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Gottverdammt, es war wieder Der Traum - ›lichtes Träumen‹ -, ich glaube, das ist der Fachausdruck, wenn man tatsächlich weiß, daß man träumt, aber trotzdem nichts dagegen tun kann.
Ich dachte, ich hätte Den Traum überwunden. Ich dachte, ich sei so weit weggezogen, daß mein Unterbewußtsein nicht mehr die Notwendigkeit verspürte, alte Ängste und Leiden hochzuspülen. Falsch gedacht. Zugegeben, ich erlebte Den Traum nicht mehr so häufig und regelmäßig wie in den Schlechten Alten Zeiten. In den ersten Monaten, nachdem ich meinen Cyberarm erhalten hatte, war Der Traum ein regelmäßiger Besucher meines Schlafs. In jeder verdammten Nacht kam er wieder wie ein Geist, um mich zu verfolgen.
Vielleicht wäre ich leichter damit zurechtgekommen, wenn Der Traum immer gleich gewesen wäre - wenn mich die ständige Wiederholung abgestumpft hätte -, aber er war es nicht. Der generelle Ablauf der Ereignisse war in jeder Nacht gleich. Aber die Details änderten sich - in erster Linie unwichtige Dinge, wie zum Beispiel die Reihenfolge, in der die Leute umgebracht wurden, oder der Zeitpunkt, an dem gewisse Ereignisse eintraten -, so daß ich nie wußte, was ich zu erwarten hatte.
Mit der Zeit, als der Grad des Stresses in meinem System abnahm, trat Der Traum immer seltener auf: jede dritte Nacht, einmal in der Woche, zweimal im Monat... Dann wurden die Abstände immer größer. Vor heute nacht hatte mich der Traum zum letztenmal vor drei Monaten heimgesucht, und ich hatte gedacht, meine angegriffene Psyche hätte sich endlich selbst geheilt. Wie ich schon sagte, falsch gedacht.
Der Schauplatz war wie immer derselbe: der geheime Laborkomplex unter dem Gebäude E von Yamatetsus Forschungsanlage für Integrierte Systemprodukte in Fort Lewis. Hawk hatte die beiden Höllenhunde vertrieben, die die Anlage bewachten, Toshi hatte das Magnetschloß an der Haupttür geknackt, und Rodney war neben mir, während wir langsam über die breite spiralförmig gewundene Rampe gingen, die abwärts in die Eingeweide des Komplexes führte. Die Trauer war ein dumpfer Schmerz in meiner Brust und meiner Kehle, als ich die stummen Gestalten musterte, die sich durch die Traumlandschaft bewegten. Alle waren sie tot: Hawk der Schamane, Toshi der Samurai und Rodney Greybriar der Magier... Tot, weil ich sie in etwas hineingezogen hatte, das ich nicht verstand, etwas, das viel zu groß für mich war. Ich hatte ›irreguläres Personal‹ angeworben, ich war zum Johnson für ein Team von Shadowrunnern geworden. Ich dachte, ich hätte alle Eventualitäten eingeplant, dachte, ich wüßte, womit wir es zu tun hatten. Mein übersteigertes Selbstvertrauen hatte mich meinen linken Arm, Hawk, Toshi und Rodney jedoch viel, viel mehr gekostet.
Lautlos wie Geister waren die Gestalten um mich herum, als sie die Spiralrampe hinabgingen. Ich nahm den seltsamen, vage biologischen Geruch wahr - so ähnlich wie Hefe, aber doch nicht ganz -, der später so vertraut werden sollte. Wir gingen weiter durch das gedämpfte, unbestimmbare Licht, das ungefähr der Dämmerung entsprach, aber von intensiverem Rot als das Sonnenlicht war.
Ich wußte, was uns am Fuß der Rampe erwartete. Ich wußte es... Das war es ja gerade, was Den Traum zu einem Alptraum machte. Ich wußte es, aber ich konnte mein Wissen niemandem mitteilen. Hawk, Toshi und Greybriar hatten sich bereit erklärt, mich bei diesem Job zu begleiten, da sie glaubten, daß sie eine Verbindung zwischen Yamatetsus Abteilung für Integrierte Systemprodukte und der neuen Traumchip-Geißel der Straße, 2XS, entdecken würden. Schlimmstenfalls rechneten sie damit, es mit Konzernsicherheitstruppen und vielleicht Chip-Dealern zu tun zu bekommen. Ich wußte es besser.
Wir erreichten das Ende der Rampe und sahen die Tür vor uns, von der ich gewußt hatte, daß sie sich dort befand. Ich wußte nur allzu gut, was wir auf der anderen Seite der Tür vorfinden würden, und ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich versuchte zu sprechen, Hawk und die anderen zu warnen, aber ich bekam die Worte einfach nicht heraus. Als Toshi das Magnetschloß knackte, konnte ich nicht mehr tun, als mich abzuwenden.
Ich konnte das alles nicht noch einmal durchmachen. Trotz der langen Zeit, die inzwischen vergangen war -obwohl ich meine Schwester Theresa lebendig, clean und nüchtern gesehen hatte -, konnte ich es nicht ertragen. Es würde mich zerfetzen, all die seelischen Wunden in meinem Innern wieder aufreißen, die fast verheilt waren. Ich konnte nicht in diesen Raum mit den leicht gewölbten Wänden blicken und Theresa dort liegen sehen, deren komatöser Körper durch eine widerlich gelbe Nabelschnur mit der Wand des Raumes verbunden war...
Der Traum überraschte mich mit einem Schnitt, und ohne das Gefühl zu haben, daß eine Versetzung stattgefunden hatte, fand ich mich in dem vertrauten gewundenen Tunnel wieder, der Toshi und die anderen in den Tod führen würde. Wiederum konnte ich mich noch so sehr bemühen, ich bekam einfach keine Warnung heraus. Und, schlimmer noch, ich konnte nicht einmal meinen Körper kontrollieren. Ich wußte, was mich hinter einer dieser Biegungen erwartete, aber ich war nur Passagier in meinem eigenen Schädel und konnte mich nicht daran hindern weiterzugehen. Ich spürte, wie meine Hände den Remington Roomsweeper zärtlich hielten, als sei er ein Baby. Die Kanone würde mir eine Menge nützen.
Wir bogen um die Ecke, und da war sie, wie ich es vorher gewußt hatte: die Wespengeisterkönigin. Der Insektengeist, der von dem wahnsinnigen Schamanen Adrian Skyhill beschworen worden war. Die Wespenkönigin lag dort in der Dunkelheit vor uns, eine massige, verzerrte Gestalt im unsauberen Weiß einer Made. Ihr gewaltiger Unterleib war segmentiert, ihr Oberkörper der ausgemergelte Torso der Menschenfrau, die sie einmal gewesen war. Ihr langes blondes Haar war ihr büschelweise ausgefallen, ihre Haut war aufgequollen und von Blasen und Pusteln übersät. Dünne Lippen spannten sich über gelbe Zähne, zu einem Ausdruck, den man fast als Lächeln hätte deuten können.
Ich versuchte mich zur Seite zu werfen, als der magische Energiestrahl ihre Hand verließ, aber ich reagierte wie immer zu spät. Das blauweiße Feuer zuckte über meine linke Körperhälfte und hüllte meinen Arm ein, und ich schrie. Auch in Dem Traum waren die Schmerzen überwältigend, allumfassend. Ich brach auf dem weichen, nach Hefe riechenden Boden zusammen, während Hawk und die anderen der Königin entgegenliefen und dabei schössen, was das Zeug hielt.
Diesmal war Hawk der erste, den es erwischte, als er sich in einen zuckenden, flammenden Feuerball verwandelte. Dann kam Toshi an die Reihe, der von einer Feuerwand verschlungen wurde und im Tod wie ein Derwisch tanzte. Ich hörte einen Schrei hinter mir, einen schrillen durchdringenden Schrei, der nicht enden wollte...
Und plötzlich war ich wach, mein Puls hämmerte mir einen wahnsinnigen Rhythmus ins Ohr, und meine Brust arbeitete wie ein Blasebalg. Mein ganzer Körper kribbelte, von den Zehen- bis zu den Haarspitzen, als hätte jemand versucht, mich in einem Niedervolt-Stromkreis als Widerstand zu benutzen. Ich rollte einen Moment lang wild mit den Augen, während die Realität um mich herum langsam Gestalt annahm.
Ja. Ich lag in meiner Bude auf der Randall Avenue im Bett und starrte auf die Lichtmuster, die die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos auf die Zimmerdecke zeichneten. Ich war noch voll bekleidet, und meine Sachen waren klatschnaß von kaltem Schweiß. Sehr bequem. Ich versuchte meinen Atem zu beruhigen, während ich die tröstliche Normalität in mich einsickern und das Gift der Angst vertreiben ließ.
Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, daß das schrille Kreischen immer noch in meinen Ohren gellte, als sei mir der Schrei aus Dem Traum in den Wachzustand gefolgt. Ich blinzelte und schüttelte den Kopf, und das Geräusch ging - fast wie bei einem digitalen Soundeffekt - von einem halbmenschlichen Kreischen in einen vertrauteren elektronischen Ton über. Mit einem unterdrückten Fluch richtete ich mich auf und starrte auf mein Telekom.
Ein Anruf, mehr war es nicht. Der Klingelton hatte mich im Schlaf erreicht, und mein Unterbewußtsein hatte ihn freudig aufgenommen und in das Gefüge meines Traums eingearbeitet. Genau das, was mir gerade noch gefehlt hatte.
Der Ton verstummte, als die Telekomsoftware zu dem Schluß kam, daß ich den Anruf nicht persönlich entgegennehmen würde und auf Anrufbeantworter umschaltete. Laut Anzeige in der Bildschirmecke war der Anruf an meine geschäftliche und nicht an meine private Mailbox gerichtet, also sah ich keinen Grund, mich aufzurappeln und mich persönlich zu melden. Während das Uralt-Telekom den Vorgang der einleitenden Begrüßung durchlief, warf ich einen Blick auf die Uhr. Beinahe halb vier. Es sah so aus, als hätte ich mein beabsichtiges einstündiges Nickerchen ein wenig ausgedehnt. Ich fragte mich träge, ob Naomi, das Smartframe, bereits mit den Korrelationen zurückgekommen war oder ob ihr irgendwelche elektronischen Ablenkungen am Wegesrand aufgelauert hatten.
Der Telekomschirm blinkte, und ein Bild erschien... und plötzlich waren meine Gedanken alles andere als träge. Ich erkannte das Gesicht sofort. Ein Mann mittleren Alters: ein starkes Gesicht, eine gebieterische Adlernase und kalte Augen. Sein Haar war immer noch kurzgeschnitten und ein klein wenig stachelig, so daß die verchromte Datenbuchse in seiner rechten Schläfe zu sehen war. Als ich ihn zuletzt gesehen hatte, war sein Haar Pfeffer-und-Salz-farben gewesen, wobei der Pfeffer dominiert hatte. Jetzt war sein Haar fast gänzlich grauweiß, und nur mitten auf dem Kopf waren noch ein paar schwarze Strähnen geblieben. Sein Gesicht sah ebenfalls älter als vor vier Jahren aus - ein gutes Jahrzehnt älter. Die Haut war blaß und ein wenig schlaff, und unter seinen Augen waren dunkle Tränensäcke. Ich mußte an das letzte Mal denken, als wir miteinander geredet hatten. Er hatte sich an einem Ultra-Gym-Gerät die Seele aus dem Leib geschuftet, wobei das Computersystem auf einer Skala, die bis zwanzig reichte, auf Stufe achtzehn arbeitete. Dennoch hatte er ein Gespräch führen können, ohne zu keuchen oder sein Frühstück von sich zu geben. Würde er jetzt auch nur mit Stufe eins fertigwerden? Ich bezweifelte es.
Er hieß Jacques Barnard. Als ich das letztemal Geschäfte mit ihm gemacht hatte - falls das die richtige Bezeichnung dafür ist -, war er einer der Vizepräsidenten des Yamatetsu-Konzerns und mit der Leitung des Seattier Unternehmenszweiges betraut. Hätte mein Buchmacher Quoten dafür festgelegt, ich hätte ihn als sichere Wette für eine absolute Führungskraft betrachtet, der ultimative Konzernkrieger, der sich durch kein Hindernis von seinem Weg abbringen ließ.
Und jetzt? Ich hätte versucht, diese hypothetische Wette zurückzukaufen. Mr. Barnard sah wie ein alter Mann aus, verbraucht und gebeugt. Nicht so sehr von der Zeit, sondern vielmehr vom Wissen. Die Augen, die sich fast durch meinen Telekomschirm brannten, sahen wie die eines Mannes aus, der viele Dinge erfahren hatte, die er gar nicht wissen wollte. (Und Tatsache war, daß ich mir denken konnte, worum es sich bei einigen dieser ›Dinge‹ handelte...)
»Mr. Montgomery, guten Tag.« Barnards Stimme hatte nichts von ihrem volltönenden Klang und ihrem irgendwie einschüchternd wirkenden Selbstvertrauen verloren. »Oder vielleicht ist ›guten Abend‹ angemessener. Es ist schade, daß ich Sie nicht antreffe, aber« - er lächelte trocken und zuckte die Achseln - »ich kann mir nicht vorstellen, daß unser Tagesablauf übereinstimmt.
Es gibt einige Dinge, die ich gerne mit Ihnen besprechen würde, Mr. Montgomery«, fuhr Barnard fort. »Ich versichere Ihnen, daß diese Besprechung von gegenseitigem Nutzen sein wird.
Ich schicke Ihnen jetzt einen sicheren Umschaltcode -ein ›kaltes Relais‹, wie, glaube ich, die augenblickliche Bezeichnung auf der Straße lautet.« In einer Ecke des Schirms blinkte ein Empfangs-Icon, und das Telekom kicherte leise in sich hinein, als es die digitale Zeichenkette in seinem Permanentspeicher ablegte. »Bitte setzen Sie sich mit mir in Verbindung, sobald es Ihnen möglich ist«, schloß Barnard. »Ich freue mich auf die neuerliche Gelegenheit zu einer Unterhaltung mit Ihnen.« Mit einem leisen melodischen Bink endete der Anruf.
Ich weiß nicht, wie lange ich den leeren Schirm anstarrte. Als ich mich schließlich aus meinem selbstversunkenen Bammel riß, waren meine Augen so trocken, daß sie sich wie Sandpapier anfühlten.
Es ist komisch, wie die Dinge sich entwickeln... oder es könnte komisch sein, wenn man nicht persönlich darin verwickelt wäre. Von meiner Warte aus betrachtet fehlte dem Ganzen irgendwie der Witz. Dieser leise melodische Ton hatte mehr angezeigt als das Ende von Barnards Anruf, oder? Er war zugleich die Totenglocke für das Leben, das ich hier in Cheyenne lebte. Ein simples Bink, und alles ändert sich.
Ich schüttelte den Kopf und seufzte. Wie groß waren die Chancen für ein Zusammentreffen Des Traums mit Barnards Anruf? Schon ein ziemlicher Zufall.
Natürlich würden einige Leute das anders sehen. Dieser Freund von Jocasta Yzerman zum Beispiel, der mit ihr an der Universität unterrichtete. Wie war noch gleich sein Name? Harold Geh-im-Schatten oder so ähnlich. Der alte Harold hätte mir auf seine salbungsvolle Art gesagt, daß es so etwas wie Zufall nicht gibt und alles geschieht, weil es der Wille der großen Geister ist. Ja, klar. Wenn das stimmt, dann haben die Großen Geister einen ziemlich verdrehten Sinn für Humor.
Der Anruf... Ich seufzte wiederum, ein tiefempfundener Laut, der von Herzen kam. Es hatte so kommen müssen - das hatte ich von Anfang an gewußt. Als die Dinge in jener Nacht unterhalb von Fort Lewis den Bach hinuntergegangen waren - als es Hawk, Rodney und die anderen erwischt hatte waren es Jacques Barnards Kreds gewesen, die alles wieder gerichtet hatten. Er hatte die ›Wrecking Crew‹ bezahlt - das Team von Sha-dowrunnern, das ich angeworben hatte -, und zwar einschließlich der Prämien für den Tod von Toshi und Hawk. Er hatte meinen ›Tod‹ arrangiert, zumindest für die Leute von Lone Star, die ein Interesse daran gehabt hätten, mich aufzuspüren. Und schließlich hatte er auch noch für den kybernetischen Ersatz für meinen Arm bezahlt, den der Königinnengeist weggebrannt hatte.
Er hatte die Angelegenheit nie mit mir besprochen. Als ich in dem Krankenhaus aufgewacht war - in einem exorbitant teuren Privatzimmer, wiederum auf Kosten von Mr. Barnard -, war bereits alles geregelt gewesen. Er hatte die Zahlung nie mit Bedingungen verbunden, nie irgendwelche Zugeständnisse von mir verlangt.
Natürlich war das auch gar nicht nötig. Wir wußten beide, wie der Hase läuft. Konzerne und Konzernspitzen machen keine Geschenke. Sie tätigen Investitionen. Barnard hatte in mich investiert, und wir wußten beide, daß er irgendwann nach Zinsen Ausschau halten würde. In den inzwischen vergangenen vier Jahren hatte er die Sache nie erwähnt. Teufel, ich hatte in dieser Zeit nie auch nur das geringste mit Yamatetsu zu tun gehabt, und so gefiel es mir auch am besten. Aber er hatte es auch nicht erwähnen oder mich daran erinnern müssen. Die Megakonzerne dieser Welt haben einen Haufen Ideen der alten japanischen Weltsicht verinnerlicht. Wenn jemand in deiner Schuld steht, ist es seine Sache, sie nicht zu vergessen, und nicht deine, ihn daran zu erinnern.
Jetzt war also die Zeit gekommen, die Schuld einzufordern. Genau das hatte der Anruf zu bedeuten. Ich schuldete ihm etwas für meinen Arm und für meinen Lebensunterhalt - Drek, für mein Leben, wenn man es genau nahm -, und er würde kassieren.
Schwerfällig ging ich zum Telekom und drückte ohne allzuviel Interesse ein paar Tasten. Das Smartframe war tatsächlich wieder zurück und hatte einige Dateien mit ein paar Megapulsen an Daten über Jonathan Bridge gefüllt. Diese Dateien enthielten wahrscheinlich alles, was ich brauchte, um meinen Kontrakt mit Sharon Young zu erfüllen und mir ein paar dringend notwendige Kreds zu verdienen.
Dennoch konnte ich einfach nicht die rechte Begeisterung dafür aufbringen, die Dateien zu öffnen. Was spielten sie noch für eine Rolle? Ich konnte mir nicht denken, was Barnard von mir wollte, aber andererseits konnte ich mir auch nicht vorstellen, daß die Abzahlung meiner Schulden keinerlei Einfluß auf mein Leben haben würde.
Ich rief Barnard nicht sofort zurück.
Aber ich konnte es auch nicht zu lange hinauszögern. Er hatte meine LTG-Nummer in Cheyenne aufgespürt, also wußte er mit ziemlicher Sicherheit auch, daß ich in der Stadt war. Wenn ich seinen Anruf nicht innerhalb einer vernünftigen Zeitspanne erwiderte, mochte er sich fragen, ob ich meine Verpflichtung vergessen hatte oder - schlimmer - sogar erwog, mich davor zu drük-ken. Wie würde ein hohes Konzern-Tier wie Barnard auf diese Art von Verantwortungslosigkeit reagieren? Ich mußte an die beiden Knochenbrecher im Geschäftsanzug denken, die mich vor vier Jahren zu Barnards Enklave im Madison Park eskortiert hatten, und ich hatte nicht den Wunsch, sie unter weniger vornehmen Bedingungen wiederzusehen.
Trotzdem schob ich den Anruf so lange vor mich her, wie es mir politisch ratsam erschien... und dann noch etwas länger. Schließlich konnte ich mich so lange, wie ich nicht tatsächlich anrief, selbst belügen, indem ich mir sagte, daß ich selbständig und unabhängig war.
Einen Teil meiner Zeit verbrachte ich damit, ein paar Nachforschungen über Jacques Barnard anzustellen (lerne deine Feinde kennen, falls sich deine Freunde als Schweinehunde erweisen, und so weiter). Ich hatte angenommen, daß Barnard immer noch zur Seattier Zweigstelle von Yamatetsu gehörte - die Tatsache, daß die Nummer des ›kalten Relais‹, die er mir gegeben hatte, zu einem Seattier Knoten gehörte, unterstützte diese Vorstellung noch -, aber das stellte sich als völlig daneben heraus. Yamatetsu Seattle war jetzt der Wirkungsbereich irgendeiner Schnalle namens Mary Luce, während Barnard die Leiter hinaufgefallen und geschäftsführender Leiter von Yamatetsu Nordamerika geworden war. Die Beförderung hatte eine Versetzung ins strahlende Herz der Yamatetsu-Welt mit sich gebracht -nach Kyoto, Japan.
Also hatte Jacques Barnard den Staub des Sprawls von seinen Tausend-Nuyen-Schuhen abgeschüttelt. Was bedeutete das aber für mich?
Das Unvermeidliche aufzuschieben ist ein Idiotenspiel. Schließlich biß ich in den sauren Apfel und rief an: siebzehn Uhr meiner Zeit, neun Uhr in Kyoto. Ich sah zu, wie die Icons über den unteren Teil des Schirms blitzten und flackerten, als mein Telekom die LTG-Num-mer wählte, die Barnard mir gegeben hatte, und die Verbindung herstellte. Mein System synchronisierte sich mit dem Seattier Knoten und schüttelte ihm die Hände, dann wurde der Anruf von der weit entfernten Station ausgesetzt - im wesentlichen auf Eis gelegt. Auf meinem Schirm war zu sehen, daß der Anruf nach Denver weitergeleitet wurde... um dort wiederum auf Eis gelegt zu werden. Dieser Vorgang wiederholte sich noch dreimal - wenn Barnard sagte, daß ein Relais kalt war, bedeutete das offenbar, daß man es für kryogenische Forschungen verwenden konnte -, bevor schließlich das normale Klingelzeichen aufblinkte.
Ich runzelte die Stirn, während das Telekom auf Antwort wartete. In was, zum Teufel, wurde ich hier hineingezogen? Wenn Barnard der Ansicht war, er brauche ein Fünf-Knoten-Relais, um mit mir zu reden, hatte ich das dumpfe Gefühl, daß wir uns nicht über das Wetter unterhalten würden...
Das Telekom jaulte einmal auf, dann füllte sich der Schirm mit einem Bild von Barnard persönlich. Er saß an einem Schreibtisch, wie ich erwartet hatte, aber nicht in einem Büro. Oder zumindest in einem, wie ich noch nie eines gesehen hatte. Der Hintergrund war ein wenig unscharf, aber ich konnte immerhin weiße Marmorwände, riesige Fenster und eine offene Tür zu einem Säulengang erkennen, der wiederum in einen Ziergarten führte. Lebensgroße Statuen im klassischen Stil standen in unbequem wirkenden Posen zwischen den blühenden Büschen.
Barnard sah auf von dem, was er tat - etwas, das sich außerhalb des Erfassungsbereichs seines Telekoms befand -, und lächelte, als er mein Gesicht sah. »Mr. Mont-gomery.« In seiner Stimme lag echte Wärme - oder zumindest eine beeindruckende Nachahmung. »Ich bin froh, daß ich Sie erreichen konnte.«
Es war komisch, aber in diesem Augenblick war ich ebenfalls froh. Bis jetzt hatte ich es nicht gewußt, aber dieser Augenblick verfolgte mich seit vier Jahren. Genau so, wie man sich an Zahnschmerzen gewöhnen und vergessen kann, daß sie da sind, hatte ich mich an den chronischen Streß gewöhnt, mich ständig zu fragen, wann der Anruf kommen, wann sich der Kreis schließen würde. Aber das bedeutete nicht, daß der Streß nicht dagewesen, nicht wirklich vorhanden gewesen war. Jetzt, wo Barnard mich vom Schirm meines Telekoms anlächelte, hatte ich ein seltsames, zittriges Gefühl im Magen... und mit einiger Verblüffung wurde mir klar, daß es vier Jahre Anspannung waren, die sich endlich lösten.
»Mr. Barnard«, sagte ich unverbindlich. »Es ist lange her.«
Sein Lächeln - das aufrichtiger war, als ich seinen Verstellungskünsten zugetraut hätte - wurde breiter, und er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Die Videokamera seines Telekoms regulierte die Schärfe, und ich konnte die Statuen jenseits des Säulengangs sehen. »Wie gefällt Ihnen die Sonne in Cheyenne, Mr. Montgomery?« fragte er unbeschwert. »Eine angenehme Abwechslung von Seattle, kann ich mir vorstellen.«
Ich schüttelte den Kopf, momentan wie vom Donner gerührt. Er redete tatsächlich über das verdammte Wetter. Mit einiger Mühe brachte ich meine Gedanken wieder unter Kontrolle. »Eine Veränderung ist ebenso gut wie ein Urlaub, zumindest sagt man das.« Ich wandte den Blick von ihm ab und sah an ihm vorbei. »Finden Sie nicht auch?«
Er kicherte. »Mit einer hohen Stellung in einem Konzern sind einige bedeutende... Vergünstigungen verbunden«, räumte er ein. »Mir gefällt Kyoto sehr. Hatten Sie jemals das Vergnügen?«
»Ich hatte nie die Zeit.«
»Schade.« Er spitzte kurz die Lippen. »Aber Sie reisen vermutlich gerne?«
»Nur, wenn ich mir die Anschlußflüge merken kann, die man mir nennt«, sagte ich trocken. »Hören Sie, Mr. Barnard, ungeachtet des äußeren Scheins nehme ich doch an, daß dies kein Höflichkeitsanruf ist.«
Er blinzelte, und sein Gesichtsausdruck änderte sich. Einen Moment lang hätte ich fast glauben können, daß seine Augen Enttäuschung verrieten. Eine Mikrose-kunde später war der Ausdruck verschwunden und sein Gesicht wieder die kühle Maske des erfahrenen Verhandlungspartners. »Wie Sie wünschen, Mr. Montgo-mery.« Er hielt inne, wie um seine Gedanken zu ordnen. »Wie Sie sich vielleicht schon gedacht haben, gibt es da eine... eine Angelegenheit, könnte man sagen... bei der Sie mir helfen können. Haben Sie einen Paß? Natürlich nicht unter Ihrem Namen« - er kicherte leise -, »wenn man bedenkt, daß Derek Montgomery offiziell im Jahre zwanzig-zweiundfünfzig gestorben ist. Aber einen Paß, der einer Inspektion standhält?«
Ich nickte.
»Gut. Dann habe ich eine Bitte an Sie. Es gibt eine Botschaft, die einem... einem Kollegen von mir überbracht werden muß. Ich möchte, daß Sie sie für mich abliefern, Mr. Montgomery.«
Ich schnaubte. »Ich soll den Botenjungen spielen?«
»So würde ich es nicht gerade formulieren«, wich Barnard aus.
»Aber es trifft den Kern der Sache.«
Er zuckte die Achseln. »Wenn Sie meinen.«
»Warum können Sie es nicht auf elektronischem Weg erledigen?« fragte ich. »Oder auf virtuellem, über die Matrix?«
Barnards Blick verhärtete sich, und ich spürte, wie meine Körpertemperatur um ein paar Grad sank. »Ich habe meine Gründe, das versichere ich Ihnen«, sagte er kalt. Doch dann entspannte sich seine Haltung um ein Iota. »In dieser Situation ist ein persönlicher Kontakt erforderlich, Mr. Montgomery. Die Umstände lassen nichts anderes zu.«
Er versuchte mich durch Vernunft für sich zu gewinnen, indem er tatsächlich erklärte - bis zu einem gewissen Grad jedenfalls. Aber so leicht ließ ich mich nicht einwickeln. »Warum schicken Sie dann nicht einfach einen Ihrer Lakaien aus Kyoto?« konterte ich. »Da muß es doch Hunderte von Eifrigen geben, die sich dafür umbringen würden« - Ihnen in den Arsch zu kriechen, wollte ich sagen, überlegte es mir aber im letzten Augenblick anders -, »dem geschäftsführenden Leiter einen persönlichen Gefallen zu tun. Neh?«
Barnard runzelte die Stirn. »Vielleicht. Aber in diesem Fall wäre das... unangemessen.«
»Warum?«
»Weil der Kontakt nicht zurückverfolgbar sein darf, Mr. Montgomery. Ich brauche jemanden, den ich verleugnen kann.«
»Sie meinen doch, Sie brauchen jemanden, der entbehrlich ist, nicht wahr?«
Barnard seufzte ein wenig frustriert. »Nicht in diesem Fall, Mr. Montgomery.« Er lächelte schief. »Unter anderen Umständen« - er zuckte die Achseln -, »wer weiß? Aber nicht in diesem Fall, das versichere ich Ihnen.«
»Warum nicht?« fragte ich sarkastisch. »Sie würden also jemanden anders in den Regen stellen, aber nicht mich. Zweifellos wegen meiner gewinnenden Persönlichkeit, oder was?« schnaubte ich erneut. »Hören Sie, Mr. Barnard, ich bin durchaus bereit mitzuspielen, weil ich Ihnen für den Arm was schuldig bin, und ich zahle meine Schulden lieber, als mich von Yamatetsus Eintreiben! jagen zu lassen. Aber beleidigen Sie bitte nicht das, was ich gerne als meine Intelligenz betrachte, so ka?«
Einen Moment lang dachte ich, ich sei einen Schritt zu weit gegangen. Barnard starrte mich fast zehn Sekunden über den Telekomschirm an, und seine Augen waren wie Ziellaser. Dann beugte er sich vor, und wiederum regulierte die Videokamera die Schärfe, so daß die Statuen wieder unscharf wurden. »Hören Sie mir gut zu«, sagte er, »ich werde Ihnen das nur einmal sagen und auch nur deshalb, weil ich will, daß Sie mich verstehen. Ich treibe keine Schulden ein, Mr. Montgomery. Den Arm haben Sie längst bezahlt, und mehr.« Er lächelte schwach und beschrieb eine Geste mit der Hand, die sein Büro einschloß. »Glauben Sie, ich säße hier in diesem Büro, wenn Adrian Skyhill mich immer noch bei jeder Gelegenheit beim Vorstand schlechtmachen würde?« Das Lächeln verblaßte, und einen Moment lang sah der Exec noch älter aus als zuvor. »Und selbstverständlich spielen bei Ihrer Schuld noch andere Dinge eine Rolle, aber darüber möchte ich selbst über ein kaltes Relais nicht reden.«
Ich nickte zögernd. Er meinte natürlich die Insektengeister.
»So, wie ich die Sache sehe, Mr. Montgomery«, fuhr Barnard fort, »steht Yamatetsu für Ihre Dienste in Ihrer Schuld.« In einer Geste, die entwaffnende Aufrichtigkeit signalisieren sollte, breitete er die Arme aus. »Das hier gehört zur Rückzahlung. Mir ist zu Ohren gekommen, daß Sie die Arbeit und die Kreds brauchen.«
Ich rang mir ein Lachen ab. »Mr. Barnard, Sie sollten Ihren Informanten einen gezielten Tritt verpassen. Ich habe Kontrakte bis zum Abwinken. Ich habe keine Zeit, einen besseren Botenjungen für Sie zu spielen, und...«
Seine Stimme war nicht lauter geworden, aber der schneidende Unterton schnitt mir das Wort ab wie Pistolenschuß. »Nein, Mr. Montgomery, Sie haben nicht Kontrakte, wie Sie sagen, ›bis zum Abwinken‹. Die einzige Angelegenheit, mit der Sie sich im Augenblick befassen - da Sie die Geschichte mit dem Avalon für eine gewisse Jennifer Arnequist so rasch und glatt erledigt haben -, ist ein unbedeutender Kontrakt mit Sharon Young.« Er lächelte - es machte ihm auch noch Spaß, diesem Drekskerl. »Und wie es der Zufall will, hängt die Angelegenheit, mit der Ms. Young an Sie herangetreten ist, direkt mit meiner Bitte zusammen, so daß es nicht einmal in dieser Hinsicht zu einem Konflikt kommt.«
Ich seufzte. Konzernleute. Ich hätte nicht so dumm sein sollen, es mit einem Bluff zu versuchen. Ich hob die Hände in einer Geste gespielter Kapitulation. »Okay, okay, Sie haben mich.«
Barnard hielt inne. Dann sagte er leise. »Wissen Sie, es wäre mir wirklich lieber, wenn Sie diesen Auftrag freiwillig übernähmen.«
»Warum?«
Barnard hielt wiederum inne - länger diesmal. »Wollen Sie die Wahrheit hören, Mr. Montgomery?«
»Wenn das nicht zu anstrengend für Sie ist.«
Seine Miene veränderte sich. Nicht ganz zu einem Lächeln, aber doch zu etwas, das dem sehr nahe kam. »Weil ich Sie respektiere, Mr. Montgomery. Und darüber hinaus mag ich Sie.«
Er wartete, als rechne er mit einer kaltschnäuzigen Bemerkung meinerseits. Es gefällt mir, unberechenbar zu sein, also hielt ich den Mund. Schließlich lächelte er wieder sein ›Geschäftslächeln‹. »Wissen Sie, Mr. Montgomery, Sie haben noch gar nicht die entscheidende Frage gestellt.«
Es machte ihm tatsächlich Spaß. »Okay, Barnard«, sagte ich müde. »Wohin soll ich?«
Er kicherte. »Waren Sie schon einmal im Königreich Hawai'i, Mr. Montgomery?«
Ich verlor wohl langsam meinen verdammten Verstand...
Ich lehnte mich zurück und starrte auf den Telekomschirm. Das Videobild war erloschen, aber die Datenanzeige leuchtete immer noch. Den Daten auf dem Schirm zufolge hatte ich ein Ticket für den Global-Airways-Suborbitalflug von Casper zum wunderschönen Honolulu, und zwar von jetzt an gerechnet in zwölf Stunden. Es war ein Konzern-Blankoticket ohne Namen, dafür aber mit so vielen Unbedenklichkeitsvermerken darauf, daß Ticketkontrolleure, Zollbeamte und ähnliche Personen meiner vorgeblichen Identität nicht allzu tief auf den Grund gehen würden. Dem Datenwust zufolge, den ich auf meinen Kredstab kopieren konnte, wann immer mir danach war, würde ich unter der Schirmherrschaft eines Ladens namens Nebula Enterprises reisen, bei dem es sich zweifellos um eine unbedeutende Tochter Yama-tetsus handelte... oder bei näherer Betrachtung vielleicht auch nicht, wenn Barnard so versessen darauf war, daß sich diese ganze Geschichte nicht zu ihm zurückverfolgen ließ. Vielleicht war Nebula ein unabhängiges Unternehmen, das Yamatetsu im allgemeinen oder Barnard im besonderen etwas schuldig war, oder vielleicht hatte Chummer Jacques den Laden ja auch unter seiner Konzernfuchtel.
Abgesehen von dem Ticket verriet mir die Anzeige, daß sich mein Kontostand bei der Sioux Interface Bank soeben mehr als verfünffacht hatte, da eine Einzahlung von 22 K Nuyen ›Notreserve‹ erfolgt war.
Schließlich gab es noch - ebenfalls zum Kopieren auf meinen Kredstab vorgesehen - ein elektronisches Paßwort - diese Bezeichnung trifft es vielleicht am besten. Die Botschaft, die ich Barnards ›Kollege‹ in Hawai'i überbringen sollte, war keine, die ich mir merken und dann herunterleiern konnte - natürlich nicht, denn das hätte bedeutet, daß ich gewußt hätte, wie die Botschaft lautete. Statt dessen würde ich sie auf einem Chip erhalten - zweifellos verschlüsselt und mit genug Ice versehen, um einen anständigen See aus Synth-Scotch zu kühlen -, wenn ich auf dem internationalen Flughafen von Casper eintraf. Mit dem elektronischen Paßwort würde ich mich vor dem Überbringer identifizieren.
Ich starrte auf die Datenanzeige des Schirms und machte mir Sorgen. Nicht deshalb, weil mein behagliches kleines Leben umgekrempelt und wie ein Mülleimer ausgeleert wurde - nun zumindest nicht nur deshalb. Nein, was mir am meisten Kopfzerbrechen bereitete, waren meine eigenen Reaktionen. Noch vor ein paar Stunden hatte ich gedacht, ich hätte nicht mehr die Instinkte, um in den Schatten überleben zu können (falls ich sie überhaupt je hatte...), und nun hatte ich den Beweis.
Den Beweis? Jawoll.
Ich stellte fest, daß ich Jacques Barnard vertrauen wollte, glauben wollte, daß er mir die reine Wahrheit über den Ausflug nach Hawai'i erzählt hatte. Und darüber, daß er mich nicht als dem Konzern verpflichtet betrachtete. Daß er mich für den Botengang ausgewählt hatte, weil er mich respektierte und - vielleicht - sogar mochte. Schlimmer, ich stellte fest, daß ich ihn auch mögen wollte.
Ihm vertrauen? Ihn mögen? Komm verdammt noch mal zu dir. Barnard war der Johnson aller Johnsons -das hatte ich vor vier Jahren am eigenen Leib erfahren, oder nicht? Wenn ich glaubte, er würde - oder könnte -einem nützlichen Werkzeug wie mir aufrichtige menschliche Gefühle entgegenbringen, war ich bestenfalls naiv und schlimmstenfalls schizophren. Und die Tatsache, daß ich den Drang verspürte, diese nicht vorhandenen Gefühle zu erwidern... nun ja, vielleicht war es an der Zeit, den alten Trenchcoat samt Flachmann in den Schrank zu hängen und mir einen netten, sicheren Job als Glückwunschkartenverkäufer oder ähnlichen Drek zu besorgen.
Mit einem wütenden Knurren schob ich meinen Kred-stab in den Schlitz des Telekoms und drückte auf Herabladen. Während das System die Daten kopierte -Ticket, Operationskapital und Paßwort -, zwang ich mich dazu, die Situation kalt und logisch zu durchdenken.
Okay, wie höflich und freundlich die Worte auch sein mochten, in die Barnard seine ›Bitte‹ kleidete, Tatsache war, daß mir kaum eine andere Wahl geblieben war, als mitzuspielen. Schulden sind Schulden, und Megakonzerne gehen noch härter gegen Zahlungsunwillige oder -unfähige vor als Kredithaie. Ich würde nach Hawai'i fliegen, und zwar mit einer Botschaft, die ich nicht lesen konnte, für eine Person, die ich nicht kannte, unter Bedingungen, die nicht meiner Kontrolle unterlagen. Hatte ich irgendwas übersehen? Ach ja - mit potentieller Opposition, die ich weder analysieren noch einschätzen konnte. Toll, es wurde immer besser. Mit anderen Worten, diese Situation war das genaue Gegenteil der ›Sha-dowruns‹, die ich mir normalerweise aussuche, dachte ich trübsinnig. Ein Maximum an Bloßstellung, ein Minimum an Kontrolle, und wahrscheinlich null Rückendeckung. Blind und dumm hinein.
Num, zumindest konnte ich einige Nachforschungen anstellen. Ich stöhnte bei dem Gedanken, die nächsten vier oder fünf Stunden damit zu verbringen, ein weiteres Smartframe wie Naomi zusammenzuschustern, um alle Verbindungen aufzuspüren, die Yamatetsu als Konzern und Barnard als Individuum mit dem unabhängigen Königreich Hawai'i unterhielten. Nun, Drek, ich würde wohl auch im Flugzeug schlafen können.
Augenblick mal - vielleicht gab es noch eine andere Möglichkeit. Mir stand noch eine andere Quelle offen, die mir vielleicht etwas dazu sagen konnte. Diese Quelle schien ein fast enzyklopädisches Gedächtnis für Fakten, Fäktchen und skurrile Gerüchte über Konzerne der ganzen Welt und hochrangige Execs zu haben. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß sie bereits persönlich mit Yamatetsu und Barnard zu tun gehabt hatte -wenngleich indirekt durch Vermittlung eines gewissen Dirk Montgomery -, konnte sie vielleicht ein wenig Licht in das Dunkel bringen, auf das ich mich einließ.
Ich beugte mich vor und hämmerte auf die Telekomtastatur ein, dann wartete ich, während es eine LTG-Nummer des Freistaats Kalifornien wählte. Zum zwei-tenmal heute nacht - offenbar war dies meine Zeit für kalte Relais - sah ich den blinkenden Icons zu, als mein Anruf über eine Reihe von Mittlerknoten geleitet wurde. Endlich blinkte das Klingelzeichen.
Jemand antwortete sofort - nur audio, was hieß, daß der Bildschirm leer blieb -, eine dünne, irgendwie asthmatische Stimme, bei der ich mir einen wieselgesichti-gen Punk vorstellte. »Do desu ka?«
»Ich will Argent sprechen«, sagte ich zu dem leeren Schirm.
Das Wiesel hielt inne. »Und wer, zum Teufel, bist du?« wollte er wissen.
»Die Tatsache, daß ich dieses Relais kenne, bedeutet, daß ich diese Frage nicht beantworten muß, oder?« stellte ich fest.
»Paß auf, Priyatel«, knurrte das Wiesel, »wenn du irgendwelche dämlichen Spielchen spielen willst, spiel sie woanders, neh?«
Ich stellte mir vor, wie er mit einem schmutzigen Zeigefinger Anstalten machte, die Verbindung zu unterbrechen, und zuckte die Achseln. »Okay, Omae«, sagte ich, »wir spielen's auf deine Art.« Es spielte ohnehin keine Rolle. »Sag Argent, daß Dirk Montgomery mit ihm reden will, okay?«
»Montgomery?« Die Stimme des Wiesels veränderte sich, und die gewohnheitsmäßige Feindseligkeit verschwand. »Hey, er hat von dir geredet, Priyatel, und mir ein paar Geschichten erzählt. Wir haben was gemeinsam, weißt du das?« Ich wollte eigentlich nicht darüber nachdenken, was das sein mochte, aber das Wiesel fuhr fort: »Wir haben uns beide vom Star abgesetzt. Na, wie ist das? Die Welt ist verdammt klein, rieh?«
»Ja«, sagte ich, einen Seufzer unterdrückend. »Die Welt ist verdammt klein. Und du bist...?«
»Du kannst mich Wolf nennen.«
»Aha.« Ich versuchte es noch einmal. »Ich muß mit Argent reden, Wolf.«
»Ist nicht drin, Priyatel, er ist auf der anderen Seite der Mauer und nicht im Sprawl. Geschäftlich unterwegs.«
»Wann wird er zurückerwartet?«
Wolf/Wiesel kicherte dünn. »Hast du auf diese Frage schon mal 'ne direkte Antwort von Argent bekommen?« Er hielt inne, um dann ernsthafter fortzufahren: »Ich kann ihm sagen, er soll dich anrufen, wenn er zurückkommt, mehr kann ich nicht für dich tun. Hast du eine Nummer?«
Ich gab Wolf die LTG-Nummer eines kleinen E-Mail-Dienstes in Cheyenne. Natürlich nicht annähernd so sicher wie ein echtes kaltes Relais, aber da die Mailbox von einem Toten gemietet war, würde sie interessierte Parteien nicht direkt zu mir führen. Ich wechselte noch ein paar leere Höflichkeitsfloskeln mit Wolf/Wiesel und beendete das Gespräch bei der ersten guten Gelegenheit.
Ich seufzte wieder und sah auf die Uhr. Kurz vor achtzehn Uhr. Alles in allem waren die letzten Tage ziemlich ausgefüllt gewesen, und es sah nicht so aus, als würde sich diese Gangart in den nächsten Tagen verlangsamen. Ich überflog noch einmal die Daten auf meinem Sub-orbital-Ticket: Abflug sechs Uhr, einchecken mindestens eine Stunde vor dem Start. Kein Problem... auf den ersten Blick. Doch leider befindet sich der einzige Flughafen in der Sioux Nation, der Suborbitalflugzeuge abfertigen kann, in Casper, nicht in Cheyenne - und fast dreihundert Kilometer entfernt. Was bedeutete, ich mußte einen Kurzstrecken-›Skybus‹ nehmen, der von der Cheyenner Innenstadt aus flog. Was wiederum bedeutete, daß ich von meiner Bude bis zum Skybus-Bahn-hof ein Taxi nehmen mußte, wenn ich mich für die Parkgebühren nicht dumm und dämlich bezahlen wollte. Was bedeutete...
Ich seufzte noch einmal. Es war wohl besser, wenn ich anfing zu packen.