22

Wir standen Schulter an Schulter, der Ex-Ali'i und ich, die Nase nur Millimeter von der Scheibe des Fensters von Zimmer 1905 entfernt. Die respektablen Medien hatten kein Wort von der geplanten Demonstration des Konzern-Gerichtshofs verlauten lassen, aber die Nachricht hatte sich mit Sicherheit trotzdem wie ein Lauffeuer verbreitet. Zum Teil lag das an der Tatsache, daß eine Nachrichtensperre einfach unmöglich ist, wenn Parteien, die ein begründetes Interesse daran haben, eine Nachricht zu verbreiten - in diesem Fall die Konzerne -, ihre Botschaft direkt aus der Erdumlaufbahn senden können. Auf der Oberfläche stationierte Piratensender hatten gleichfalls ihren Teil dazu beigetragen und hämisch über die Versuche der hawai'ianischen Regierung berichtet, die Medien mundtot zu machen. Damals im Dunklen Zeitalter - in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts zum Beispiel -wäre es vielleicht möglich gewesen, den Geist in der Flasche zu lassen. Heutzutage? Keine Chance, Hoa, wie die Regierung sehr rasch feststellte.

Aus einigen Berichten, die dem Ali'i durch einige wenige Vertraute, die sich noch auf der Straße befanden, zugespielt worden waren, wußte ich, daß die Nachricht verbreitet worden war. Aber auch ohne diese Quelle hätte ich vermutet, daß die Leute Bescheid wußten. Normalerweise bestand die Kalakaua Avenue, von der ich ein Stück von meinem Fenster aus sehen konnte, bis zwei oder drei Uhr früh aus zwei Reihen sich langsam bewegender Scheinwerfer und Rückleuchten. Heute, ein paar Minuten vor Mitternacht, lag Waikikis Hauptstraße so gut wie verlassen da. Ich fragte mich kurz, wo wohl alle waren. Hatten sie sich verkrochen aus Angst, der Himmel könnte ihnen auf den Kopf fallen? Oder taten sie, was Gordon und ich getan hatten: einen guten Aussichtspunkt suchen, von dem aus man sich das Spektakel ansehen konnte?

»Dreiundzwanzig Uhr achtundfünfzig«, verkündete Pohaku hinter uns. Wie von demselben Gedanken beseelt, traten sowohl Ho als auch ich einen großen Schritt von der Transpex-Scheibe des Fensters zurück.

Es war eine perfekte Nacht dafür. Seit Sonnenuntergang hatten sich dunkle Wolken am südöstlichen Horizont zusammengebraut. Jetzt hingen sie ein Dutzend Kilometer vor der Küste schwer über dem Ozean, schwarz auf schwarz, und flackerten im Licht der Blitze eines Gewitters. Ein beeindruckender Hintergrund für etwas, das wahrscheinlich ein verdammt beeindruckendes Spektakel werden würde. Direkt über Honolulu und Mamala Bay war der Himmel klar. Ein paar Sterne funkelten in der Schwärze.

Auf ein Zeichen von Ho schaltete einer der Leibwächter alle Lichter in der Suite aus. Draußen, entlang der Kalakaua Avenue, hatten andere Leute offenbar dieselbe Idee. Überall gingen die Lichter aus. Ich blinzelte ein paarmal, um die Anpassung meiner Augen an die Dunkelheit zu beschleunigen.

»Wie wird die Reaktion ausfallen?« fragte Ho ruhig. Seine Stimme war so leise, daß ich nicht sicher war, ob er überhaupt etwas gesagt hatte.

Die Frage ging uns natürlich beiden im Kopf herum. Die kleine Demonstration der Megakonzerne war wie der Warnschuß eines Cops. Und wie man mir auf der Lone-Star-Akademie beigebracht hatte, provoziert ein Warnschuß immer eine Reaktion. Manchmal ist es diejenige, welche man provozieren wollte - bedingungslose Kapitulation, wenn der Gauner, den man verfolgt, plötzlich erkennt, daß man ihm auch eine Kugel hätte durch den Kopf jagen können. Manchmal ist es das genaue Gegenteil - eine Art ›Ach ja? Dann zum Teufel mit dir‹-Reaktion, die zu einer wüsten Schießerei führt. Ich wurde einfach den Gedanken nicht los, daß die hohen Tiere des Konzern-Gerichtshofs nicht sonderlich viel über diese zweite Möglichkeit nachgedacht hatten.

»Dreißig Sekunden«, verkündete Pohaku. Ich spürte eine Bewegung hinter mir, als die Leibwächter uns und damit auch der erhabenen Person ihres Ex-Herrschers so nah auf den Leib rückten, wie sie es wagten, um sich ihre eigenen Aussichtspunkte zu suchen. Im Geiste zählte ich rückwärts.

T minus drei, zwei, eins, null... Nichts. Plus eins, plus zwei, plus drei...

Ich war bei T plus fünf angelangt, als Gordon Ho neben mir leise aufkeuchte und auf den Himmel zeigte. Ein neuer Stern war aufgegangen, strahlend und grell. Er flackerte, er bewegte sich. Einen Augenblick lang hatte er eine räumliche Ausdehnung, war mehr als ein perfekter geometrischer Punkt...

Und dann regneten die Thorhämmer herab, absolut parallele Lichtbalken, die ein paar Kilometer vor der Küste vom Zenit in den schwarzen Ozean stachen. Man konnte sie unmöglich zählen, weil sie so schnell kamen und wieder verschwunden waren. Sie vermittelten einen Eindruck unglaublicher Schnelligkeit. Wie eine Salve Leuchtspurgeschosse aus Gottes eigenem Maschinengewehr, aber schneller als jedes Leuchtspurgeschoß, das ich je gesehen hatte... und wesentlich größer. An der Aufschlagsstelle gab es einen Lichtblitz, einen einzelnen Impuls, wie bei einer Explosion, nur ohne Feuerball. Ich glaube, das war der erschreckendste Teil der ganzen Demonstration. Unter jenen Lichtbalken hatte sich nichts befunden, nur Wasser. Trotzdem hatte die Aufschlagwucht der Thorhämmer ausgereicht, um Funken auf dem Wasser des Ozeans zu schlagen.

In weniger als einer Sekunde war alles vorbei. Ich stieß den Atem aus, den ich unbewußt angehalten hatte. Mein Gott, dachte ich schwerfällig, wie schnell sind diese Dinger heruntergekommen? Ich rechnete es rasch durch.

Angenommen, sie flogen mit Umlaufgeschwindigkeit, wenn sie in die Atmosphäre eintauchten. Wie hoch würde die liegen? So in etwa bei 35000 Stundenkilometern - mit anderen Worten, bei etwa 10 Kilometern pro Sekunde, vielleicht dem Zehnfachen der Geschwindigkeit einer Gewehrkugel. Und natürlich waren Thorhämmer viel größer als Gewehrkugeln. Man bezeichnete sie auch als ›schlaue Brecheisens Angenommen, jeder Hammer hatte eine Masse von einem Kilogramm. Wieviel kinetische Energie enthielt ein Kilogramm Masse, das sich mit einer Geschwindigkeit von 10000 Metern pro Sekunde bewegte? Wenn mich meine High-School-Physik nicht im Stich ließ - und ich nicht irgendwo eine Zehnerpotenz unterschlagen hatte entsprach das 100000000 Joule an Energie: hundert Megajoule. Pro Brecheisen. Und wie viele Brecheisen hatte die Salve beinhaltet, die wir gerade gesehen hatten?

Mir war kalt. Kein Wunder, daß die Pazifikflotte kehrtgemacht hatte, als die Megakonzerne ihr damals im Jahre 2017 einen Warnschuß vor den Bug gesetzt hatten.

Ich hörte ein Geräusch hinter mir und drehte mich überrascht um. Pohaku starrte aus dem Fenster, die Zähne in einer Grimasse der Wut gebleckt... und er knurrte. Ich zuckte die Achseln. Ich nehme an, daß mich die Sache wohl auch ziemlich auf die Palme gebracht hätte, wenn das mein Land gewesen wäre.

»Licht, bitte«, sagte Gordon Ho leise. Während einer der Leibwächter das Licht wieder einschaltete, wandte sich der Ex-Ali'i vom Fenster ab und ließ sich auf einen Sessel sinken. Er nahm ein Whiskeyglas vom Tisch neben sich - tatsächlich war es meines, aber ich würde ihm deswegen keinen Vortrag halten, nicht jetzt - und leerte es mit einem Zug.

»Wie wird die Reaktion ausfallen?« fragte er erneut, und diesmal wußte ich, daß die Frage an mich gerichtet war.

Ich zuckte die Achseln. »Sie kennen Ihr Volk besser als ich.«

Er lächelte darüber. »Das habe ich auch gedacht.« Er hielt kurz inne, dann fuhr er fort: »Es hängt davon ab, wie sehr ALOHA die Leute aufgewiegelt hat... und wie verrückt ALOHA ist, wenn man es genau nimmt.

Es ist noch möglich umzukehren«, fuhr er mit einem Seufzer fort. »Na Kama'aina will keinen Krieg mit den Konzernen. Wenn die Regierimg ALOHA zügeln kann, wenn sie weitere Provokationen verhindern kann, sollte es möglich sein, die Dinge wieder unter Kontrolle zu bekommen.«

Ich nickte. Was Ho sagte, ergab einen Sinn, aber es klang mir zu sehr wie Barnards Bemerkung von vor ein oder zwei Tagen, daß »sich vielleicht die klügeren Köpfe durchsetzen würden« oder so ähnlich. Offenbar hatten sie sich noch nicht durchgesetzt. Würde sich das ändern?

Ich sah wieder aus dem Fenster. Nun, da die Demonstration vorbei war, fuhren auch wieder Autos auf den Straßen. Nicht so viele wie üblich, aber zumindest sah Waikiki nicht mehr wie eine Geisterstadt aus. Aus westlicher Richtung - von Sand Island? fragte ich mich unwillkürlich - näherte sich eine kleine Gruppe Lichter, die vor der Dunkelheit des Himmels hell leuchteten. Hubschrauber - zwei oder drei. Vielleicht Konzern-Shuttles, die in die Stadt flogen, um VIP-Urlauber abzuholen und zum Flughafen zu bringen, wo sie die Inseln mit einem Suborbitalflugzeug verlassen würden? Ich wußte es nicht, und im Moment war es mir auch ziemlich egal. Ich wollte mich abwenden.

Ich sah es nicht direkt, sondern nur aus dem Augenwinkel. Ohne Warnung blitzte irgend etwas links von mir aufwärts, fast wie ein Thorhammer verkehrt herum. Die Lanze aus feurigem Licht erfaßte einen der Hubschrauber und verwandelte ihn in einen schmutzig orange-schwarzen Feuerball. Die verbliebenen Hubschrauber lösten ihre Formation auf, tauchten nach unten und löschten dabei ihre Positionslichter. Ein oder zwei Sekunden später waren sie nicht mehr zu sehen.

Ich drückte die Nase gegen das Fenster und sah in schockiertem Entsetzen zu, wie brennende Trümmer auf Straßen und Hausdächer fielen.

Gordon Ho hatte nichts gesehen, aber er wußte, daß etwas geschehen war. Er starrte mich an. »Was war das?«

Ich antwortete nicht sofort. Statt dessen ging ich zu ihm und ließ mich auf einen Sessel fallen. Schließlich sagte ich: »Es sieht nicht so aus, als wäre jetzt die richtige Jahreszeit für klügere Köpfe.«


Bei dem abgeschossenen Hubschrauber handelte es sich tatsächlich um einen Konzern-Vogel, das bestätigten Gordon Hos Informanten etwa eine Stunde später. (Ich hatte es mir schon gedacht, aber derzeit fühlte ich mich nicht besonders gut, wenn sich eine Prophezeiung von mir bestätigte.) Die Lanze aus feurigem Licht war eine Boden-Luft-Rakete vom Typ Parsifal gewesen, ein veraltetes Modell von Saeder-Krupp. Darin lag eine gewisse Ironie, da es sich bei dem Hubschrauber, den die Rakete erwischt hatte, um einen Saeder-Krupp-Vogel handelte.

Gordon Ho und ich standen wieder Schulter an Schulter vor dem Fenster von Zimmer 1905. Die Straßen unter uns waren jetzt bis auf einige wenige Sicherheitsfahrzeuge der Konzerne leer, die wie flammende Lichtstreifen vorbeisausten. Dafür waren mehr Helikopter in der Luft - eckige, brutal aussehende Kampfhubschrauber anstatt der stromlinienförmigeren unbewaffneten Transporter -, die herumschwirrten wie wütende Hornissen. Die meisten flogen ständig scharfe Manöver, falls irgendwo dort draußen noch ein Raketenteam lauerte, und ruckten wahllos nach rechts und links oder oben und unten. Manche setzten für alle Fälle noch Leuchtkugeln ab, sonnenhelle Lichtpunkte. Ich konnte keine Farben oder Insignien erkennen, also wußte ich nicht, wessen Kopter es waren, aber es war ganz klar, daß sie zu verschiedenen Konzernen gehörten. Ebenso klar war, daß besagte Konzerne nicht sonderlich effizient zusammenarbeiteten. Im Zeitraum von fünfzehn Minuten sah ich ein halbes Dutzend Beinahe-Zusammenstöße verschiedener Hubschrauber. Hin und wieder konnte ich -gedämpft durch die Doppelglasscheiben - das Knattern automatischer Waffen hören. Kämpften Angriffsteams von ALOHA tatsächlich gegen die Konzerntruppen, oder schössen die Sicherheitsleute der Konzerne aufeinander - die Boden-Version jenes chaotischen Ringelreihens am Himmel? Das ließ sich unmöglich sagen.

Schließlich wandte sich der Ex-Ali'i vom Fenster ab und kehrte zum Sofa zurück. Nach einer Weile schloß ich mich ihm an. Pohaku sah immer noch so aus, als suche er einen Vorwand, jemandem den Kopf abzureißen - irgend jemandem -, aber zumindest besaß er noch die Geistesgegenwart, unsere Gläser neu zu füllen.

Ho streckte sich und ließ Hals und Schultern kreisen. Mir fiel plötzlich auf, daß er so aussah, als sei er in den letzten Stunden um zehn Jahre gealtert. Tja, ich schätze, das kann passieren, wenn man zuerst abgesetzt wird und dann mitansehen muß, wie das eigene Land auf einen Krieg zutaumelt.

»Was nun?« fragte ich.

Ho sah mich an und lächelte. (Wenigstens glaube ich, daß es ein Lächeln sein sollte. Es sah mehr wie die Grimasse eines Mannes unter der Folter aus.) »Ich habe das Orakel-Geschäft aufgegeben«, sagte er. Dann verblaßte sein Lächeln, und seine Augen sahen plötzlich noch müder aus.

»Die Regierung hat nicht viele Möglichkeiten«, fuhr er ruhig fort. »Sie muß schnell handeln, damit ihr der Gerichtshof nicht zuvorkommt. Was bedeutet, sie kann nicht viel gegen ALOHA unternehmen.«

Ich nickte. Das ergab auf grimmige, häßliche Weise einen Sinn. Einen militanten Policlub - mit anderen Worten und bei genauerem Hinsehen, eine Terroristengruppe - zu verfolgen und zu neutralisieren ist niemals eine kurzfristige Lösung. Man braucht Hilfsmittel, und man braucht Zeit. Die von der Na Kama'ama dominierte hawai'ianische Regierung mochte ersteres haben, aber Ho glaubte offenbar nicht, daß ihr die Konzerne letzteres im Übermaß einräumen würden... und ich gab ihm recht. Drek, bei genauerem Hinsehen stellte sich sogar die Frage, ob das Ausradieren eines militanten Policlubs auch auf lange Sicht überhaupt möglich war. Fragen Sie die FBI-Teams, die den Auftrag hatten, Humanis und Alamos 20K zu eliminieren. »Und welche Möglichkeiten sind das?« fragte ich.

Gordon Ho zuckte die Achseln. »Wenige.« Er seufzte. »Verhandlungen - aber das setzt voraus, daß die Konzerne ein Interesse daran haben zuzuhören, was in diesem Stadium keineswegs gewiß ist.

Oder eine Gegendrohung«, fuhr er mit bekümmerter Stimme fort. »Die Konzerne halten der Regierung eine Kanone an die Schläfe: Thor. Die Regierung muß ihre eigene Kanone ziehen.« Er zuckte wiederum die Achseln. »Ein Patt. Aber zumindest hätten dann beide Seiten etwas mehr Zeit, um zu verhandeln, bevor das Töten anfängt.«

Ich hob eine Augenbraue. »Einen Bluff, meinen Sie?«

»Ein Bluff würde nicht funktionieren. Die Gegendrohung muß schon Substanz haben.«

»Ja, klar«, schnaubte ich. »Die Konzerne bedrohen?« Die Vorstellung war so lächerlich, daß ich beinahe laut aufgelacht hätte.

Doch Ho fand das nicht komisch. »Sie wären überrascht, Dirk«, sagte er düster.

Jetzt lachte ich laut... und verstummte dann so abrupt, daß ich fast meine Zunge verschluckt hätte. Plötzlich fielen mir wieder die verrückten Sachen ein, die Scott mir bei unserem ersten gemeinsamen Frühstück erzählt hatte, die Geschichten über den verdrehten Drek, der am Sezessionstag abgegangen war. Drek, jetzt fiel mir auch wieder ein, daß mir bezüglich der Sezession einige bedeutende Fragen durch den Kopf gegangen waren.

Erstens, warum hatten die Vereinigten Staaten Hawai'i so bereitwillig aufgegeben? (Okay, sie hatten versucht zurückzuschlagen... einmal. Doch nach den Warnschüssen auf den Flottenverband hatten sie sich praktisch auf den Rücken gewälzt und sich tot gestellt. Kein Versuch, ihre Militärbasen zurückzuerobern.) Zweitens, wie hatte eine Bürgermiliz die sogenannte Zivile Bürgerwehr - eine durch und durch militärische Einsatztruppe - besiegen können? Die einzige Antwort, die überhaupt einen Sinn ergab, war ein großer Stock, mit dem die guten alten Vereinigten Staaten bedroht worden waren.

Ich wandte mich an Gordon Ho. »Raus damit«, sagte ich leise.

»Natürlich Magie«, antwortete er sofort. »Nui Magie. Große Magie.«

Ich hörte ein fast sublimes Klicken im Hinterkopf. »Orte der Macht«, sagte ich.

Der Ex-König nickte. »Natürlich«, bestätigte er. »Auf Hawai'i gibt es einige bedeutende.«

Ich spürte einen eisigen Hauch durch meine Seele wehen. »Sie unterhalten irgendein Projekt, nicht wahr? Und es hat schon vor der Sezession begonnen, richtig?«

»Natürlich«, sagte er wiederum. »Wir sind eine kleine Nation. Wir brauchen eine Art Gleichmacher.«

»Erzählen Sie mir davon.«

Ho zuckte die Achseln. »Ich glaube, es war die Idee meines Vaters. Er und sein Kahuna - sein schamanischer Ratgeber - haben sich die Einzelheiten ausgedacht. Natürlich hatten sie vom Großen Geistertanz in den Staaten gehört. Die Bundesregierung wollte die Details zurückhalten, aber Neuigkeiten sickern immer durch.

Als mein Vater und seine Ratgeber erfuhren, daß eine andere Gruppe von Ureinwohnern, die Amerindianer, Magie in großem Maßstab zu einer militärischen Waffe entwickelt hatten, sagten sie sich, wenn es in der Prärie funktionierte, warum dann nicht auch auf den Inseln?«

»Sie haben Ihren eigenen Großen Geistertanz aufgeführt«, sagte ich perplex.

Ho nickte. »Im wesentlichen ja. Natürlich gab es Unterschiede im Detail. Die hawai'ianischen Traditionen unterscheiden sich sehr von denjenigen, auf die sich Daniel Howling Coyote berufen hat. Aber die Prinzipien waren dieselben: eine Versammlung von Schamanen -Kahunas -, die ihre Lebenskraft benutzten, um ein großes Ritual mit Energie zu speisen.

Aber wir hatten einen großen Vorteil, über den Howling Coyote nicht verfügte«, fuhr der Ex-Ali'i fort. »Wir hatten die Orte der Macht, die Sie erwähnten. Die Kahunas konnten einen Großteil des benötigten Manas direkt aus dem Land gewinnen, anstatt auf ihre eigene Lebenskraft zurückgreifen zu müssen. Natürlich sind trotzdem einige gestorben, aber der Preis war für uns wesentlich geringer als für Howling Coyote.«

Mich schauderte. Die fast beiläufige Art, wie Ho über all das redete, ließ mich frösteln. Die Rituale, die er beschrieb, waren ›Blutmagie‹. Irgendwo hatte ich gelesen, daß der ›Preis‹ für den Großen Geistertanz in Dutzenden, vielleicht Hunderten von Schamanen gemessen wurde, die ihr Leben geopfert hatten, um das Ritual in Gang zu setzen. Offenbar war hier auf Hawai'i dasselbe geschehen: ›Wahre Gläubige‹ hatten im Prinzip Selbstmord begangen, um den Inseln zur Unabhängigkeit zu verhelfen.

»Wo hat das stattgefunden?« fragte ich. »Auf dem Puowaina?«

»Auf dem Berg der Opfer?« Hos Augenbraue zuckte. »Das wäre angemessen gewesen, oder? Aber damals wurde der vulkanische Krater des Haleakala ausge-wählt, weil er eine höhere magische ›Hintergrundstrah-lung‹ hatte, was das Ritual erleichterte.«

Irgend etwas anderes klickte in meinem Hinterkopf. Es war, als hätte ich mich in den letzten paar Tagen vergeblich mit einem Puzzle beschäftigt und nun plötzlich jemand angefangen, mir ein Teil nach dem anderen anzureichen. »Er dauert noch an, nicht wahr?«

»Der Tanz?« Ho schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er kategorisch. Dann: »Nicht als solcher.«

Ich blickte ihm in die Augen und sah, daß er sich darüber klar zu werden versuchte, was er mir erzählen sollte und was nicht. »Raus damit, e Ku'u lani«, sagte ich noch einmal.

Er zögerte einen Augenblick, dann sah ich, daß er zu einer Entscheidung gelangte. »Der Tanz endete mit der Sezession«, sagte er, »aber es gab einige interessante Konsequenzen. Aus irgendeinem Grund lag die Hintergrundstrahlung im Haleakala-Krater nach dem Tanz höher als zuvor. Tatsächlich sogar um ein beträchtliches höher. Natürlich wollten wir wissen, warum. Und wir wollten auch in Erfahrung bringen, wie sich diese zusätzliche Macht nutzen ließ. Mein Vater hat eine Forschungsstation am Kraterrand eingerichtet. Das Projekt erhielt den Codenamen ›Sonnenfeuer‹. Dem Projekt wurde ein Stab Kahunas zugeteilt, die herausfinden sollten, was mit der Hintergrundstrahlung geschehen war...«

»Und wie man sie nutzen konnte«, fügte ich hinzu.

Er nickte unbehaglich. »Ja. Anfangs. Aber als ich den Thron übernahm, beschloß ich, mich von dieser Seite der Medaille fernzuhalten.«

»Warum, um Himmels willen?« wollte ich wissen.

Der Ex-Ali'i schaute noch unbehaglicher drein. »Sie hat mich überzeugt«, sagte er, indem er Akaku'akanene zunickte, die wieder ihren Lotussitz eingenommen hatte, ins Leere starrte und den Gänsen zuhörte.

»Sie?«

»Sie hat mich praktisch großgezogen, Dirk«, sagte er beinahe entschuldigend. »Natürlich hörte ich auf sie, wenn sie mich vor irgend etwas warnte.«

»Warum?« hakte ich nach. »Wo lag das verdammte Problem?«

Er sah weg, offenbar nicht in der Lage, meinem Blick zu begegnen. »Sie wußte es nicht«, gab er zu. »Nicht wirklich. Sie hatte nur so ein Gefühl. Man könnte es eine Vorahnung nennen.« Er zuckte noch einmal die Achseln. »Das hat mir gereicht, Dirk«, sagte er ernsthaft. »Schließlich kannte ich sie. Ich wußte, wie ihre Vorahnungen waren. Wenn sie spürte, daß etwas gefährlich war... nun, mir hat das gereicht«, wiederholte er.

Wieder ein Klicken im Hinterkopf. »Das hat sich geändert, nicht wahr?«

»Gegen meinen Willen, ja«, bestätigte Ho. »Vor sechs Jahren hatte die Na Kama'aina-Fraktion im Parlament schließlich genug Einfluß gewonnen, um das Projekt Sonnenfeuer praktisch übernehmen zu können. Sie richteten das Hauptaugenmerk der Forschung vom schlichten Begreifen wieder auf Ausbeutung. Sie glaubten, das Königreich könnte die Macht, die der Haleakala repräsentiert, eines Tages gut gebrauchen.

Vielleicht hatten sie recht«, fügte er mit einem schiefen Blick aus dem Fenster und auf den fliegenden Zirkus der Hubschrauber über der Stadt hinzu.

Und dann kam das letzte Klicken in meinem Hinterkopf. Plötzlich war mir echt kalt, als hätte jemand die Klimaanlage des Zimmers an einen Industriekühlraum angeschlossen. »Das ist der große Stock, nicht wahr?« Ho blinzelte verwirrt, also führte ich das näher aus. »Das ist Na Kama'ainas Gegendrohung, die sie gegen die Konzerne einsetzen wird. Sie wollen Macht aus dem Haleakala ziehen.«

»Natürlich«, sagte er schlicht.

Ach, Drek... Das mußte es sein, wovon Wanzen-Bubi geredet hatte, oder?

Die schreckliche Erkenntnis muß sich auf meinem Gesicht widergespiegelt haben, weil Ho fragte: »Was ist los, Dirk?«

»Wir müssen Projekt Sonnenfeuer stoppen, e Ku'u lani«, sagte ich zu ihm. »Wir müssen es stoppen, und zwar sofort.«