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Meine Finger zitterten leicht, als ich den Chip in den Einleseschlitz des Uralt-Telekoms auf meinem Zimmer schob. Meine aufkeimende Hoffnung unterdrückend, rief ich das Inhaltsverzeichnis des Chips auf. Eine einzige Datei - barnard.txt. Ziemlich vielsagend, neh? Ich gab den Befehl ein, die Datei unter anderem Namen zu kopieren - falls es einen Schutzvirus gab, der das Original löschte, wenn jemand damit herumspielte dann versuchte ich die Kopie, nicht das Original, zu öffnen.

Auf dem Bildschirm erschien ein Gewirr aus graphischen Symbolen - lachende Gesichter, griechische Buchstaben und ähnlicher Drek -, und der Lautsprecher gab eine Salve von Piepslauten von sich. Nun, das war nicht besonders schwer vorauszusehen gewesen, oder? Die Datei war verschlüsselt, so codiert, daß eine neugierige dritte Partei - wie ich zum Beispiel - sie nicht lesen konnte.

Okay. Die Frage lautete jetzt, wie ›robust‹ die Verschlüsselung war. Es gibt tausend verschiedene Möglichkeiten, eine Datei zu verschlüsseln. Vielleicht ein Dutzend davon sind allgemein verbreitet. Dieses Dutzend rangiert von »Theoretisch nicht zu knacken« (praktisch gesehen, gibt es keine Verschlüsselung, die sich nicht knacken läßt) bis zu »Unsicher wie eine mit Klebeband verschlossene Safetür«. Mein nächster Schritt würde ausschließlich von der Art der Verschlüsselung abhängen, die Barnard für diese Botschaft gewählt hatte.

(Augenblick mal. Verriet mir nicht schon die Tatsache etwas, daß es überhaupt eine Botschaft gab? Wenn die ganze Geschichte von der Ablieferung einer Botschaft Schwindel und lediglich Tarnung war, warum sollte ich mir dann die Mühe machen... Aber nein, das paßte nicht zusammen. Barnard konnte nicht wissen, ob ich mir den Chip nicht ansah, bevor ich ihn ablieferte. Irgendwas mußte darauf sein, um das Trojanische Pferd zu beruhigen.)

Ich ließ den Text zum Anfang der verschlüsselten Datei zurückrollen und sah mir die Kopfzeile an - die Zeichenkette, die der Entschlüsselungs/Darstellungs-Software im wesentlichen verrät: »Dies ist eine Botschaft, die so und so verschlüsselt ist und an der und der Stelle beginnt.« Dann stöpselte ich meinen Compi in die Datenbuchse des Telekoms und ließ eines von Quin-cys emsigen Programmen auf die Kopfzeile los.

Das Ergebnis wurde auf dem kleinen Schirm des Taschencomputers sichtbar, und ich fluchte. Verschlüsselung mit öffentlichem Schlüssel, 70-Bit-Code. Es hätte schlimmer kommen können... aber nicht viel.

Ich weiß nicht, ob sie sich mit der Verschlüsselung mit öffentlichem Schlüssel auskennen, aber es ist ein elegantes System, das jetzt seit fast achtzig Jahren benutzt wird. Jeder, der dieses System benutzt, hat zwei Schlüsselcodes (in dieser Inplementierung sind beide 70 Bit lang, was einer 22stelligen Zahl entspricht): einen Privatschlüssel, den er niemandem verrät, und einen öffentlichen Schlüssel, den er Gott und der Welt mitteilen oder sogar veröffentlichen kann. Heute funktioniert das System im wesentlichen folgendermaßen: Wenn Adolf Barney eine Geheimbotschaft schicken will, verschlüsselt Adolf die Botschaft unter Benutzung zweier Schlüssel: seinem eigenen Privatschlüssel und Barneys öffentlichem Schlüssel. Um die Botschaft zu entschlüsseln, benutzt Barney ebenfalls zwei Schlüssel: seinen Privatschlüssel und Adolfs öffentlichen Schlüssel. Theoretisch kann nur Barney die Botschaft lesen, weil nur Barney seinen Privatschlüssel kennt. Als Dreingabe weiß Barney, daß die Botschaft von Adolf stammt - oder zumindest, daß sie mit Adolfs Privatschlüssel verschlüsselt worden ist -, andernfalls hätte er die Nachricht nicht entschlüsseln können. Klar wie Kloßbrühe? Gut, dann können wir fortfahren.

Der Witz ist, daß es den bei der Entwicklung dieses Systems vorherrschenden Verschlüsselungstheorien zufolge theoretisch unmöglich war, ein derartiges Verschlüsselungssystem innerhalb der mutmaßlichen Lebensdauer des Universums zu knacken. Aber die Theorien haben sich gewandelt - wie das eben ihre Art ist. Heutzutage behaupten ein paar helle Köpfe, daß es mit Hilfe der Eiji-Rekursion und anderer Schwarzer Magie möglich ist, einen 70-Bit-Code auf einem schnellen Computer in ein paar Tagen zu knacken. Was der Grund dafür ist, warum sich im Jahre 2056 nur noch wenige Leute mit weniger als 85-Bit-Codes zufriedengeben. (Sollte mir die Tatsache, daß Barnard ein weniger sicheres System benutzte, irgend etwas sagen? Und wenn ja, was...?)

Fazit? Einem novaheißen Entschlüsselungsfachmann sollte es möglich sein, Barnards Datei in einem Zeitraum irgendwo zwischen vierundzwanzig und zweiundsiebzig Stunden zu knacken. Das Problem?

Ich hatte gerade keinen novaheißen Entschlüsselungsfachmann zur Hand. Mit einem Seufzer dachte ich an einige der Hilfsquellen, die mir in Seattle zur Verfügung gestanden hatten. Rosebud, die Zwergin, ein halblegaler Technofreak mit einer Rechenkapazität direkt im Schädel, die einem MultiVAX entsprach. Und für größere Herausforderungen der Ex-Decker Agarwal... aber mittlerweile waren beide tot, nicht wahr? Tieferer Seufzer.

Und hier, mitten im verdammten Pazifik? Niemand, Chummer. Noch tieferer Seufzer. (Okay, okay, sagen Sie's nicht, ich weiß es selbst: Ich könnte alles auf virtuellem Weg erledigen, alles durch die Matrix zu dem Entschlüsselungskünstler jagen, der mir vorschwebt, und all das, ohne meine Bude zu verlassen, bla-bla-bla. Im Prinzip korrekt. Aber wenn Ihr Leben auf dem Spiel steht, Chummer, will man manchmal wirklich die direkte Kontrolle, die nur von Angesicht zu Angesicht möglich ist. Kapiert? Also verschonen Sie mich damit.)

Und die Moral von der Geschichte? Ich mußte den novaheißen Entschlüsselungsexperten suchen, den ich brauchte, und zwar unter Benutzung der begrenzten Ressourcen, die mir zur Verfügung standen. Was bedeutete, traurig, aber wahr, Te Purewa, und damit hatte es sich. Tiefster Seufzer.

Der Pseudo-Maori war besser als gar nichts, aber er war bestimmt nicht die brandheiße Hilfsquelle, auf die ich gehofft hatte. Scotts Vorstellung nach zu urteilen, hatte ich ihn für einen Teilzeit-Schieber gehalten. Wie nannten sie diese Leute hier? - Kaiepa, das war es - mit einem ganzen Stall von Kontakten. Daneben, Chummer. Gut, er war SINlos und überlebte dadurch, daß er komische Jobs übernahm und unter dem Tisch bezahlt wurde... was ihn nach den Maßstäben einiger Leute zu einem Shadowrun-ner machte. Er kannte tatsächlich ein paar Schieber, aber nur gesellschaftlich - jedenfalls ging ich davon aus. Übersetzung? Er lebte in den Schatten, gehörte aber nicht zu ihnen, wenn Sie den Unterschied begreifen. Vielleicht hatte er schon ein paar Leute mit den Talenten getroffen, nach denen ich suchte, aber wahrscheinlich war ihm das gar nicht bewußt.

Trotzdem war er die einzige Eintrittskarte in die Schattengemeinde Honolulus, die ich im Augenblick hatte. Wenn mir eine Möglichkeit einfiel, ihn dazu zu bringen, seine Fühler auszustrecken - und es gleichzeitig vor den verschiedenen Parteien, die mich tot sehen wollten, zu verheimlichen -, würde ich sie wahrnehmen müssen. Dazu bedurfte es einigen Nachdenkens... was wiederum einigen Schlaf erforderte. Mein Hirn war nur noch Sojapaste. Ich streckte die Hand aus, um das Telekom auszuschalten...

Und hielt inne. Was machte es schon, ich konnte ebensogut meine Mailbox überprüfen, wo ich einmal dabei war. Es war nicht besonders wahrscheinlich, daß Argent oder Sharon Young sich schon gemeldet hatten, aber ein Blick konnte nicht schaden. Unter Benutzung der hübsch versteckten Hintertür, die Quincys Programm in HTKs System eingerichtet hatte, erhielt ich Zugang zu meiner Mailbox und forderte das Inhaltsverzeichnis an.

Wunder über Wunder, es wartete tatsächlich eine Botschaft auf mich: nicht ausschließlich Text, sondern sogar mit Stimme. Kein Absender - wie nicht anders zu erwarten, und die Absendeadresse gehörte einem der zahlreichen anonymen E-Mail-Dienste, die in der Karibischen Liga blühen und gedeihen. Neugierig drückte ich auf Abspielen.

»Mr. Montgomery, wir müssen miteinander reden.«

Meine linke Hand zuckte vor und hieb so hart auf die Pausentaste, daß das Makroplastgehäuse einen Sprung bekam. Ach, Drek... wie, zum Teufel, hatte er mich so schnell gefunden?

Die Stimme gehörte natürlich Jacques Barnard, dem Kerl, der mir diesen Drek eingebrockt hatte, und der mich jetzt zweifellos aus dem Spiel nehmen wollte... auf Dauer und endgültig. Einen Moment lang starrte ich das Telekom mit echter Angst an.

Dann unterdrückte ich die Aufwallung und schnaubte angewidert über meine Reaktion. Was, zum Henker, glaubte ich eigentlich? Daß Barnard aus dem verdammten Telekom gekrochen kam, wenn ich den Rest der Nachricht abspielte? Reiß dich zusammen, Montgomery. (Ein weiterer Beweis, daß meine Reaktionen im Eimer waren, flüsterte mir eine innere Stimme zu. Halt verdammt noch mal die Klappe, fauchte eine andere innere Stimme die erste an.) Ich drückte auf Zurückspulen und dann auf Abspielen.

»Mr. Montgomery, wir müssen miteinander reden.« Die Aufnahme war so kristallklar, als stünde Barnard neben mir - kein Knistern, keine Beeinträchtigung des Klangs. Zweifellos einer der Vorteile, sich die besten Übertragungsleitungen der Konzernklasse leisten zu können. »Ich bin sehr besorgt wegen der Ereignisse und Ihrer Reaktion darauf, Mr. Montgomery«, fuhr er kalt fort. »Sie müssen sofort Kontakt mit mir aufnehmen und mir die genauen Einzelheiten im Hinblick auf das Ableben ... unseres gemeinsamen Freundes schildern. Ich bin sehr enttäuscht, daß Sie es bisher noch nicht für nötig befunden haben, sich mit mir in Verbindung zu setzen, und frage mich, ob ich Ihr Verhalten als Beweis für Ihre Komplizenschaft an... den Ereignissen interpretieren soll. Nehmen Sie so schnell wie möglich Kontakt mit mir auf, und zwar unter Benutzung der bekannten Verfahrensweise. Wir haben einiges zu besprechen und zu planen.«

Barnards Stimme hielt kurz inne, um dann mit eisigem Unterton fortzufahren. »Ich rechne damit, sehr bald von Ihnen zu hören, Mr. Montgomery. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Die Aufzeichnung endete mit einem Klicken.

Ich starrte auf den leeren Telekomschirm. Was, zum Teufel, sollte ich nun davon halten? Wenn ich Barnards Botschaft für bare Münze nahm, wußte er nicht mehr über das Warum und Wozu des Anschlags auf Tokudaiji als ich. Falls ich ihm glaubte, hatte er sich unwillkürlich -und durchaus nicht unbegründet - gefragt, ob ich Tokudaiji nicht selbst umgelegt hatte, und zwar aus Gründen, die nur ich kannte. Falls ich ihm glaubte, forderte er mich auf, mich mit ihm in Verbindung zu setzen, damit ich ihn über Tokudaijis Tod ins Bild setzte und wir unseren nächsten logischen Zug planen konnten.

Falls. Das war das Schlüsselwort, nicht wahr? Falls ich ihm glaubte, wollte er, daß ich aus meinem Versteck kam, so daß er Schadenskontrolle betreiben konnte. Falls ich ihm nicht glaubte, wollte er auch, daß ich aus meinem Versteck herauskam, so daß er Schadenskontrolle betreiben konnte... indem er mir das Hirn aus dem Schädel pusten ließ. Warum waren diese Dinge niemals leicht und eindeutig?

Nun, zumindest brauchte ich mich nicht sofort zu entscheiden. Mr. Jacques Barnard, der hochrangige Ya-matetsu-Exec, würde nirgend wohingehen, oder? Ich konnte eine Auszeit nehmen und die Konsequenzen durchdenken. Außerdem konnte ich versuchen, jemanden zu finden, der mir die Botschaft entschlüsselte, und sehen, ob mich das weiterbrachte. Aber im Moment...

Ich ließ mich wieder auf das Bett fallen und versuchte zu schlafen.


An Barnards Botschaft war mehr daran, als ich ursprünglich gedacht hatte, nicht wahr?

Der Luftzug in meinem Gesicht war erfrischend wie nur irgend etwas, als ich mit ›meiner‹ Suzuki zum ›Cheeseburger im Paradies‹ fuhr, und er half mir dabei, die geistigen Spinnweben und Überreste diverser Alpträume zu vertreiben. Bei einem Tempo von sechzig Stundenkilometern war die Lufttemperatur beinahe erträglich. Aber wenn ich wegen einer roten Ampel oder einer Verkehrsstockung anhielt, waren die Straßen von Ewa wie Heizöfen oder vielleicht auch Kochplatten, die ganz auf die Zubereitimg von gegrillten Haoles zugeschnitten waren. Der kleine Benzinmotor des Motorrads heulte und dröhnte, wenn ich Gas gab. (Jemand hat mir mal erzählt, daß es noch vor sechzig Jahren unmöglich war, aus einem Motor mit 250 Kubikzentimetern 100 PS herauszuholen. Vielleicht haben sich im Laufe der Zeit doch wenigstens ein paar Dinge verbessert.)

Auf meiner Fahrt durch den zähflüssigen Nachmittagsverkehr dachte ich mit gerunzelter Stirn angestrengt nach. Barnard hatte mir eine Nachricht geschickt... und die Tatsache, daß sie sich in meiner gesicherten Mailbox befand, war eine Botschaft für sich, nicht wahr? Ich hatte nur zwei Leuten die Adresse gegeben: Argent und Sharon Young. Argent würde sich lieber ein Bein abhacken, als dem Yamatetsu-Konzern bei irgendeiner Sache zu helfen, das wußte ich. Damit blieb Young...

... Die, nun, da ich darüber nachdachte, in Cheyenne auf Barnards verdammter Gehaltsliste gestanden hatte. Drek! Das hatte ich gewußt. Barnard hatte es mir indirekt selbst gesagt: Der Kontrakt, den Young mir angeboten habe, sei indirekt mit diesem ganzen verdammten Hawai'i-Drek verbunden. Und ich hatte Young die Adresse meiner gesicherten Mailbox gegeben... und damit indirekt auch Barnard. Wenn ich diese Geschichte heil überstand, ohne etwas so schlimm zu verpfuschen, daß man mich geekte, würde ich einen verdammten Freudentanz aufführen, das schwor ich.

Ich parkte die kleine Suzuki in der Gasse hinter dem Cheeseburger im Paradies und schlenderte in die Kneipe. Ich vermute, meine zwei vorangegangenen Besuche qualifizierten mich als Stammgast, da der Barmann, kaum daß er mich sah, damit begann, mir einen halben Liter Dog zu zapfen. Während ich mich an meinen Stammtisch setzte, brachte mir Maletina das eiskalte Glas und stellte es vor mich hin. Zur Abwechslung sah sie heute nicht so aus, als wolle sie mir in die Eier treten. Drek, sie redete sogar mit mir. »Te Purewa sagt, er kommt später. Vielleicht bringt er sogar 'n paar Leute mit, die du kennenlernen willst.«

Ich dankte ihr und lächelte freundlich... obwohl ich eigentlich wie ein Rohrspatz fluchen wollte. Also kam Te Purewa später mit ein paar Leuten, die ich kennenlernen wollte, ja? Ich hatte ihn am Telekom gefragt, ob er seine Fühler ausstrecken könne - sehr vorsichtig -, um einen Entschlüsselungskünstler aufzutreiben, der mit einem 70-Bit-Code fertigwurde. Offenbar hatte er sich sofort an die Arbeit gemacht...

... Und dann der verdammten Kellnerin davon erzählt. Drek! Wem hatte er es noch erzählt? Seiner Freundin? Dem Kerl, der ihm die Haare schnitt? Dem Yak-Soldat, der in seiner Nachbarschaft wohnte...?

Mein erster Gedanke war, die Kurve zu kratzen, aus dem ›Cheeseburger im Paradies‹ zu verschwinden und nie wieder herzukommen. Kurzfristig im Hinblick auf ein langes Leben vermutlich die klügste Entscheidung... aber ich mußte längerfristig denken. Ich brauchte den Entschlüsselungskünstler. Und, was noch viel wichtiger war, ich brauchte die Leute, die der Entschlüsselungskünstler kannte. Jeder Code-Knacker, der mit einem 70-Bit-Code fertigwurde, mußte ganz einfach bessere Kontakte zur richtigen Schattengemeinde haben als Te Stupido Purewa. Also mußte ich cool und in der Kneipe bleiben. Zumindest war das mein Gedankengang in dem Augenblick.

Das bedeutete natürlich nicht, daß ich aus mir eine große leuchtende Haole-Zielscheibe machen mußte. Ich sah mir den Laden an, genauer, als ich das bisher getan hatte. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß dies eine Kneipe in einem der übleren Stadtteile war, die in dem Ruf stand, ein Treffpunkt für Shadowrunner zu sein.

Ja, da war sie, ich war ganz sicher. Die Überwachungskamera, deren Weitwinkelobjektiv den gesamten Raum erfaßte, und die in dem (scheinbar defekten) Rauch/Staub-Verzehrer über der Bar angebracht war. Wie die Kameras an den meisten ähnlich gearteten Orten war auch diese gut getarnt, um niemanden in Versuchung zu führen. Wenn Gossenpunks zu tief ins Glas schauen, scheinen offensichtliche Überwachungskameras oft als Aufforderung zu Zielübungen interpretiert zu werden.

Eine Überwachungskamera implizierte natürlich einen Raum, in dem jemand saß, der sich die Daten ansah, welche die Kamera lieferte. Ich nahm meinen halben Liter Dog und machte mich auf den Weg zum Barmann.


Haben Sie schon mal zwei Stunden damit verbracht, sich eine Kneipe durch das verzerrende Weitwinkelobjektiv einer Überwachungskamera anzusehen, während Sie an einem heißen Tropentag in einem fensterlosen Raum ohne Ventilator oder Klimaanlage sitzen und Black-Dog-Bier trinken? Ich kann Ihnen die Mühe ersparen. Sie können ganz genau dieselbe Wirkung erzielen, indem sie sich Zwanzig-Zentimeter-Nägel in die Schläfen hämmern, und müssen nicht mal für das Bier bezahlen.

Ich rieb mir die Augen und massierte meine schmerzenden Schläfen. Der Mann war unglaublich verständnisvoll gewesen, als ich ihn gebeten hatte, sein Büro benutzen zu dürfen - natürlich erst, nachdem ich ihm den Kontostand auf meinem Kredstab gezeigt hatte -, und ich fühlte mich tatsächlich verdammt viel sicherer, vermittels elektronischer Hilfsmittel nach Te Purewa Ausschau zu halten. Wenn jedoch gerade jetzt in diesem Augenblick ein Yak hereingestürmt wäre, um mir den Schädel wegzuballern, hätte ich mich bei ihm bedankt, da mir das Aspirin ausgegangen war.

Okay, auf der Habenseite stand, daß ich tatsächlich ein besseres Gefühl für die Klientel dieser Kneipe entwickelte. Nehmen Sie zum Beispiel die beiden dort. In einer dunklen Ecke saß ein übergewichtiger Mann mittleren Alters mit einem fetten Toupet... Pardon, ich glaube, die gesellschaftlich akzeptierte Bezeichnung lautet ›Alternativhaar‹, nicht wahr? Er machte einen umständlichen - und wahrscheinlich sinnlosen - Versuch, bei einer gelangweilt aussehenden Schnalle zu landen, von der ich annahm, daß sie mit zwei ›Alternativbrüsten‹ ausgestattet war. Und dort drüben hockten zwei Jugendliche, die offensichtlich minderjährig waren, sich aber alle Mühe gaben, erwachsen auszusehen, während sie es fast vermieden, die Tänzerin anzustarren, die sich auf der Bühne eigenhändig einer gynäkologischen Untersuchung unterzog. Näher zur Tür saß eine alte Eingeborene - vogeldürr, und genauso gebrechlich aussehend wie Tokudaiji die den Drink auf dem Tisch vor sich ignorierte, da sie ins Nichts starrte. (Nun, aus diesem Winkel sah es tatsächlich so aus, als starre sie direkt in die Kameralinse. Natürlich ein Zufall, aber trotzdem unheimlich.)

Die Kneipentür öffnete sich. Das Licht reichte nicht, um Einzelheiten auf dem Monitor zu erkennen, aber ich machte drei relativ große Silhouetten aus. Te Purewa und seine Chummer? Die drei Gestalten traten ins Licht, und ich war ernstlich froh, daß ich in diesen Beobachtungsposten investiert hatte.

Es waren Japaner. Alle drei Menschen, aber jeder von ihnen hätte sich jederzeit für eine Beförderung zum Troll melden können. Sie trugen konservative Geschäftsanzüge. Ihre Cyberaugen glitzerten unnatürlich auf dem Bildschirm, als sie sich in der Kneipe umsahen.

Drek, hätten diese Burschen nicht versuchen können, sich zumindest ein wenig an die hiesige Kleiderordnung anzupassen. Was einem konservativen Geschäftsanzug im ›Cheeseburger im Paradies‹ noch am nächsten kam, war eine maßgeschneiderte, gepanzerte schwarze Lederjacke. Aber ich konnte mich eigentlich nicht beschweren, oder? Wenn die Yak-Soldaten - was, zum Henker, sollten sie sonst sein? - sich die Mühe gemacht hätten, sich zu verkleiden, wären sie mir vielleicht gar nicht aufgefallen. Ich gratulierte mir für meine Weitsicht, mich hier hinten einzurichten. Falls die Yaks die geringsten Anstalten machten, einen Blick ins Hinterzimmer zu werfen, blieb mir immer noch massenhaft Zeit. Ich konnte zur Hintertür hinaus, mich auf meine Suzuki schwingen und Gas geben, bevor sie auch nur am Barmann vorbei waren. Perfekt, nicht wahr?

Wenn alles so verdammt perfekt war, wie kam es dann, daß plötzlich die Tür hinter mir aufflog und jemand rief: »Ganz ruhig, Hoa!«

Ich fuhr auf meinem Stuhl herum und versuchte den Manhunter zu ziehen, den Te Purewa mir besorgt hatte. Aber ich starrte in die Mündungen zweier großkalibriger Waffen und gab den Versuch augenblicklich auf. Ich zeigte meine leeren Hände und versuchte es mit einem zaghaften: »Okay, okay, wir bleiben alle schön cool, ja?«

Es dauerte ein oder zwei Sekunden, bis ich die Gestalten hinter den Kanonen zur Kenntnis nahm. Es waren keine Yakuza-Killer, wie ich erwartet hatte... oder wenn doch, hatte die Yakuza-Zweigstelle Hawai'i wesentlich mehr für Frauen und Kaivaruhito übrig als ihre Kollegen auf dem Festland. Die Gestalt zur Linken war ein Ork mit noch breiteren Schultern als Scott. Er trug Jeans und eine ärmellose schwarze Lederweste, die für seinen dermalgepanzerten Oberkörper ein paar Nummern zu klein war. Rechts von ihm stand eine Frau - ebenfalls ein Ork, aber gertenschlank und mit Muskeln wie Stahlkabel. Sie trug eine dunkle Hose und ein Aloha-Hemd, aber das Muster des Hemds wies eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit dem auf Großstadt-Tarnanzügen auf. Beide hatten ihre Kanonen - Savalettes mit einem glänzenden Chromstahl-Überzug - auf meinen Kopf gerichtet.

»Zieh deine Waffe«, schnappte die Frau. »Mit zwei Fingern. Langsam. Los jetzt!«

Ich gehorchte - was, zum Teufel, sollte ich wohl sonst tun? - und zog den Manhunter mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Dann ließ ich ihn fallen und versetzte ihm einen Tritt, so daß er in Richtung der beiden Messerklauen rutschte.

Zu meiner Überraschung entspannten sie sich sichtlich, kaum daß ich es getan hatte, sicherten ihre Waffen und halfterten sie. Ich spürte, wie mein Mund aufklappte, und der Mann kicherte, als er meine Kanone aufhob. »Hey, shaka, Bruder, wir wollten nur nicht, daß du was Unüberlegtes tust. Kapiert?«

»Wir sind Chummer von Marky«, fügte die Frau hinzu. Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, wer ›Marky‹ war - Mark Harrop alias Te Purewa.

Mit einem scharfen Kopfnicken deutete sie auf den Monitor - und indirekt auch auf die Yak-Soldaten. »Willst du mit uns kommen oder auf die da warten?«

»Nichts wie raus hier, Hotz«, sagte ich aus tiefstem Herzen. Als ich mich erhob, warf ich noch einen Blick auf den Monitor. Die alte Frau in der Kneipe starrte immer noch in die Kamera, und einen bestürzenden Augenblick lang hatte ich das Gefühl, daß sie direkt in meinen Schädel sah.

Sobald wir aus dem Büro heraus und auf dem schmalen Flur waren, der zu der Gasse führte, zeigte die Frau auf ihren Begleiter und sagte: »Das ist Moko. Ich bin Kat.«

»Ich bin...«, begann ich.

Aber sie ließ mich nicht zu Wort kommen. »Geschenkt, Hoa. Ich weiß alles, was ich wissen muß. Du bist ein Chummer von Marky, das reicht.« Sie warf Moko einen fragenden Blick zu und erhielt ein bestätigendes Nicken als Antwort. Nach dieser Zurechtweisung - demnächst muß ich mir wirklich einen Straßennamen zulegen - nickte ich ebenfalls.

Als folge er einem spontanen Einfall, warf Moko mir meinen Manhunter zu, und ich fühlte mich wie ein Kind, das seine Windel nach der Wäsche zurückbekommt. Ich schob ihn wieder in meinen Gürtel.

Wir gingen nach draußen in die Gasse. Neben meiner Suzuki waren zwei neue Feuerstühle geparkt. Eine Yamaha Rapier II mit Doppelturbine - einer der neusten Kamikaze-Roller. Von zwei gegenläufigen Turbinen angetrieben, sah sie so schlank und scharf und geradezu tödlich aus wie... nun, wie ein Rapier, würde ich sagen. Daneben stand eine riesige, brutal aussehende Honda Viking, die in einem häßlichen Mattschwarz mit blutroten Rändern lackiert war. Instinktiv spielte ich ›Rate den Fahrer‹ und ordnete Moko der Viking und Kat der Rapier zu.

Und lag völlig daneben. Moko schwang sich auf die schlanke Rapier und startete die Turbinen, die mit einem schrillen Jaulen zum Leben erwachten. In der Zwischenzeit hatte sich Kat einen Vollvisier-Helm aufgesetzt und eine gepanzerte Motorradjacke angezogen. (Mokos einzige Konzession an die Fahrsicherheit bestand darin, sich seine ärmellose Weste zuzuknöpfen.) Einen Moment später saß Kat rittlings auf der Viking - tatsächlich nicht so sehr ›rittlings‹, sondern eher ›gemütlich in den Tiefem - und ließ die Maschine an. Der bullige 1800-Ku-bikzentimeter-Motor dröhnte, um dann zufrieden zu schnurren, als hätte das Motorrad gerade eine 250er Suzuki verspeist.

»Steig auf und folge uns«, sagte Kat.

Gehorsam stieg ich auf, und als sie losfuhren, folgte ich ihnen. Rücksichtsvollerweise fuhren sie mit einer Geschwindigkeit, mit der meine kleine Suzuki fertig wurde, ohne durchzudrehen. Wir hielten uns ein paar Blocks an Gassen, dann bogen wir auf die Hauptstraße.

Wir fuhren zehn, vielleicht fünfzehn Minuten... und nach den ersten fünf hatte ich hoffnungslos die Orientierung verloren. Wir waren immer noch im Herzen Ewas, schätzte ich, aber wo genau? Tja, ich nehme an, es spielte wohl keine Rolle. Schließlich schaltete Moko, der direkt vor mir fuhr, seinen rechten Blinker ein - das erstemal während der Fahrt, daß er sich mit solchen Nettigkeiten abgab -, und ich bremste angesichts der Kurve ab. Die zwei führenden Motorräder legten sich weit auf die Seite, so daß die Auspuffrohre der Viking fast über den Asphalt schrammten, und fuhren direkt auf das geschlossene Rolltor eines Lagerhauses zu...

Das sich gerade rechtzeitig für sie öffnete, um hineinzufahren. Ich hing zu weit zurück, und die Tür schloß sich bereits wieder, als ich gerade noch durchhuschte. Das Motorengedröhn der Viking wurde vom Metalldach des Lagerhauses zurückgeworfen, bis es wie ein halb-zölliges MG bei Dauerfeuer klang. Langsam rollten die führenden Motorräder durch die leere Lagerhalle und in eine kleine Nische an der gegenüberliegenden Wand. Ich folgte ihnen und stellte den Motor ab, als Kat sich mit dem Finger über die Kehle fuhr. Ein paar Sekunden lang hallte das Dröhnen der Viking noch in meinen Ohren nach.

Der Boden bewegte sich unter mir, und fast wäre mir die Suzuki umgekippt, da ich sie noch nicht aufgebockt hatte, während sich die ›Nische‹ langsam erhob. Ein Lastenaufzug. Während der Aufzug seine Reise fortsetzte, stiegen die beiden Orks ab, und Kat setzte den Helm ab und schälte sich aus ihrer Lederjacke. Schließlich hörte der Boden auf, sich zu bewegen, und die beiden Sha-dowrunner - was konnten sie sonst sein, neh? - führten mich in den niedrigen ersten Stock des Lagerhauses.

Er war wie eine große Einsatzzentrale eingerichtet, das sah ich sofort. An einer Wand befand sich die ›Waf-fenkammer‹ - ein ganzes verdammtes Arsenal mit den verschiedensten Handwerkszeugen der Zerstörung an Haken. In einer Ecke stand eine anspruchsvoll aussehende Kommunikationseinheit. In einer anderen eine Sammlung von Computern und verschiedenen anderen Tech-Spielzeugen, die durch das Medusenhaupt diverser Steckverbindungen miteinander gekoppelt waren. Moko führte mich zu einem Kartentisch - einem Hi-Tech-Spielzeug mit einer komplizierten Anordnung von in die Tischplatte eingebauten Bildschirmen und Anzeigen - und ließ sich dann auf einen Drehstuhl fallen.

Zum erstenmal seit langer Zeit spürte ich, wie sich meine Muskeln entspannten. Ich befand mich unter Profis. Ich konnte die ›Schwingungen‹ fühlen, und ich erkannte sie. Ich wußte, Argent, der einzige Überlebende der verblichenen und betrauerten Wrecking Crew, würde sich hier heimisch fühlen.

Und als ich mich entspannte, registrierte mein Gehirn endlich verschiedene Signale, die gewisse Teile meines Körpers schon seit einiger Zeit aussandten. Ein wenig verlegen sprach ich Kat an. »Wo ist das... äh... das...« Sie kicherte und zeigte in eine Richtung.

Dieser Teil der Einsatzzentrale war ebenfalls ziemlich anspruchsvoll. Ich erledigte meine unmittelbaren Bedürfnisse und betrieb noch ein wenig Schadensbegrenzung im Hinblick auf mein Äußeres, bevor ich wieder herauskam.

Ein weiteres Mitglied des Teams - zumindest nahm ich das an - wartete bereits, um die Einrichtung zu benutzen. Wiederum ein Ork, wiederum mit polynesischem Einschlag. Seine großen Augen verengten sich, als er mich sah - an einem Ort wie diesem plötzlich einem Fremden zu begegnen war wahrscheinlich ebenso beunruhigend, wie einen unbekannten Touristen zu Hause auf dem Klo zu erwischen -, aber dann sah ich Begreifen dämmern. Ich trat zur Seite, um ihn eintreten zu lassen...

Aber er ging nicht, jedenfalls nicht sofort. »Du warst mit Scott zusammen, ja?« fragte er mich ohne Vorrede. Seine Stimme klang wie ein Haufen Steine in der Radkappe eines fahrenden Wagens.

Ich zögerte, dann gab ich es zu: »Ja.«

»Wie ist er abgetreten?«

Ich warf einen Blick auf den Besprechungstisch, wo Moko und Kat waren, in der Hoffnung, dort eine Erleuchtung zu finden. Aber sie waren in ein Gespräch miteinander vertieft. Ich zuckte die Achseln und sagte: »Durch eine Bauchbombe, glaube ich.«

»Ja, aber zuerst hat er den Oyabun erwischt, ja?«

»Das hat er«, bestätigte ich.

Der Ork lächelte. »Gut. Dann ist er aufrecht gestorben, so, wie er abtreten wollte.« Und er ging an mir vorbei aufs Klo.

Ich blinzelte überrascht. Das war gewiß nicht die Reaktion, die ich erwartet hatte. Aber mir blieb keine Zeit, genauer darüber nachzudenken, da Kat »Hoi!« rief und mich zu sich winkte.

Mittlerweile hatte sich den beiden eine dritte Person angeschlossen. Der Hautfarbe nach ein Hawaiianer oder Polynesien aber kein Ork, sondern ein Elf, spitze Ohren und halbmondförmige Augen inklusive. (Zum erstenmal fiel mir auf, wie wenige Elfen ich hier auf Hawai'i bisher gesehen hatte.) Abgesehen von der Hautfarbe hätte er in Seattle keineswegs fehl am Platz gewirkt... oder auch in Cheyenne, was das betraf. Er trug nicht das, was ich bei mir als ›tropische Abenteuerausrüstung‹ bezeichnete, sondern engsitzendes schwarzes Leder, das mit modischen Acessoires wie Ketten, Beschläge und Metallplatten verziert war. Seine Pseudo-Irokesen-Frisur ließ Stirn und Schläfen frei, und im Licht der Deckenlampen glitzerten drei Datenbuchsen und Chipschlitze.

Kat deutete auf den Elf. »Poki«, sagte sie. Ich nickte grüßend. Der Elf sah nur direkt durch mich hindurch, zu cool, um auch nur meine Existenz zur Kenntnis zu nehmen. Wie allzu viele Elfen, fügte ich im stillen hinzu.

»Ich höre von Marky, daß du einen Chip hast, den du entschlüsselt haben willst, ja?« sagte Kat.

Ich zögerte einen Augenblick. Dann - darauf hatte ich schließlich gewartet, nicht wahr? - griff ich in meine Tasche und holte das Chipetui heraus. Ich legte es auf den Tisch und versetzte ihm einen Stoß, so daß es zu Poki rutschte.

Er hob es auf, wobei er sich wiederum weigerte, meine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Es war Kat, die er fragte: »Was liegt an?«

»Siebzig-Bit-Code, öffentlicher Schlüssel«, sagte ich zu ihm.

Das brachte ihn tatsächlich dazu, mich an-, anstatt durch mich hindurch zu sehen. »Ach ja?« Er grinste, und sein schlankes Gesicht nahm plötzlich einen raubtierhaften Ausdruck an. »Fleisch für die Bestie, Hoa. Bis wann?«

»So schnell wie möglich«, sagten Kat und ich beinahe gleichzeitig.

Der Elf nahm das Chipetui. »Wann werdet ihr mir endlich mal was Schwieriges besorgen?« fragte er Kat mit einem entschieden boshaften Kichern. Und damit schlenderte er zur Computer-Ecke.