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Ich parkte meinen Americar neben dem Müllcontainer in einer Gasse in der Nähe der Randall Avenue, zog meine Magnetkarte durch das Schloß an der Hintertür und erklomm die schmale Treppe zum ersten Stock. Ich ging zur Tür mit der Nummer 5 und überprüfte die Warnzeichen, die ich bei meinem Weggang zurückgelassen hatte. Alle befanden sich noch dort, wo sie sein sollten. Wiederum schwang ich meine Magnetkarte, dann drückte ich den Daumen (natürlich den rechten) auf die Vertiefung des zweiten Schlosses, das ich am Tag nach meinem Einzug angebracht hatte. Die Schaltkreise summten einen Augenblick, in dem sie sich darüber klar wurden, ob ich ich war. Dann klickte das Schloß, und die Tür schwang auf.

Kaum hatte sich die Tür hinter mir geschlossen, als ich mich aus meinem Duster schälte und ihn über den nächsten Stuhl warf. Der Hochsommer in Cheyenne ist heißer als die Hölle (aber es ist eine trockene Hitze) -viel zu heiß, um mehr als Hemdsärmel zu rechtfertigen, geschweige denn einen gepanzerten Mantel. Aber ich bin lieber schweißnaß als blutüberströmt. Nennen Sie es einen Charakterfehler. Seit ich Seattle verlassen hatte, machte ich es mir mit einer an Besessenheit grenzenden Ausschließlichkeit zur Regel, niemals meine Wohnung zu verlassen, ohne zumindest ein wenig Panzerung zwischen mir und etwaigen auf mich gezielten Hochgeschwindigkeitsgeschossen zu haben.

Ich ging in mein ›Büro‹ - ein kleiner Schreibtisch, der in eine Ecke der winzigen Zweizimmerwohnung gequetscht war - und ließ mich auf einen Drehstuhl sinken, der wahrscheinlich älter war als ich. Ich schaltete mein Telekom von Bereitschaft auf Betrieb und wartete dann, bis das dämliche Ding geschnallt hatte, was von ihm verlangt wurde.

Schließlich erwachte das uralte System widerwillig zum Leben. Ich legte den Kredstab ein, den Sharon Young mir gegeben hatte, und überprüfte den Kontostand - eher der Vollständigkeit halber als aus der Erwartung heraus, betrogen worden zu sein. Es bringt nichts, jemanden bei der Vorauszahlung zu betrügen. Die Summe entsprach der, mit der ich gerechnet hatte: 4000 Nuyen. Ich drückte ein paar Tasten, und mein Telekom transferierte die Kreds bereitwillig vom Mikrochip des Stäbchens auf mein Konto bei der Cheyenne Interface Bank. Damit belief sich mein Kontostand auf... nun, annähernd 4000 Nuyen, wenn man es genau nahm. Davon merkte ich 800 ¥ für die Miete vor, die von meinem Konto abgebucht würden, sobald mein Vermieter sich danach erkundigte. (Ich hatte bereits den Fehler begangen, eine Überweisung an ihn platzen zu lassen. Den Riesenfehler. Mein Vermieter war ein großer, gemeiner, kahlköpfiger Ork mit einer sonnenverbrannten Plätte, die so zerknittert aussah, als habe sie jemand in Falten gelegt und dann versucht, sie wieder auszubügeln. Alle nannten ihn ›Mutter‹ und beließen es dabei - wahrscheinlich deshalb, weil jeder, der noch etwas anzuhängen versuchte, zu sehr damit beschäftigt sein würde, Zähne zu spucken, um zu Ende zu reden.)

Damit waren die Bankgeschäfte erledigt, und ich drückte ein paar Tasten, um mir meine Post anzeigen zu lassen. Eine Nachricht in meinem elektronischen Briefkasten, und zwar in demjenigen, den ich für Geschäftszwecke benutze. Ich glaubte zu wissen, worum es sich handelte, besonders als ich den Cheyenner Matrixcode des Absenders sah. Zwei Nachrichten in meinem privaten Briefkasten. Da nur drei Personen den Zugangscode kannten, war es auch nicht weiter schwierig, eine Vermutung über die Absender dieser Nachrichten anzustellen.

Leider kam erst die Arbeit und dann das Vergnügen. Noch ein paar Tasten gedrückt, und auf dem Schirm erschien die geschäftliche Nachricht. Ich erkannte die digitalisierte Stimme sofort. Sie hieß Jenny, war ein Troll und stolz darauf. Amerindianerin und darauf noch stolzer. Eigentlich war sie kein Schieber, aber gelegentlich vermittelte sie Leuten, die sie mochte, Kontrakte. Aus irgendeinem Grund, den ich noch nicht ganz verstanden hatte, mochte sie mich echt.

Ich ließ die Aufzeichnung mit doppelter Geschwindigkeit ablaufen und meine Gedanken abschweifen, während Jenny ihre Nachricht herunterleierte. Ich wußte, worum es sich handelte: um einen Kontrakt, den sie mir vor einer Woche als Gefälligkeit vermittelt hatte, um mir dabei zu helfen, das Geld für meine Miete aufzubringen. Alles hatte sich so entwickelt, wie es sich der Auftraggeber vorgestellt hatte, und Jenny ließ ein paar Lobeshymnen vom Stapel. Ich schaltete wieder auf normale Geschwindigkeit, als es den Anschein hatte, daß Jenny zur Sache kam.

»...Und wenn du noch ein paar Takte darüber reden willst, komm mich doch einfach besuchen«, sagte sie mit einem Schlafzimmerlächeln, das kleinen Kindern Angst eingejagt hätte. »Morgen regeln unsere Freunde den Kredtransfer.« Ihr Lächeln wurde breiter, bis ich dachte, sie würde ihre Ohren verschlingen. »Bis später, Bernard.« Und der Schirm wurde dunkel.

Ich konnte mir ein Kichern nicht verbeißen. »Bernard.« Ich weiß nicht, wer damit angefangen hatte, aber der Ausdruck hatte in den letzten Wochen die Runde durch den Schattenuntergrund der Sioux Nation gemacht und war so etwas wie ein modischer Ersatz für ›Chummer‹ oder das japanische ›Omae‹. Bis jetzt gehörte er nicht zum allgemeinen Sprachgebrauch - noch nicht -, aber die hiesigen Shadowrunner und Möchtegerns hatten sich förmlich darauf gestürzt und betrachteten ihn als eine Art Familienerkennungssignal.

Shadowrunner. Es war zum Lachen. Jenny würde sich in die Hose machen, wenn sie je einem echten Shadowrunner begegnete. (Jesus, ich hätte es fast beim erstenmal getan.) Die Geschäfte, die sie vermittelte, mochten als ›Schattenkontrakte‹ durchgehen, wenn man die Wortbedeutung ein wenig streckte, aber nur, weil sie sich im Bereich der Illegalität oder vielleicht knapp außerhalb der Legalität bewegten. Alle waren unendlich weit von der von den Medien verbreiteten Vorstellung von absoluten Härtetypen entfernt, die den Megakonzernen in den Hintern kniffen, während sie einem Kugelhagel auswichen. Ich war dort. Hab's getan. Zu heftig. Geschenkt.

Lassen Sie mich von dem ›Run‹ erzählen, den ich gerade für Jenny erledigt hatte. Es ging um einen Mittelklasse-Wohnblock mit Eigentumswohnungen am Rande des Cheyenner Innenstadtkerns - dem Avalon -, der Probleme mit Chip-Dealern hatte, die ihr Geschäft aus einer Penthouse-Wohnung des Blocks betrieben. Aktivitäten rund um die Uhr, ein ständiges Kommen und Gehen anrüchiger Typen, Chipheads in der Lobby, der ganze Drek. Die Eigentümerversammlung hatte versucht, die Chip-Dealer zur Räumung zu zwingen... und hatte daraufhin in klaren Worten zu hören bekommen, daß ihre Knie, Ellbogen und gewisse andere Körperteile Bekanntschaft mit stumpfen Gegenständen in den Händen angeworbener Knochenbrecher machen würden, falls sie die erforderlichen Papiere ausfüllten. Die Cops konnten nicht gegen die Dealer vorgehen, weil es schlicht und einfach keine Beweise gab. Die Eigentümer wußten, was lief, aber sie konnten den Abgrund zwischen Wissen und Beweisen nicht überwinden.

Auftritt Dirk Montgomery, linke Bühnenseite, auf einem weißen Hengst. Mein Kontrakt - mein ›Shadow-run‹, wenn Sie so wollen - sah vor, den Chip-Dealern Feuer unterm Hintern zu machen und sie zur Räumung des Wohnung zu veranlassen. Keine Auflagen, wie ich die Sache anzugehen hatte, keine Fragen. Nur das Resultat zählte.

Ich glaube, Jenny rechnete damit, daß ich mich den Dealern frontal nähern würde, wahrscheinlich über das Korn einer riesigen Kanone. (Gott weiß, woher sie diese übertriebene, schwärmerische Vorstellung von mir hat...) In den alten Zeiten hätte sie vielleicht recht behalten. Vielleicht hätte ich tatsächlich den direkten Weg gewählt. Aber die Dinge haben sich geändert. Heutzutage ziehe ich es vor ›angewandte Sozialwissenschaft‹ zu betreiben, anstatt mich aus dem Fenster zu lehnen.

Wie bin ich also mit den Chip-Dealern fertiggeworden? Ganz einfach. Ich kundschaftete das Haus aus und identifizierte die Hauptkunden der Dealer - in erster Linie Kleinverteiler und nicht etwa ausgebrannte Süchtige. Sobald ich über die meisten Bescheid wußte, schickte ich jedem per E-Mail eine persönliche Nachricht, die sie höflich davon in Kenntnis setzte, daß ich Grund zu der Vermutung hätte, die Person, welche sie regelmäßig im Avalon besuchten, sei in illegalen Chiphandel verwickelt - natürlich alles nur ›in Ihrem eigenen Interessen Der Clou war, daß ich von jeder Nachricht eine Kopie an das Cheyenner Drogendezernat schickte!

Fazit? Die Kleinverteiler stellten ihre Besuche ein, und ein paar Tage später waren die Dealer ausgezogen. ›Sha-dowrun‹ beendet, null persönliche Bloßstellung - also ganz so, wie es mir neuerdings gefiel.

Wie bitte? Keine Kanonen? Keine Hetzjagden mit Konzernsicherheitstruppen? Keine lockeren Schießereien mit Lone-Star-Cops?

Nun... nein. Absichtlich nicht. Jetzt könnten Sie sagen, ich werde alt und trete kürzer. Ich würde sagen, ich werde klug und lebe länger. Raffinesse hat eine Menge für sich.

Ich hatte noch nie das Bedürfnis zu beweisen, daß ich der gemeinste, härteste Drekskerl bin, der je unterwegs war. Nicht nur hatte ein Bekannter von mir - vielleicht ein Freund, je nach Definition - diesen Titel meiner voreingenommenen Ansicht nach für sich gepachtet, sondern meine Erfahrung sagte mir auch, daß zu viele Leute, die diesen Weg beschritten, ins Gras bissen. Besser eine lebendige Ratte als ein totes Schwergewicht war schon immer mein Motto.

Und überhaupt, man brauchte Asse im Ärmel, um sich auf die Straße zu wagen. Mumm, Schneid, Feuer, wie immer Sie es nennen wollen. Man mußte sich auskennen und brauchte die Instinkte... und wenn der Drek zu dampfen anfing, mußte man diesen Instinkten vertrauen. Besaß ich diese Instinkte noch? Im vergangenen Jahr hatte ich ihnen nicht genug vertraut, um es herauszufinden. Und dort draußen in den Schatten hätte mich das zu einer wandelnden Zielscheibe gemacht.

Schön, zugegeben. Da war immer noch der Adrenalinstoß, der damit verbunden war, wenn man seinen Arsch riskierte, diese transzendente Freude, die man auf andere Weise nicht erleben konnte, ohne das Großhirn mit BTL-Signalen zu füttern. Aber alles hatte seinen Preis, und ich hatte immer etwas an der Hand, das mich daran erinnerte - an der linken Hand.

Sollte Jenny also denken, was sie wollte. Sollte sie ihre Shadowrunner-Spielchen spielen. Sollte sie sich ruhig einbilden, daß sie sich am Rande der Schatten-›Oberliga‹ bewegte. Ich gönne jedem seine Illusionen und Hirngespinste. Ich hatte einmal in dieser Oberliga gespielt -nur einmal, nur für eine Nacht -, und ich wußte, daß ich das, was ich brauchte, um ein zweites Spiel zu überleben, nicht besaß.

Ich spürte den Ansturm der Erinnerungen, hielt sie jedoch an der Schwelle zum Bewußtsein zurück. Das war damals, dies war jetzt - um Gautama (falsch) zu zitieren ... oder war es Michael Nesmith? Ich löschte Jennys Glückwünsche und rief die Nachrichten aus meiner persönlichen Mailbox auf.

Die Absendeadresse der ersten Nachricht kannte ich nicht, aber als das Bild auf dem Schirm auftauchte, wußte ich, daß sie als Gast irgendeines automatischen Systems irgendwo abgeschickt worden sein mußte. Ein Schopf schmutzigblonder, kurzgeschnittener und stacheliger Haare. Eine schlanke, ein wenig längliche Gesichtsform - eher attraktiv als im klassischen Sinne schön. Braune Augen in einem blassen, ein wenig sommersprossigen Gesicht.

»Hoi, Bruderherz«, sagte meine Schwester Theresa.

Ich drückte eine Taste, um die Aufzeichnung anzuhalten, während ich das Standbild studierte. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Diese Augen hatten einmal aus schierer Lebensfreude gestrahlt. Jetzt erinnerten sie mich an Dokumentarfilme über Soldaten, die aus dem Wahnsinn der EuroKriege zurückgekehrt waren. Ihre Wangen waren ein wenig hohl, und ich schätzte, daß sie immer noch fast zehn Kilo Untergewicht hatte.

Aber mir fielen auch bemerkenswerte Fortschritte auf. Ihre Augen hatten immer noch diesen Kriegsneurose-Blick, aber zumindest schauten sie nicht mehr so verletzt drein. Ihre Lippen hatten sich zur Andeutung eines Lächelns verzogen, ein gewaltiger Unterschied zu den alten Zeiten, als ihr Lächeln meine ganze finstere, schmierige Bude erhellt hatte, aber im Vergleich mit ihrem Aussehen von vor ein paar Monaten trotzdem ein riesiger Fortschritt. Das Leid war immer noch da - das Leid, das ihr die Wahl auferlegte, die wiederum den Verlauf ihres Lebens bestimmt hatte. Und das Leid, das diese Wahl ihr bereitet hatte. Das Leid würde vermutlich niemals vergehen, wurde mir mit einiger Trauer klar. Aber es war auch eine Veränderung zum Besseren eingetreten. Jetzt empfand sie das Leid. Vorher war sie Leid... und das ist ein verdammt großer Unterschied. Mittlerweile konnte ich ihr in die Augen sehen, ohne zusammenzuzucken.

Sie kam wieder - endlich konnte ich es erkennen und dieser Erkenntnis auch vertrauen. Es hatte fast vier Jahre gedauert - achtzehn harte Monate der Entgiftung, Analyse, Psycho-Rehabilitation und Chemo- und Elektrotherapie, gefolgt von achtundzwanzig Monaten, in denen sie lernen mußte, wieder einen Bezug zur realen Welt aufzubauen. Doch die Zeit trug langsam Früchte. Ich schüttelte den Kopf. Es war schlicht umwerfend, was der menschliche Körper - und, wichtiger, der menschliche Geist - ertragen konnte, ohne zusammenzubrechen.

Ich spulte die Aufzeichnimg kurz zurück und ließ sie dann noch einmal von Anfang an ablaufen.

»Hoi, Bruderherz«, sagte meine Schwester Theresa. »Schöne Grüße aus Denver. Tut mir leid, daß ich dich verpaßt habe, aber in ein paar Tagen versuche ich's noch mal.

Denver ist echt Sahne, noch mehr schizo als Seattle, wenn du das glauben kannst. Bist du eigentlich mal hier gewesen? Ich kann mich nicht erinnern.

Jedenfalls, meine nächste Station ist San Francisco, glaube ich, wenn ich mit dem Datenwust fertig werde. Vielleicht fahre ich dann durch Cheyenne zurück, und du kannst mich zum Essen ausführen.«

Ihr schwaches Lächeln wurde breiter, und für einen Augenblick konnte ich die alte Theresa Montgomery sehen. Im Geiste hörte ich wieder ihre Ausrufe plötzlicher Begeisterung und ihr unschuldiges Lachen. »Hier draußen haut mich immer noch alles um, Bruderherz«, fuhr sie fort. »Die Welt ist so groß und wunderbar. Ach, und falls du dich fragst...« Mit einer schlanken Hand strich sie eine blonde Haarsträhne zurück, so daß ihre Datenbuchse sichtbar wurde. Der Buchsenstecker saß noch an Ort und Stelle, und das Polymer-Siegel war unverletzt und mit dem Logo des Entgiftungssanatoriums gekennzeichnet.

»Ich bin immer noch clean«, prahlte sie. »Über vierzig Monate, toi, toi, toi.

Wir sehen uns, Derek.« Ihr Bild streckte die Hand aus, um die Verbindung zu unterbrechen.

Wiederum hielt ich die Aufzeichnung an. Ich streckte die linke Hand aus und berührte das Gesicht meiner Schwester - synthetisches Fleisch, das ein synthetisches Abbild berührte.

Sie schaffte es, sie schaffte den langen Schlauch zurück tatsächlich. Als mir die Therapeuten des Sanatoriums erzählt hatten, daß sie davon gesprochen hätte, ein Wanderjahr - einen ausgedehnten Reiseurlaub - einzulegen, hatte ich mir vor Angst fast in die Hose gemacht. Sie war viel zu anfällig, hatte ich mich verrückt gemacht, noch nicht weit genug vom Abgrund der Drogen und Chips (und Schlimmerem!) entfernt, der sie fast verschlungen hätte. Sie würde nicht die Kraft haben, den unzähligen Versuchungen zu widerstehen, die sich in der realen Welt boten.

Diese Therapeuten hatten tatsächlich gewußt, was sie taten - das mußte ich jetzt zugeben. Sie hatten gewußt, wie meine Reaktion auf diese Neuigkeit ausfallen würde. Anstatt mich auf meine Schwester loszulassen, anstatt mich sie so lange bearbeiten zu lassen, bis sie ihr Vorhaben aufgab, hatten sie mich nicht einmal mit ihr reden lassen, bis ich mich nicht selbst einer kleinen Therapie unterzogen hatte. Ich war kein leichter Fall gewesen, aber schließlich hatte ich begriffen. Ich hätte Theresa gar nicht davon abbringen können, ein Wanderjahr einzulegen, wenn es das war, was sie wollte. Sicher, es war ein Risiko - das war auch den Therapeuten und Entgiftungsärzten klar. Aber der Schaden für ihr Selbstwertgefühl, wenn sie oder ich ihr verboten hätten, ihren Weg zu gehen, wäre viel schlimmer und vor allem absolut unausweichlich gewesen. Es war eine schwere Geburt gewesen, aber ich hatte schließlich akzeptiert, daß das die endgültige Therapie für Theresa war: die endgültige Bestätigung, daß sie die Kontrolle über ihr Leben und über die Richtung hatte, die es nahm.

Es war ein Glücksspiel gewesen, aber der Einsatz hatte sich gelohnt. Über vierzig Monate clean und nüchtern. Was auf eine vierjährige Erfahrung der Welt so, wie sie war, hinauslief, ohne das Beruhigungsmittel Sim-Sinn, BTL oder 2XS. Meine Schwester war auf dem Weg zurück vom Abgrund.

Und ich konnte das Abhören der zweiten Nachricht nicht mehr länger aufschieben. Ich löschte Theresas Bild vom Schirm und wählte die andere Nachricht an.

Noch ein Frauengesicht, fast so vertraut wie das meiner Schwester. Kurze, glatte, kupferfarbene Haare. Graue Augen. Klasse und Kultiviertheit kübelweise. Jo-casta Yzerman, die Schwester der toten Lolita Yzer-man - die ich als Lolly gekannt hatte - und eine Hauptfigur bei den... den Ereignissen ... die meinem Umzug nach Cheyenne vorausgegangen waren. Wunderschöne Jocasta. In meiner Brust war plötzlich ein Schmerz, von dem ich wünschte, ich hätte ihn als Magenverstimmung abtun können.

Manchmal will man emotionale Qualen bis zur Neige ausleben. Bei anderen Gelegenheiten will man sie so schnell wie möglich hinter sich bringen. Ich schaltete das Telekom auf doppelte Wiedergabegeschwindigkeit.

Sogar bei diesem Tempo hatte ihre Stimme den perfekt modulierten, samtweichen Klang des geübten Profis. (Ich fragte mich kurz, ob sie immer noch ihre Tri-deoshow bei KCPS in Seattle hatte.) Ich überhörte die Worte, die sie sagte - nicht weiter schwierig, die Nachricht war kaum mehr als eine verbale Postkarte: »Hey, lange her, wie geht's?«, so in der Art -, und ich konzentrierte mich ganz auf die Stimme. Ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung vor vier Jahren: eine schlanke, hochgewachsene Gestalt, gespannt wie eine Bogensehne in ihrer maßgeschneiderten rauchgrauen Lederkleidung, die ganz ruhig mit einer Pistole auf einen Punkt zwischen meinen Augen zielte ...

Die Nachricht endete mit den üblichen nichtssagenden Floskeln und guten Wünschen für meine Gesundheit, und dann war Jocasta verschwunden. Ich starrte den leeren Telekomschirm noch eine ganze Weile an. Ms. Jocasta Yzerman - nein, inzwischen Mrs. Jocasta Brock, nicht wahr? - hatte das Gewitter unglaublich gut überstanden. Keine körperlichen Narben, und wenn es seelische gab, hielt sie sie gut verborgen. War sie wirklich so stark, so widerstandsfähig? Oder hatte sie während unserer kurzen gemeinsamen Zeit etwas von mir gelernt - die Fähigkeit, sich zu belügen und seelische Qualen total zu unterdrücken -, während ich diese Fähigkeit ironischerweise zur gleichen Zeit verlernte? Wie sahen ihre Träume in jenen einsamen Nachtstunden aus, in denen die Schutzmauern am dünnsten sind? Wahrscheinlich würde ich das nie erfahren, jetzt nicht mehr.

Ein paar Sekunden erwog ich, ihr eine Antwort zu schicken - gleich jetzt, spontan und aus dem Stegreif, ohne alles vorzuformulieren. Ich brauchte nicht lange, um den Gedanken als schlechte Idee abzutun. Wenigstens in diesem Augenblick, wo ich nach der langen gedanklichen Beschäftigung mit Theresa emotional offen und verwundbar war. Drek, vielleicht ging ich sogar so weit und redete davon, was ich tatsächlich empfand, und wer wußte schon, wo das hinführen mochte...?

Mein linker Arm fing leise an zu summen. Ich haßte es, wenn er das tat, wenn er irgendeiner Selbstdiagnose-Routine folgte, wenn sein Hauptprozessor der Ansicht war, er hätte gerade die Zeit. (Nur die Geister wußten, was das Ding tat, während ich nachts schlief.) Das Geräusch war sehr leise, aus zwei Metern Entfernung wahrscheinlich unhörbar, aber ich reagierte darauf immer, als fange direkt neben meinem Ohr ein Wecker an zu klingeln. Ich ballte ein paarmal meine linke Faust, und das Summen hörte auf.

Im stillen dankte ich den Leuten von Wiremaster In-corporated. Das Summen in meinem Arm - sie nannten es vielleicht diagnostische Routine; ich nannte es einen Weckruf, eine Mahnung, daß ich in der realen Welt lebte. Ich seufzte.

Nun, da ich das Telekom schon mal eingeschaltet hatte, konnte ich mich ebensogut gleich an die Arbeit machen. Ich nahm den Chip, den Sharon Young mir im Buffalo Jump gegeben hatte, legte ihn ins Telekom ein und rief die Daten auf.

Ein Haufen Daten, wurde mir klar, als sie rasch über den Schirm huschten. Ich stoppte den sinnlosen Daten-durchlauf, gab eine vernünftigere Durchlaufgeschwindigkeit ein und drückte erneut die Anzeigetaste.

Jonathan Bridge, das ist dein Leben. Sofort verstand ich besser, warum Sharon Young mich auf ihn angesetzt hatte. Sie hatte hier einen Haufen Hintergrundmaterial gesammelt - Geburtsdatum, Familiengeschichte, die Nummer seines Sioux-Ausweises, einen Teil seiner SIN, sogar Zusammenfassungen seiner Grundschularbeiten. Stichproben seiner Finanzsituation, die über zehn Jahre zurückreichten - fast ein Drittel seines Lebens. Das volle Programm. Offensichtlich wußte jemand mit dem armen, vertrauensvollen Computer im zentralen Einwohnermeldeamt der Sioux umzugehen. Ich ging die Daten noch einmal durch. Profiarbeit, kein Zweifel. Mindestens eine Woche Wühlarbeit, vorausgesetzt, man warf Hallo-Wachs wie Bonbons ein. Vielleicht - wenn mir die Großen Geister der Datenverarbeitung hold waren - hätte ich diese persönlichen Daten ebenfalls aus dem System holen können.

Aber das war auch alles: Daten, nur Daten. Zahlen, Fakten, Info, Bytes. Man sollte meinen, daß die Leute damit in unserer von Computern beherrschten Welt zurechtkommen würden, aber nicht viele tun das. Daten sind keine Informationen, Daten sind Fakten. Die Informationen verbergen sich in den Verbindungen, den Beziehungen zwischen Fakten. Als setze man die Tatsache, daß Wasser bei 100 Grad Celsius zu kochen anfängt, und die Tatsache, daß Natrium bei 98 Grad schmilzt, zu der Information zusammen, daß Natrium kein gutes Material zur Herstellung von Teekesseln ist.

Offenbar erwartete Young von mir, daß ich die Fakten hernahm, die irgendein anderer Schnüffler - der viel besser auf dieser Ebene war als ich - aufgestöbert hatte, und mit ihrer Hilfe ein Gesamtbild von Freund Jonathan entwarf. Das beinhaltete ein Sortieren der Datenberge auf dem Chip mit dem Ziel, Korrelationen - in der Zeit, im Raum und in vielen anderen theoretischeren ›Ach-sen‹ (wie finanzielle Zahlungsfähigkeit‹ - und Widersprüche aufzuspüren. Mit anderen Worten, die Beziehungen zwischen den Zahlen. Ein Beispiel: Mr. Bridge war im Juni 2050 völlig pleite, verließ Cheyenne und kehrte im August zurück, um einen ziemlich hohen Bankkredit mit einer einzigen Überweisung abzuzahlen. Schlußfolgerung? Seine Geschäftsreise hatte sich offenbar ziemlich gelohnt. Solche Dinge eben.

In den Schlechten Alten Zeiten hätte ich die Knochenarbeit zum größten Teil selbst erledigen müssen... oder, wenn ich dem Archetypus des abgebrühten Privatschnüfflers hätte treu bleiben wollen, eine langbeinige Brünette mit einer spitzen Zunge und einem weichen Herz engagiert, um sie für mich zu erledigen. Heutzutage können Smartframes und Suchdämonen diese Arbeit schneller erledigen als jede vorlaute Sekretärin, wobei sie den fehlenden Sex-Appeal durch Effektivität wettmachen. Ein Fortschritt? Sagen Sie mir das.


Ich lehnte mich zurück und streckte mich. Meine Schultern waren verkrampft, und über meinem linken Auge hatte sich ein pochender Kopfschmerz eingenistet. Ich schob den Drehstuhl zurück und sah auf die Uhr.

Dreiundzwanzig Uhr plus minus. Das bedeutete, ich hatte vier solide Stunden an dem Gerät gearbeitet und die Smartframes und Suchroutinen programmiert, die ich sehr bald auf Jonathan Bridge loslassen würde. Ich schüttelte den Kopf - und hörte sofort auf, als die Kopfschmerzen ihr Mißfallen kundtaten.

Ich fragte mich, was mein Vater wohl dächte, wenn er sähe, welchen Nutzen ich aus meiner abgebrochenen Universitätsausbildung zog. Nichts Gutes, davon war ich überzeugt. Ich seufzte. Eine Menge hatte sich verändert, seit ich den Studiengang Computerwissenschaften an der U-Dub geschmissen hatte - die Entwicklung bleibt nicht stehen -, aber zumindest verstand ich ein paar grundlegende Dinge, eine durchaus stabile Basis, auf der ich aufbauen konnte.

Und aufgebaut hatte ich, seit ich Seattle verlassen hatte. Ich war kein ›Hobel‹ - keiner dieser rasiermesserscharfen Konsolen-Cowboys, die sich nur um des bloßen Kicks willen mit Schwarzem Ice anlegen -, aber ich hatte mich zu einem ziemlich brauchbaren Code-Jockey gemacht. Ich jagte keinen Daten als solchen hinterher. Sollten doch die Hobel ihre Neuronen gegen die Konzern-Gletscher antreten lassen, wenn das ihre Vorstellung von Spaß war. Im Gegensatz dazu erarbeitete ich mir gerade einen guten Ruf als jemand, der die groben Daten, die andere sammelten, in brauchbare Informationen umzuwandeln wußte. Ich hatte gelernt, welche Ressourcen dort draußen in der Matrix zur Verfügung standen - entweder allen Interessierten oder nur minimal gesichert - und wie man sie sich am besten zunutze machte. Auch das war nur eine Ableitung der Regel, nach der ich seit meiner Ankunft in Seattle lebte: Minimale Bloßstellung.

Eine Menge hatte ich mir selbst beigebracht, indem ich Texte, digitale Zeitschriften und sogar akademische Arbeiten aus der Matrix herabgeladen und durchgearbeitet hatte. Als das nicht mehr reichte, hatte ich einige der Grauen Eminenzen aus Cheyennes ›virtueller Sippschaft aufgesucht - alternde Decker, die nicht mehr die Reflexe hatten, um es mit Ice aufzunehmen, die aber in theoretischer Hinsicht auf dem laufenden waren, weil das alles war, was ihnen noch blieb. Ich schätze, einige meiner Professoren hatten ein gewisses Potential in mir gewittert, weil sie mich überreden wollten, mich unter den Laser zu legen und mir eine Datenbuchse implantieren zu lassen. Okay, zugegeben, ihre Argumentation war einleuchtend: Mit einer Datenbuchse hätte ich sogar die Art von Datenschieberei, die ich heute abend erledigte, wesentlich schneller bewältigen können. Finger auf einer Tastatur können sich nun mal nicht mit direkten neuralen Verbindungen messen.

Aber ich konnte es nicht. Nicht etwa deshalb, weil ich das große Zittern vor der Operation hatte, was wohl ihre Interpretation war. Meine Vorbehalte waren viel konkreterer Natur, obwohl ich niemandem davon erzählen konnte: Ich traute mir einfach nicht genug. Obwohl ich versucht hatte, mich von dieser Facette der Schatten fernzuhalten, hatte ich schon früh erfahren, daß einige Chip-Dealer in Cheyenne in 2XS-Chips machten. Eine Quelle für 2XS-Chips und eine Direktleitung zu meinem Hirn? Ich war immer stolz auf meinen starken Willen, Chummer, aber so stark bin ich nun auch wieder nicht...

Wiederum schüttelte ich den Kopf, und zum Teufel mit den Kopfschmerzen. Das schien mein Abend für morbide Gedanken zu sein. Ich ging meine Code-Schöpfung noch einmal durch, ließ sie auf die Matrix los und gab das elektronische Äquivalent für ›Faß!‹ ein.

Und damit war der erste Teil meines Kontrakts mit Sharon Young erledigt. Ich konnte nicht viel tun, bis mein Smartframe - das ich aus verschiedenen persönlichen Gründen Naomi getauft hatte - mit den Korrelationen zurückkam, die es hergestellt hatte. Das würde vielleicht eine Stunde dauern, schätzte ich - was für Nicht-programmierer vermutlich lächerlich klang: vier Stunden für das Schreiben eines Programms, das eine Stunde läuft und das ich nie wieder benutzen würde. Normalerweise würde ich zustimmen. Eine Mahlzeit, deren Zubereitung länger dauert als ihr Verzehr, habe ich schon immer für eine schlechte Verteilung von Ressourcen gehalten. Diesmal war es jedoch der einzig sinnvolle Weg. Dieselbe Suche manuell auszuführen hätte ein Vielfaches dieser fünf Stunden - vier für das Codieren, eine für das Warten - gedauert, die ich in das Smartframe investierte. Arbeiten Sie nicht härter, wie mich einer meiner alten Profs an der U-Dub einmal angeschrien hatte, arbeiten Sie cleverer.

Ein guter Rat. Ich ging ins Bett.