lauf zwar auf die Decke zeigte, die jedoch entsichert war. Ich ging wieder in die Mitte des Raumes und tat, was ich konnte, um mich auf das bevorstehende Treffen vorzubereiten. »Freunde von Adrian Skyhill.« Einfach Sahne.
Die Tür schwang auf, und ein weiterer Leibwächter mit derselben Statur wie Pohaku - das mußte Lupo sein - trat ein. Ein kleiner Mann folgte ihm.
Er war ein Mensch durchschnittlicher Größe und durchschnittlicher Statur. Sein Haar war mittelbraun, das Gesicht nichtssagend. Drek, wenn es so etwas wie Nichtwesenheiten gab, dann war er das beste Beispiel dafür, das mir in meinem ganzen Leben untergekommen war. Wäre ich auf der Straße an ihm vorbeigegangen, glaube ich nicht, daß ich ihn zur Kenntnis genommen hätte. Erinnert hätte ich mich auf keinen Fall an ihn. Das einzige Merkmal, das ihm so etwas wie Charakter verlieh, waren seine Augen.
Sie waren grau, bläßlich und wässerig grau. Sie glänzten, als sei er kurz davor zu weinen, oder als hätte er sie sich mit Glyzerin eingerieben. Und sie schienen nicht zu blinzeln. Jene Augen, die von einem ausdruckslosen Gesicht umgeben waren, ruhten auf mir, und ich verspürte den Drang, mich hinter einem Sofa zu verstecken.
Dann führte Akaku'akanene seine Begleiterin herein, und ich vergaß den graugesichtigen Mann.
»O Jesus Christus, nein ...« Meine Stimme war ein jämmerliches Winseln. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte mich auf den Boden gesetzt, die Hände vor das Gesicht geschlagen und geheult wie ein verdammtes Baby.
Das zweite Mitglied der Abordnung hatte dieselben glänzenden Augen wie der nichtssagende Mann, nur daß sie braun anstatt grau waren. Ich kannte diese Augen. Ich hatte sie lachen und weinen gesehen.
»Hallo, Bruderherz«, sagte meine Schwester Theresa.