4

Die Magazine und Datenfaxe wissen traditionell nichts Gutes über die vielen Kurzstreckenflugzeuge in der Sioux Nation zu berichten. Zu viele Fluggesellschaften, zu wenig Inspektionen, zu viele Fälle von Pilo-tenversagen, zu wenig ernsthafte Unfalluntersuchungen, drekcetera. Als ich also den Federated-Boeing Com-muter in seinem Sioux-Skybus-Outfit bestieg und mich auf einem Fensterplatz anschnallte, rechnete ich mit einem haarigen Flug.

Fehlanzeige, Chummer, alles lief so glatt wie Kunstseide. Okay, es stimmt, ich konnte an dem etwas zu kleinen Vorhang vorbei und in die Pilotenkanzel sehen, und es störte mich tatsächlich ein wenig, Pilot und Copilot -die per Glasfaserkabel in das Flugsystem eingestöpselt waren - dabei zu beobachten, wie sie eine Partie Crib-bage während des Steigflugs spielten. Aber ansonsten gab es keine Probleme.

Wir landeten um vier Uhr fünfundvierzig auf dem Kurzstreckenterminal des Internationalen Flughafens von Casper, so daß mir fünfzehn Minuten blieben, um mein Gepäck einzusammeln und zum internationalen Terminal zu wechseln. Den Schildern zufolge gab es einen automatischen Rollsteig, der die Passagiere den Kilometer vom einen Terminal zum anderen beförderte. Doch anderen - hastig mit der Hand geschriebenen - Schildern zufolge war der Rollsteig wegen Wartungsarbeiten gesperrt und hätte seit drei Tagen wieder in Betrieb sein sollen, vielen Dank für Ihre Geduld. Es gab auch Shuttle-Busse, aber derjenige, den ich zu erwischen versuchte, war voll - jedenfalls sagte mir das der große, stämmige amerindianische Fahrer, obwohl ich ein Dutzend leere Plätze sah - und rollte fast über meine Zehen, als er losfuhr. Nun, es war sowieso ein netter Morgen für einen kleinen Spaziergang- Ich bekam nicht nur etwas Bewegung, sondern auch einen guten Blick auf das internationale Terminal, der mir auf dem unterirdischen Rollsteig entgangen wäre. Es bietet einen Anblick, den ich mir um nichts in der Welt hätte entgehen lassen wollen... Null! In der Dunkelheit der Dämmerung sah es im grellen Licht der Bogenlampen wie ein überwachsener Raketenbunker aus: Fertig-Stahlbeton mit weniger ästhetischer Anziehungskraft als ein Ziegelstein.

Mit den Suborbitalflugzeugen verhielt es sich jedoch ganz anders. Während ich über den Zufahrtsweg latschte - und dabei lauthals die beiden Shuttle-Busse verfluchte, die an mir vorbeirauschten, ohne auch nur langsamer zu werden -, konnte ich drei dieser Dinger auf dem Rollfeld jenseits des Terminalgebäudes sehen. Glänzend weiß im Licht der Bogenlampen, waren sie wunderschön - geometrisch exakt, als sei die kristalline Reinheit der Mathematik irgendwie Gestalt geworden. Okay, ich gebe es zu, den letzten Vergleich habe ich von einem Trideo-Quatschkopf übernommen. Aber er hatte recht. Die Suborbitalflugzeuge waren umwerfend, auf eine herzbewegende Art unglaublich schön. Sie gehören nicht hierher auf den Boden - das ist der Gedanke, der mir unwillkürlich kam. Die Zeit, die sie hier unten im Drek verbringen, ist reine Wartezeit, bloße Zeitschinderei, bis sie wieder in das Element eintauchen, für das sie geboren wurden...

Das herzerwärmende Gefühl der Ehrfurcht hielt an, bis ich das internationale Terminal betrat, und verschwand exakt eine Mikrosekunde, nachdem ich die Zollbeamten und Sicherheitsinspektoren erblickt hatte, die mich am Ausgang erwarteten. Seufz. Man sollte meinen, die Tatsache, daß ich im Besitz eines Konzerntickets war, würde mir einen Vorteil bei den Inspektoren verschaffen, mir irgendeine Sonderbehandlung garantieren, oder nicht? Pech gehabt, Chummer. (Oder vielleicht -und das war ein schauerlicher Gedanke - war das, was ich durchmachte, die Sonderbehandlung...) Jedenfalls, während ein Haufen Techniker meine Tasche durchsuchte, durchleuchtete, magisch abtastete und sondierte, taten ein paar Trolle mit hartem Blick und hornigen Händen in zu kleinen Uniformen dasselbe mit mir. Metalldetektoren, um die Zusammensetzung meiner Zahnfüllungen zu analysieren. Chemoschnüffler, um zu überprüfen, ob ich saubere Unterwäsche trug. Magische Untersuchungen, um ganz sicherzugehen, daß ich kein Feuerelementar war, der sie an der Nase herumführen wollte. Die volle Prozedur. Schließlich - und erst, nachdem die uniformierten Herren eine detaillierte Liste jedes Stäubchens und jeder Fussel in meinem Besitz angelegt hatten - wurde ich durchgewinkt.

Dann kam die Einwanderungskontrolle oder Auswanderungskontrolle, oder wie, zum Henker, die Sioux-Regierung das jetzt nennt. Wiederum sah ich zu einigen uniformierten amerindianischen Trollen auf, während ihr Computer surrte und klickte und zu entscheiden versuchte, ob ihm die Paßdaten auf meinem Kredstab gefielen oder nicht. Und ich versuchte nicht zu schwitzen. Angeblich handelte es sich um die besten Falschdaten, die man für (viel) Geld kaufen konnte, aber man weiß immer erst, wie gut derartiger Drek ist, wenn er einem ernsthaften Test unterzogen wird. Mein Schließmuskel krampfte sich zusammen, als der Computer scharf knackte. Doch die Trolle gaben mir wortlos meinen Kredstab zurück und winkten mich durch. Schilder wiesen mir den Weg zum Flugsteig, also folgte ich ihnen.

Und hätte fast einen kindischen Unfall gehabt, als eine schwere Hand auf meiner Schulter landete. Ich fuhr herum, und ich glaube, ich konnte mich gerade noch beherrschen, laut aufzuschreien. Ich sah auf, da ich einen weiteren Troll erwartete... und dann rasch nach unten, als sich der Bursche, der mich angehalten hatte, rasselnd räusperte. Er war ein Zwerg, noch stämmiger und mürrischer als die meisten seines Metatyps, der immer noch auf den Zehenspitzen stand, nachdem er sich hochgereckt hatte, um mir die Hand auf die Schulter zu legen. Er trug den unauffälligen schwarzen Anzug, den ich mittlerweile mit Regierungsagenten assoziierte, und eine kalte Faust krampfte sich um meinen Magen. Irgendwie schaffte ich es, ein wohlmeinendes Lächeln auf meine Lippen zu zaubern. »Gibt es irgendein Problem?« fragte ich freundlich.

»Sind Sie Brian Tozer?«

Ich nickte. So lautete der Name in meinem gefälschten Datenwust. »Das bin ich... äh... Sir. Gibt es ein Problem mit meinem Ticket?«

»Folgen Sie mir bitte.« Und er machte kehrt und ging weg, ohne sich umzusehen. Offenbar erwartete er, daß ich ihm blindlings folgte.

Was ich natürlich auch tat - nicht, daß ich eine Wahl gehabt hätte. Ich folgte ihm durch eine Tür ohne Aufschrift in einen kleinen, kahlen Raum und wappnete mich gegen eine Durchsuchung meiner Körperöffnungen oder Schlimmeres.

Der Zwerg sagte nichts, nachdem er die Tür hinter mir geschlossen hatte. Er fixierte mich lediglich mit dunklen Augen, die sich unter buschigen Brauen verengten. Wenn er nichts sagte, ich würde es gewiß nicht tun. Falls wir das alte Abwartespiel ›Wer spricht zuerst‹ spielten, würde irgendwann in ein paar Jahren ein Flughafenangestellter die Tür öffnen und in diesem kahlen Raum zwei vertrocknete Leichen finden, die sich immer noch anstarrten.

Schließlich runzelte er die Stirn, und seine Brauen verschmolzen zu etwas, das wie ein überfahrenes Eichhörnchen aussah. »Sie sind Brian Tozer?« fragte er.

Und da begriff ich. Ich zog meinen Kredstab - den mit dem digitalen Paßwort darauf - und hielt ihn ihm hin. Er grinste höhnisch - »Dämlicher Penner«, konnte ich ihn denken hören - und schob ihn in die übergroße Chipbuchse am Schädelansatz. Er verdrehte kurz die Augen. Dann zog er den Kredstab heraus, gab ihn mir zurück und hielt mir etwas hin. Einen Chip: ein winziger Splitter aus unreinem Silikon von der Größe einer Bleistiftspitze in einem Chipetui von der Größe meines Daumennagels.

»Das ist die Ware für unseren gemeinsamen Freund«, grunzte er, indem er sich bereits abwandte.

»Augenblick«, sagte ich rasch. Er drehte sich wieder um, und eine seiner Augenbrauen versuchte in seinen Haaransatz zu kriechen. »Hören Sie«, sagte ich zu ihm, »ich habe nicht die geringste Ahnung, wohin ich gehe, wem ich die Ware geben soll und wann das geschehen soll. Glauben Sie nicht, es würde meinen Job etwas vereinfachen, wenn...«

Er schnitt mir mit einem schneidenden »Man wird Sie in Empfang nehmen« das Wort ab. Und wiederum drehte er mir den Rücken zu und trollte sich. Diesmal ließ ich ihn gehen. Ich warf einen Blick auf das Chipetui in meiner Hand, und einen Moment lang verspürte ich den Drang, es zu Boden zu werfen, den Chip unter dem Absatz zu zerquetschen und dann einfach zu rennen wie der Teufel. Diese angenehme Vorstellung hielt jedoch nicht lange an. Ich seufzte, öffnete die Tür und befand mich wieder auf einem Gang innerhalb des Terminals.

Während ich dem Zwerg gefolgt war, hatte ich meinen Flugsteig aus den Augen verloren. Glücklicherweise fiel einem Flughafenangestellten - einem nach Öffentlichkeitsarbeit aussehenden Burschen mit krebsiger Sonnenbräune und Plastiklächeln - auf, daß ich ziemlich verloren dreinschaute. Tatsächlich war er sogar freundlich zu mir - ein Novum für den heutigen Tag - und führte mich direkt zur Abfluglounge von Global Airways.

An dieser Stelle hellten sich die Dinge ein wenig auf. Ich hatte mit dem üblichen, trostlos und steril aussehen-den Pferch mit seinen Plastiksitzen gerechnet, die speziell so konstruiert worden sind, daß es kategorisch unmöglich ist, eine bequeme Sitzposition auf ihnen einzunehmen. Den üblichen fleckigen bürograuen Teppich. Die üblichen Zusteige-Abflug-Durchsagen, die nach allem, was sie an Sinn vermitteln, auch in Urdu vorgetragen werden könnten. Das übliche Gedränge von (Meta-)Menschen, in dem man zu vermeiden versuchte, daß einem jemand auf die Zehen trat, während man das alte Spiel ›Erkenne den Flugzeugentführer spielte.

Aber genau hier kam das Konzernticket ins Spiel, und zwar gewaltig. Der sonnengebräunte Bursche mit dem Plastiklächeln führte mich direkt durch den Pferch, in dem der Pöbel untergebracht war, an einem bewaffneten Sicherheitsposten vorbei, der sich tatsächlich an die Mütze tippte, als ich vorbeiging, und durch eine Doppeltür, die möglicherweise tatsächlich aus echtem Mahagoni war. Als wir hindurchgingen, mein sonnengebräunter Schatten und ich, sah ich ein ganzes Arsenal winziger LED-Anzeigen zu beiden Seiten der Tür aufleuchten. Noch ein Waffendetektor. Ich gratulierte mir ein weiteres Mal zu dem Entschluß, abgesehen von meinem messerscharfen Verstand unbewaffnet zu reisen.

Die Global Airlines Wartelounge für Passagiere der Vorzugsklasse - so lautete die Bezeichnung auf dem Schild an der Tür - sah wie eine Kreuzung aus einem Herrenclub im edwardianischen London (oder zumindest wie dessen BBC-Wiedergabe) und dem Ausstellungsraum eines vornehmen Computerhändlers aus. Massive Holzvertäfelung, weinrote Plüschteppiche, hochlehnige Ledersessel, Kristallkaraffen auf Mahago-nischränkchen... und überall Pinkel, die auf Palmtop-Computern herumhämmerten, in Mobiltelekoms plapperten oder mit spinnwebdünnen Glasfaserkabeln in den Schläfen ins Leere starrten. Von den etwa fünfzehn Leuten in der Lounge waren die einzigen, die nicht mit einem elektronischen oder verbalen Austausch beschäftigt waren, ich, der Sonnengebräunte - der sich nach einer letzten öligen Bemerkung rar machte - und eine besonders wohlgeformte Bardame, deren Lächeln ahnen ließ, daß sie mich wirklich als Kunden brauchte, um ihr den Tag zu versüßen. Aus reiner Herzensgüte gehorchte ich ihr und verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, den besten von allen möglichen Single-Malt Scotch Whiskys zu genießen - kostenlosen Single-Malt Scotch Whisky.

Schließlich kam der Aufruf zum Besteigen des Flugzeugs - und zwar in Gestalt einer wohlgeformten und eindeutig zur Gattung der Säugetiere gehörenden Stewardeß -, und wir gingen durch die Einstiegröhre der Vorzugsklasse. Dabei handelte es sich um einen Trans-pex-Zylinder - so sauber geschrubbt, daß man die Wände nur daran erkennen konnte, wie sie das von außen einfallende Licht brachen -, der sich vom Terminalgebäude bis zur Erster-Klasse-Passagiertür des Suborbitals erstreckte. Zwanzig Meter weiter befand sich eine ähnliche Röhre - die mich plötzlich an jene ›Wohnkäfige‹ erinnerten, in denen Kinder ihre Hamster einzusperren pflegen - für die Déclassé, die am Pferch der Billigklasse ihren Anfang nahm.

Ich ging ein paar Schritte in den Wohnkäfig und blieb dann abrupt stehen, womit ich mir einen bösen Blick von dem Shaikujin einhandelte, der mir - immer noch in seinen tragbaren Comp eingestöpselt - in die Hacken trat und gegen meinen Rücken prallte. Ich konnte es nicht ändern. Ich hatte noch nie Gelegenheit gehabt, ein Suborbitalflugzeug aus dieser Nähe zu betrachten, und ich würde sie ganz sicher nicht verstreichen lassen, damit er ein paar Sekunden eher zu seinem Gratis-Gin-Tonic vor dem Start kam.

Das Ding war gewaltig, viel größer, als ich erwartet hatte. Drek, Suborbitalflugzeuge befördern nur ungefähr 150 Personen. Wieviel Platz braucht man dafür? Aber natürlich ist viel mehr an einem Suborbitalflugzeug als nur die Passagierkabine. Da ist zunächst der ganze Kram, den jedes zivile Transportflugzeug hat: Düsentriebwerke, Treibstoff, Fahrgestell, Navigationsdrek, Frachträume und der Platz vorne, wo Mannschaft und Stewardessen ihre Parties feiern. Und dann ist da noch der Extrakram, den man braucht, wenn man in einer Höhe von 23 Kilometern und mit Geschwindigkeiten von Mach 20+ fliegt. SCRAMdüsen, um das Flugzeug auf Flughöhe und Reisegeschwindigkeit zu bringen. Treibstoff für die SCRAMdüsen... und zwar haufenweise (SCRAMdüsen sind nicht für ihren sparsamen Verbrauch berühmt). Kühlsysteme, die den Rumpf davor bewahren, daß er unter der Reibungshitze schmilzt. Und so weiter und so fort. Alles in allem war das Flugzeug länger als ein Fußballfeld, ein großer, Auftrieb erzeugender, einheitlicher Körper mit winzigen Stummelflügeln, die scheinbar nachträglich angeflanscht worden waren. Die Linien des Rumpfes folgten irgendeinem komplexen - und sehr schönen - Vielfach-krümmungsmuster, so daß das Ding an der Nase breit und hoch, nach hinten aber schmaler und dünner wurde: vielleicht so etwas wie ein asymmetrischer Tropfen.

Schließlich wurde der Druck des Shaikujm hinter mir zu stark, um ihn noch länger zu ignorieren, und ich mußte weitergehen. Einmal im Innern, hätte ich mich ebensogut auch in jedem beliebigen Flugzeug befinden können - Reihen um Reihen von Sitzen in einer Drei-Mittelgang-Drei-Anordnung -, wenn man von einem winzigen Detail absah: keine Fenster. Das an der Rückenlehne des Sitzes vor mir angebrachte Unterhaltungsarsenal entschädigte für diesen Mangel, entschied ich rasch, als ich meinen Platz gefunden hatte. Abgesehen von der üblichen Auswahl hirnloser Filme und noch hirnloserer ›klassischer Tri-V‹-Wiederholungen, boten mehrere der angebotenen Programme Bilder von verschiedenen, am Rumpf befestigten Mikrokameras.

Während die Stewardessen kostenlose Getränke und geschmacklose Imbisse verteilten - nur an die Passagiere der ersten Klasse, nicht an die große ungewaschene Flugvieh-Klasse, die eine Reihe hinter meinem Sitz begann -, fand ich großen Gefallen daran, den Gepäck-Kulis zuzusehen, die die Koffer der Leute harten Belastungstests unterzogen, da sie sie an Bord warfen.

Dann wurde uns die übliche Sicherheitsvorlesung gehalten - was man in einem Notfall zu tun hatte wie zum Beispiel, wenn der Kombüse die Bloody-Mary-Mi-schung ausging -, dann rollten wir an, und dann hoben wir ab. Auf dem Bildschirm in der Rückenlehne vor mir sah ich den Boden unter uns zurückfallen, zu einem maßstabsgetreuen Modell und schließlich zu einer Konturenkarte werden. Geschwindigkeit und Steigwinkel kamen mir - zumindest bei meiner geringen Erfahrung - ziemlich extrem vor. Aber dann setzten die SCRAMdüsen ein - tatsächlich warnte uns der Pilot sogar, bevor er sie zündete -, und ich bekam eine Vorstellung davon, was ›schnell‹ und ›steil‹ tatsächlich heißt. Lächerlich kurze Zeit später kam eine Stimme über Interkom, die uns mitteilte, daß wir unsere Flughöhe von 23 000 Metern erreicht hatten und mit der irrwitzigen Geschwindigkeit von 29000 Stundenkilometern flogen.

»Wir sind auf Kurs und pünktlich«, verkündete die freundliche Stimme, »und dürften gegen vier Uhr fünfzig örtlicher Zeit in Awalani landen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug.« Ich sah auf die Uhr, die ich bereits auf Hawai'ier Zeit eingestellt hatte: ein paar Minuten nach vier. Damit belief sich die Gesamtflugzeit Cas-per-Honolulu einschließlich Start und Landung auf weniger als eine Stunde. Ist der Fortschritt nicht wunderbar?

Mit einigem Bedauern schaltete ich den Blick nach draußen - ein entfernter Horizont, der eine eindeutige Krümmung aufwies - auf dem Bildschirm in der Rük-kenlehne vor mir ab und versuchte mich aufs Geschäft zu konzentrieren. Ich war noch nie zuvor im Königreich Hawai'i gewesen und wußte praktisch nichts darüber (mit Ausnahme dessen, was ich in Trid-Actionserien wie Tropische Hitze gesehen hatte). Klar, ein paar von den Möchtegern-Runnern, die in zwielichtigen Bars herumhängen und sich Gott weiß was einbilden, erzählen einem, daß die Schatten überall auf der Welt gleich sind. Aber das habe ich noch nie geglaubt. Drek, aus meiner eigenen bescheidenen Erfahrung weiß ich, daß es nicht so ist.

Die Schatten von Cheyenne sind ganz anders als der schäbige Unterleib des Seattier Sprawls. Vielleicht nicht, wenn die Betrachtungsweise abstrakt genug ist. Wenn man grundsätzliche Strukturen vergleicht, gibt es vieles, das sich ähnelt. Das Sex-Geschäft und die Chip/Drogen-Industrie. Das organisierte Verbrechen und bilderstürmende Eigenbrötler/Freischaffende. Gangs in allen Farben und Schattierungen. Abkocher und Betrüger, die die Abgekochten und Betrogenen belauern.

Aber wenn man die ganze Sache von einem persönlichen Standpunkt aus betrachtet - also nicht in akademischer, sondern in praktischer Hinsicht -, gibt es Unterschiede wie Tag und Nacht. Auf der grundsätzlichen Ebene sind die Gefahren gleich: die Cops, die Konzerne, die Konkurrenz. Auf der persönlichen Ebene haben sie andere und unbekannte Gesichter. In den Schatten kann man das Spiel - wie es auch gerade aussehen mag -manchmal nur gewinnen, indem man betrügt. Das ist viel schwieriger, wenn man nicht alle Regeln kennt und daher auch nicht weiß, wann man sie beugen oder brechen muß.

Mit meinem Umzug von Seattle nach Cheyenne hatte ich vertrautes Gelände verlassen. Ich hatte mein Kontaktnetz und viele meiner Hilfsquellen zurückgelassen. Ich hatte mein persönliches Wissen über die Funktionsweise des Unterleibs der Stadt zurückgelassen - wo man ein Schießeisen kaufen kann, welche Gassen man nachts besser meidet, welche Barmänner doppelt und dreifach beschwören, daß sie einen seit Wochen nicht mehr gesehen haben, während man sich hinter dem Bierkühlschrank versteckt. Jetzt stand ein erneuter Wechsel der Umgebung bevor, und dabei fühlte ich mich sehr unbehaglich.

Ich entfaltete die Membranen-Tastatur der Unterhaltungseinheit in der Rückenlehne vor mir und nahm mir die Datenbeschaffungsfunktion des Systems vor. Nicht schlecht für eine mobile Einheit. Irgendwo tief in den elektronischen Eingeweiden des Flugzeugs enthielt ein Chip die letzten Ausgaben der Columbia Hypermedien-Enzyklopädie und den Weltalmanach und das Buch der Tatsachen sowie ein paar knackige Suchalgorithmen. Und all das zum Nutzen von Global Airways hochgeschätzten Passagieren (und zu ihrer Beschäftigung, damit sie nicht zuviel tranken und die Stewardessen belästigten). Während das Suborbitalflugzeug fünfmal so schnell wie eine Gewehrkugel seinem Ziel entgegenschoß, machte ich mich daran, ein paar Suchstrings auszuarbeiten.


Als ich schließlich getan hatte, was ich konnte, befanden wir uns längst im Sinkflug, und die Stewardeß hatte mich bereits dreimal aufgefordert, meinen Sitz in die aufrechteste und unbequemste Position zurückzustellen. Ich hatte viel Stoff zum Nachdenken, als ich die Tastatur wieder zusammenfaltete und versuchte meinen Magen unten zu behalten, während das Suborbitalflugzeug in einen noch steileren Sturzflug überging.

Das Bordinformationssystem hatte mir einiges an Hintergrund geliefert, aber ich war sehr rasch zu dem Schluß gekommen, daß die Columbia Hypermedien-Enzy-klopädie für Grundschulkinder zusammengestellt worden zu sein schien, die wesentlich naiver waren, als ich es in diesem Alter gewesen war. Schön, sie war eine zuverlässige Quelle für Daten über die Bevölkerungszahl des Königreichs (vier Millionen und ein paar), seine Hauptstadt (Honolulu, wer hätte das gedacht), das durchschnittliche Jahreseinkommen (20 000 Nuyen) und anderen oberflächlichen Drek, den ein Kind für einen Aufsatz abschreiben würde. Aber mir wurde rasch klar, daß ich mir für die wesentlichen Informationen Quellen mit einer etwas reiferen Weltsicht würde suchen müssen.

Glücklicherweise bot das System in der Rückenlehne Zugang zum Kommunikationssystem des Flugzeugs und von dort aus eine Verbindung zum Amethyst-Sy-stem der erdnahen Kommunikationssatelliten. Über das Amethyst-Gitter konnte ich mich in Renrakus Daten-PFAD-System einschalten und mir somit Zugang zu den öffentlichen Datenbanken verschaffen, die mir von Seattle her vertraut waren. Drek, die Rückkehr in meine alten elektronischen Jagdgründe war aus einem Flugzeug 23 000 Meter über dem Pazifik leichter - nachdem ich mich mit dem Zugangsprotokoll zum System des Flugzeugs vertraut gemacht hatte -, als das RTG-System der Sioux dazu zu bewegen, dieselben Knoten anzuwählen. (Natürlich war es auch um einiges teurer. Als ich schließlich abschaltete und das System die Gebühren nannte, wurde ich ziemlich blaß, bevor ich den guten Leuten von Yamatetsu - in Abwesenheit - dankte, daß sie die Rechnung zahlten.) Das einzige, was mir das System nicht geben konnte, war Zugang zu einem Sha-dowland-Knoten. (Nun, vielleicht doch, aber die Verbindungsnachweise und Belege, die in den Eingeweiden des großen Flugzeugs gespeichert wurden, wären wie grelle Leuchtanzeigen mit der Aufschrift ›Shadowrun-ner an Bord‹ gewesen.)

Hier ist also eine Zusammenfassung dessen, was ich über das unabhängige Königreich Hawai'i ausgraben konnte, vorgetragen im unverwechselbaren Dirk-Mont-gomery-Stil. (Ach ja, rasch noch eines nebenbei: Festlandbewohner sind es wahrscheinlich nicht gewöhnt, Hawai'i mit Apostroph geschrieben zu sehen. In den verrückten alten Zeiten, als die Inseln noch ein Staat der mittlerweile nicht mehr existenten Vereinigten Staaten von Amerika waren, hatte man den Namen Hawaii geschrieben. Jetzt nicht mehr, Chummer. Eine sichere Methode, einen Inselbewohner auf die Palme zu bringen, ist die, den Namen seines Landes ohne Apostroph zu schreiben. Eine sicherere Methode ist offenbar die, ihn falsch auszusprechen: Der Name sollte wie Ha-WAI-i ausgesprochen werden, also mit einer deutlichen Pause vor der letzten Silbe. Auf den ersten Blick kam mir diese Fixierung auf die richtige Aussprache albern vor, aber dann überlegte ich mir, was ich von jemandem halten würde, der meine Geburtsstadt wie STtal aussprach.)

Okay, jeder, der in den Vereinigten Kanadischen und Amerikanischen Staaten eine Grundschule besucht hat, wird wissen, daß Hawai'i früher der fünfzigste Bundesstaat der Union war. Was ich nicht gewußt hatte, war, daß dies ursprünglich nicht auf dem Verhandlungsweg erreicht worden war, sondern tatsächlich durch die Aktionen eines amerikanischen Marineoffiziers, der sein Kanonenboot ein paar amerikanischen Raubrittern zur Verfügung gestellt hatte, die die amtierende nationale Regierung als Geschäftshindernis betrachteten. (Wer hat gesagt, die Geschichte wiederhole sich nicht? Ein Konzern, der im Prinzip einen souveränen Staat übernimmt? Das klingt doch nach dem frühen einundzwanzigsten Jahrhundert, neh?) Kaum war der regierende Herrscher, König Kamehameha III., abgesetzt, als sich ein gewisser Sanford B. Dole - ein hohes Konzerntier, der sein Vermögen mit Ananas oder irgendeinem anderen Drek gemacht hatte - zum Herrscher über die gesamte Inselgruppe erklärte.

Das war im Jahre 1893. Fünf Jahre später kamen die guten alten USA zu dem Schluß, daß es nichts Gutes war, einen Konzernpinkel als Staatsoberhaupt zu haben. Also griffen sie an und annektierten die Inseln von den Raubrittern, die sie zuvor von den eingeborenen Hawai'iern annektiert hatten...

Und pflasterten die Inseln mit Militärbasen voll - Marine, Luftwaffe, etcetera, drekcetera. 1959 beschloß die US-Regierung, diese Zwangsheirat von einer Annexion zu legitimieren, und erklärte die Inseln zum fünfzigsten Staat. Wiederum - zumindest den historischen Aufzeichnungen zu Folge, zu denen ich Zugang hatte -machte sich niemand die Mühe, die Eingeborenen nach ihrer Meinung zu dieser Veränderung zu befragen. (Hey, sie waren doch nur primitive Polynesier, nicht wahr? Und sie konnten nicht einmal wählen...)

Fünfzig Jahre lang blieben die Dinge mehr oder weniger unverändert. Gut, es gab gelegentliche Ausbrüche nationalistischer Bestrebungen und eine ›Hawai'i den Hawai'iern‹-Bewegung - deren bemerkenswerteste Vertreter eine Gruppe war, die sich Na Kama'aina (›Die Landkinder‹) nannte -, aber bis zur ersten Dekade des einundzwanzigsten Jahrhunderts passierte nicht viel.

Auf dem Festland braute sich etwas zusammen. Die amerikanische Regierung - und in erster Linie das amerikanische Militär - sah das Menetekel und wußte, daß das ›indianische Problem‹ sehr bald einen häßlichen, gewalttätigen Höhepunkt erreichen würde. Plötzlich wurden die Militärbasen auf Hawai'i noch wichtiger als zuvor. Dort gab es Basen und Einrichtungen, die die SAIM-›Terroristen‹ nicht so leicht sabotieren oder infiltrieren konnten. (Für ein paar militante Sioux-Krieger mußte es viel schwieriger sein, Pearl Harbor in die Luft zu jagen, als Colorado Springs zu terrorisieren - so lautete zumindest die Begründung.) Immer mehr bedeutende Projekte und Anlagen des Militärs wurden auf die Inseln verlegt, ›aus der Schußlinie‹ gebracht.

Hah und nochmals hah! Na Kama'aina und radikalere Splittergruppen wie die sich launig ALOHA (Army for the Liberation Of HAwai'i - Hawai'ianische Befreiungsarmee) nennende fingen an, die Hitzköpfe der SAIM als Vorbilder zu betrachten. Hey, wenn die Ureinwohner des Festlands den Anglos in den Hintern treten konnten, warum dann nicht auch sie?

Zwischen 2011 und 2013 liefen ALOHA und ihre bombenlegenden Genossen Amok und sprengten Regierungsgebäude, Armeekasernen und Militäreinrichtungen mit Autobomben und ähnlichen Nettigkeiten. Während dieser Zweijahresherrschaft des Terrors nahm ALOHA für sich in Anspruch, ungefähr 150 ›legitime‹ Zielpersonen beseitigt zu haben. (Ihre Anführer hatten nicht viel zu den über dreihundert Unschuldigen zu sagen, die als ›Begleiterscheinung‹ dabei draufgegangen waren.)

Wie vorauszusehen, erhitzte das die Gemüter. Auf Ersuchen der Landesregierung schickte der Bund ein Bataillon Truppen zur Marinekorps-Luftwaffenbasis Ka-neohe Bay, nannte die Kampftruppen in ›Bürgerwehr‹ um und machte sich daran, Köpfe einzuschlagen. Meinen Nachforschungen zufolge wurde eine überraschend hohe Anzahl mutmaßlicher ALOHA-Sympathisanten ›getötet, während sie sich der Verhaftung widersetzten‹ oder ›auf der Flucht erschossene Wer hätte das gedacht? (Ja, genau.)

Die Gemüter erhitzten sich weiter, und Na Kama'aina, ALOHA und ihre Anhänger verschwanden aus dem Blickpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Zumindest für eine Weile. Um Shakespeare (falsch) zu zitieren: die Bürgerwehr hatte die Schlange verwundet, aber nicht getötet. Die Brüder und Schwestern von ALOHA arbeiteten weiter, aber jetzt eher im Schatten als unter der hellen tropischen Sonne.

Irgendein heller Kopf kam zu dem Schluß, daß ein Propaganda-Coup erforderlich war, also hielten ALOHA und die anderen nach einem echten Ab-kömmlimg von König Kamehameha I. Ausschau, dem Ali'i (›König‹), der die Inseln ursprünglich vereint und einen Haufen kleiner Felsen und Vulkangestein in eine Nation verwandelt hatte. Und, welche Überraschung, sie fanden einen. (Natürlich: Wenn man intensiv genug nach etwas sucht, wird man es auch finden... ob es tatsächlich existiert oder nicht.) Anscheinend war ein gewisser Danforth Ho - ein vierundzwanzigjähriger Managementberater auf der Insel Maui, der zufällig zu einem Viertel polynesischer Abstammung war - tatsächlich ein direkter Abkömmling von König Kam I. ... und daher der Wahre und Rechtmäßige König der Inseln. Nun, da ALOHA und Gefolgschaft einen ›rechtmäßigen König im Exil‹ präsentieren - oder zumindest darüber reden - konnten, schwenkten immer mehr Inselbewohner zu ihnen über. (Die Tatsache, daß die Bürgerwehr nicht unbedingt darauf achtete, wessen Köpfe sie einschlug, kann nicht geschadet haben.)

Nun dachten Na Kama'aina und ALOHA offenbar, daß ihr ›Ali'iim Exil nur eine Marionette sei, ein Sprachrohr, das sie benutzen konnten, um sich in den Reihen der Bevölkerung Unterstützimg zu sichern. Und zuerst schien das auch zuzutreffen. Danforth Ho war nicht unbedingt aus dem Holz geschnitzt, aus dem man Könige macht. In dieser Beziehung waren sich Ho und seine Hintermänner einig. Doch als er sah, daß die Leute ihm wirklich folgten, an ihn glaubten, erlebte Danforth so etwas wie einen Sinneswandel. Er lernte und informierte sich über sein wahres Erbe und darüber, was sein Urahn für die Bevölkerung von Hawai'i tatsächlich getan hatte. Und ihm wurde klar, daß er in seiner Situation ebenfalls etwas tun konnte. Ohne Wissen seiner Hintermänner wurde er zu einem ›Ali'i im Exil‹, nicht nur zu einer Galionsfigur. Aus eigenem Antrieb begann er mit verschiedenen Megakonzernen auf den Inseln zwecks Unterstützung zu verhandeln. (Wollen Sie einfach mal raten, wie einer der Schlüsselkonzerne hieß, mit denen er sich auseinandersetzte? Drei Versuche, und die ersten beiden zählen nicht. Noch ein Tip: Der Name des Konzerns beginnt mit einem Y...)

Im Jahre 2016 traf Ho die ersten Privatabmachungen. Und erst 2017 - als verschiedene Megakonzerne anfingen, die Pläne der Na Kama'aina mit ihren eigenen Hilfsmitteln zu unterstützen - erkannten Danforths Hintermänner, was geschehen war. Offenbar standen einige Hitzköpfe kurz davor, Ho auf der Stelle umzulegen -wahrscheinlich durch das Arrangieren eines › tragischen Unfalls‹ -, so daß sie die Zügel in den eigenen gewinnsüchtigen Händen behalten konnten. Doch die Klügeren, denen klar war, daß sie, nun, da sie Danforth Ho zum Wahren und Rechtmäßigen König und alledem erklärt hatten, auch an ihm festhalten mußten, behielten die Oberhand. Und mittlerweile folgten die Leute längst Ho und nicht mehr der Führung der Na Kama'aina ...

Während die Anführer der Na Kama'aina versuchten, Ho wieder an die Kette zu legen, stellten sie zu ihrem unsagbaren Entsetzen fest, daß er einen Handel mit der örtlichen Yakuza abgeschlossen hatte, und zwar nach denselben Richtlinien, denen seine Abschlüsse mit den Konzernen folgten. (Also, das hat mich doch ein wenig überrascht. Ich war davon ausgegangen, daß es auf Hawai'i nicht viel Yakuza-Aktivität gibt. Aber ich hätte es besser wissen müssen: Wo der Bevölkerungsanteil der Japaner einigermaßen hoch ist, findet man auch Yakuza.) Jetzt spürte die Na Kama'aina, daß ihr die Kontrolle wirklich entglitt.

Im Spätsommer 2017 mobilisierte die Bundesregierung ihre bewaffneten Streitkräfte auf dem Festland und machte sich daran, das Entschließungsgesetz von 2016 -mit anderen Worten, die ›Ausrottungskampagne‹ gegen die amerikanischen Ureinwohner in die Tat umzusetzen. Wir wissen alle, was gleich darauf geschah: Unter dem Einfluß der Geistertänzer kam es zu mehreren Vulkanausbrüchen, und das war das Ende der Ausrottungskampagne. Als auf den Inseln die Nachricht eintraf, was soeben stattgefunden hatte, kam Danforth Ho zu dem Schluß, daß der Tag endlich gekommen war. Er erteilte der Armee von Anhängern, die er um sich geschart hatte, seine Befehle.

Ganze Angriffsteams von Kahunas - hiesige Schamanen, glaube ich - gingen gegen die Bürgerwehr vor und machten sie fertig. Wo der Widerstand besonders groß war, wurden die Kahunas von Geistern unterstützt. Gleichzeitig mobilisierte die Yakuza eine ›zivile Armee‹, die, ergänzt durch schwer bewaffnete Sicherheitstruppen der Megakonzerne, praktisch alle Kommunikationsverbindungen des Militärs und der Regierung lahmlegte und verschiedene Schlüsselgebäude der Regierung belagerte.

In der Zwischenzeit marschierte Danforth Ho - unterstützt durch die Straßenkämpfer der Na Kama'aina (die schließlich erkannt hatte, auf welcher Seite das Brot gebuttert war) und durch Tausende von ergebenen Zivilisten - zum Kapitolgebäude neben dem alten Iolani-Pa-last in der Honoluluer Innenstadt. Der Mob schlug die Türen ein, vertrieb die Regierungsbeamten und setzte Danforth Ho als Ali'i ein. Am 22. August 2017 erklärte König Kamehameha IV. - Geburtsname Danforth Ho -offiziell Hawai'is Unabhängigkeit.

Wie vorauszusehen, nahm es die amerikanische Regierung auf dem Festland nicht sonderlich erfreut auf, daß ein Haufen durchgedrehter Ananaspflücker - die von einem Managementberater geführt wurden, um Gottes willen! - ihr militärisches Hauptaufmarschgebiet für den Pazifik übernahm. Wie es scheint, war der Großteil der Pazifikflotte in der zweiten Augusthälfte 2017 nicht in Pearl Harbor. Tatsächlich wurde die Flotte gerade an die Westküste der Vereinigten Staaten verlegt, um vermutlich, falls nötig, die mißlungene Ausrottungskampagne zu unterstützen. (Und Sie können darauf wetten, daß Danforth Ho alias König Kam IV. davon wußte und seine Planung darauf abgestellt hatte. Ansonsten hätten sich die Dinge in den Straßen Honolulus möglicherweise ganz anders entwickelt.) Als die Nachrieht von der Unabhängigkeitserklärung Hawai'is in Washington eintraf, wurden über Militärsatellit verschlüsselte Botschaften an das Flaggschiff der Pazifikflotte geschickt - zweifellos das militärische Äquivalent zu »Bewegt eure traurigen Ärsche dorthin zurück und räumt den Drek auf«.

Während der neue König Kam seine Stellung zu Hause konsolidierte, blieben seine neuen Verbündeten nicht untätig. Eine Delegation der Megakonzerne - die anscheinend von Yamatetsu angeführt wurde - übte bereits Druck auf Washington aus, Hawai'i als souveränen Staat anzuerkennen. Die Regierung sagte den Konzernen ganz genau, wohin sie sich diese Idee stecken konnten, und befahlen der Pazifikflotte volle Kraft voraus.

Ich wünschte, ich hätte den nächsten Akt des Dramas miterlebt - es muß eine ziemlich tolle Schau gewesen sein. Ein paar Minuten nachdem Washington den höflichen Vorschlag‹ der Megakonzerne abgelehnt hatte, wurde der Flugzeugträger USS Enterprise, das Flaggschiff der Pazifikflotte, nur ganz knapp von einer Salve ›Thorhämmer‹ verfehlt.

(»Augenblick mal«, höre ich Sie sagen. »Was um alles in der Welt ist ein ›Thorhammer‹?« Ich dachte schon, Sie würden nie danach fragen.

Das Projekt Thor reicht weit zurück - sehr weit zurück, offenbar bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts oder so -, aber ihm liegt eine Idee zugrunde, deren Zeit jetzt gekommen war. Die Idee war, eine ganze Wagenladung ›halbintelligenter‹ Projektile in eine niedrige Erdumlaufbahn zu befördern, die mit wenig mehr als einem Raketenantrieb, ein paar Steuerdüsen und einem Computer-Suchkopf in der Spitze ausgerüstet waren. Kein Sprengkopf, weil man keinen braucht. Im wesentlichen handelt es sich um ›schlaue Brecheisens Wenn man jemandem eine unverblümte Botschaft übermitteln will, braucht man nur die entsprechenden Befehle an ein paar Dutzend Thor-Projektile zu schicken. Sie zünden den Antrieb, um sich aus dem Orbit zu lösen, dann stürzen sie mit horrender Geschwindigkeit dem Boden entgegen. Ihre Suchköpfe suchen jetzt nach einem angemessenen Ziel, das von der Programmierung abhängt -ein Panzer vielleicht, oder die Kuppel eines Regierungs-itzes... oder etwas, das wie ein Flugzeugträger aus-sieht. Dann schießen sie abwärts, vollgepackt mit wer weiß wieviel kinetischer Energie, und was sie treffen, lost sich einfach auf... wahrscheinlich in einem netten Feuerwerk. Im wesentlich sind Thorhämmer also nur gelenkte Meteoriten. Elegante Idee, neh ?

Das war die Idee, aber soweit man wußte - zumindest bis 2017 -, hatte niemand Projekt Thor tatsächlich in die Tat umgesetzt. Bis zum heutigen Tag weiß niemand genau, wer die Projektile losgeschickt hat, die ein paar Tonnen Meerwasser vor dem Bug der Enterprise verdampften.

Aber ich kann eine ziemlich genaue Vermutung anstellen, die auf einigen interessanten Zufällen beruht. Zufällig war 2017 das Jahr, in dem Ares Macrotech-nology die alte Raumstation Freedom übernahm, die schließlich umgebaut und in Zürich-Orbital umbenannt wurde. Ebenso zufällig war Ares der einzige Megakon-zern mit Einrichtungen in der Umlaufbahn, die sich in der Gegend des richtigen ›Fensters‹ für den Abschuß eines Thorhammers in den mittleren Pazifik befanden. Und Ares war - natürlich ebenfalls zufällig - einer der Megakonzerne, mit denen unser Freund Danforth Ho lange und ausgedehnte Privatgespräche geführt hatte ... Quelle chance...

Ende des Exkurses.)

Das war es also. Aegis-Kreuzer hin oder her, es gab einfach keine Möglichkeit für einen Flugzeugträgerverband, Thorhämmer abzufangen oder sie zu überleben, falls sie trafen. Wiederum änderte der Verband den Kurs und dampfte entmutigt nach San Diego. Die Regierung erkannte Hawai'is Unabhängigkeit an, und König Kham IV. wurde das Haupt einer konstitutionellen Monarchie, die auch heute noch existiert. Und danach lebten alle glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende...

Null! Wie ich schon sagte, Megakonzerne machen keine Geschenke. Sie tätigen Investitionen. Nun gingen sie zu König Kam, um sich ihre Investitionen verzinsen zu lassen. Wie zum Beispiel durch besondere Handelsvereinbarungen, Extraterritorialität und grundsätzlich praktisch völlige Freiheit, die Geschäfte auf den Inseln so zu führen, wie sie wollten.

Den Bewohnern Hawaiis gefiel die Vorstellung der Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten, und sie waren nicht überzeugt, daß es so eine gute Idee war, diese Unabhängigkeit sofort wieder zugunsten der Megakonzerne aufzugeben. Die Führung der Na Kama'aina - jawoll, es gab sie immer noch - kam zu dem Schluß, daß dies der perfekte Aufhänger war, um König Kams Unterstützung aus dem Volk zu beschneiden (und im Idealfall ihre eigene Galionsfigur - diesmal eine echte - auf den Thron zu hieven). Mit einer Kampagne auf der Grundlage der Beschneidung der Freiheiten der Megakonzerne gewannen die Politiker der Na Kama'aina eine bedeutende Anzahl von Sitzen in der gesetzgebenden Versammlung. König Kam sah sich plötzlich mit einer starken Fraktion innerhalb seiner Regierung konfrontiert, die fest entschlossen war, ihn aus seinem Amt zu verdrängen. Es gelang ihm, die Kontrolle über die Mehrheit der Sitze zu behalten, aber es ging ziemlich knapp zu.

König Kam starb 2045 - nein, die Na Kama'aina hat ihn nicht aus dem Weg geräumt... glaube ich - und die Regierungsfraktion, die ihn unterstützt hatte, behielt gerade genug Einfluß, um den von ihm designierten Nachfolger auf den Thron zu setzen: seinen Sohn Gordon Ho. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren wurde aus Gordon König Kamehameha V., und er trägt immer noch den flotten gelbgefiederten Kopfschmuck des Ali'i.

Ich grübelte gerade noch über all die Fakten, die ich aufgenommen hatte, und versuchte schlau aus ihnen zu werden, als das Suborbitalflugzeug in Awalani - ›Him-melshafen‹ - aufsetzte.

»Willkommen auf Hawai'i«, verkündete eine Stewardeß.