14

Der große Wurm. Der verdammte Hosengurt.

Er mußte es sein, nicht wahr? Ryumyo, der verdammte Großdrache. Jesus Christus im Himmel. Wie war das noch gleich mit dem Untertauchen?

Meine Hände zitterten, was es mir erschwerte, den Wagen kurzzuschließen, den ich gerade stahl - einen netten, unauffälligen Volkswagen Elektro, der hier und da große Rostflecken aufwies. Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß aus den Augen und versuchte, mir nicht in die Hose zu machen.

Ein netter entspannender Ausflug auf die Inseln. Liefern Sie eine Botschaft ab, legen Sie sich ein bißchen Sonnenbräune zu, kippen Sie sich ein paar Mai-Tais hinter die Binde, und schon ist alles erledigt. So hatte Barnard die Sache dargestellt.

Ja, genau. Ryumyo, der verdammte Drache, hatte es treffend formuliert, nicht wahr? »Sie sind in Dinge verwickelt worden, die viel zu schwerwiegend für Sie sind«, hatte er zu mir gesagt. Ohne Drek. Konzerne, Yaks, Terroristen, meine Güte. Und jetzt noch Könige und verdammte Drachen ... Ach ja, und wir dürfen auch die Insektengeister nicht vergessen, oder? Meine Tanzkarte war bereits voll, und trotzdem tauchten immer mehr Gäste auf dem Ball auf. Zum Teufel damit und wieder zurück. In einem früheren Leben muß ich etwas echt Schlimmes gewesen sein - Nonnenschänder, vielleicht, Massenmörder oder vielleicht auch Steuereintreiber -, um so ein drekkiges Karma verdient zu haben.

Endlich gelang es mir, den Elektro davon zu überzeugen, daß ich den richtigen Code hatte, und der kleine Elektromotor des Volkswagen sprang an. Ich versuchte mit quietschenden Reifen anzufahren, aber der Sarg auf Rädern jaulte lediglich anklagend auf und rollte im Schrittempo los. (Laut irgendeiner Volkswagenpropaganda, die ich vor einer ganzen Weile gesehen hatte, soll der Elektro angeblich eine Höchstgeschwindigkeit von 75 Stundenkilometern erreichen. Sicher, Chummer. Die Ingenieure von Volkswagen müssen das verdammte Ding von einer Brücke gestürzt haben, um auf diese Zahl zu kommen.) Ich lenkte den Elektro nach Osten und gondelte durch den Mittagsverkehr.

Ihr Geister... Ich hätte nichts lieber getan, als den freundlichen Rat des netten Drachen anzunehmen und mich schleunigst von alledem abzusetzen. Ich hatte es schließlich nicht darauf angelegt, meine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Wenn ich jetzt einen falschen Schritt machte, war meine Nase vermutlich der größte Teil meiner Anatomie, den man noch ganz vorfinden würde. Vielleicht nach meinem Gespräch mit König Kamehameha V. Ja, klar.

Ich war zehn Minuten zu früh für meine Verabredung -Audienz? -, als ich in das öffentliche unterirdische Parkhaus einen Block vom Iolani-Palast entfernt einfuhr. Ich verabschiedete mich ohne großes Bedauern von dem Elektro - Volkswagens Ergonomie-Gurus mußten die Ausgestaltung des Kopfraums einem Haufen Kobolden überlassen haben - und nahm den Fahrstuhl nach oben.

Und dort blieb ich stehen und lauschte ein oder zwei Minuten lang meinem Puls, der einen wilden Rhythmus in meine Ohren hämmerte. Logik kämpfte gegen Instinkte. Meine Instinkte rieten mir, alle Schliche zu benutzen, die ich kannte, nach Schatten und Verfolgern Ausschau zu halten, auf meinen Hintern zu achten und mich meinem Ziel zu nähern, ohne gesehen zu werden. Die Logik sagte mir, daß das ein Haufen Drek war. Ich würde in einen verdammten Palast schlendern. Dort würden mir meine Schliche eine Menge nützen. Und überhaupt, erinnerte ich mich, während ich den Schnitt betrachtete, den das Schußloch in der Scheibe an meinem Finger hinterlassen hatte, Gordon Hos Scharf-schütze hatte mir einen überzeugenden Beweis geliefert, daß der Ali'i mich noch nicht tot sehen wollte. Dennoch dauerte es gute zwei Minuten, bis die Logik das Gejammer der Instinkte unterdrückt hatte. Schließlich ging ich über die Straße - wo ich fast von einem Kurier auf einem Motorrad über den Haufen gefahren worden wäre, obwohl ich Grün hatte - und zum Iolani-Palast.

Das Gebäude an sich war von einer mindestens einen halben Hektar großen Rasenfläche umgeben, die fast unanständig grün und lebendig aussah. Es sah nicht groß genug für das Kapitol eines souveränen Staates aus. Drek, man konnte kaum mehr als hundert Bürokraten und Datenwälzer darin unterbringen. Aber dann sah ich in die andere Richtung auf das Haleaka-irgendwas, das große Stahlbeton-Regierungshaus. Ich nehme an, daß es sinnvoll war, die alltäglichen Regierungsgeschäfte von dem symbolischen, feierlichen Drek zu trennen. Das schmiedeeiserne Tor zum Palastgelände war offen und wurde von vier Wachen flankiert - alles große Jungens, Trolle und Orks in weißen Uniformen, die in der strahlenden Sonne fast blendeten. (Dumm, dachte ich zuerst, aber dann wurde mir klar, daß diese Burschen nur Symbolcharakter hatten. Wenn man den ganzen Tag draußen in Habachtstellung in der glühenden tropischen Sonne stand, war weiße Kleidung wesentlich sinnvoller als ein dunkler Tarnanzug. Die eigentlichen harten Burschen würden sich außer Sicht aufhalten, irgendwo im Schatten, aber durchaus in der Lage, in Sekundenschnelle zu reagieren, wenn es Ärger gab.) Ich schlenderte hindurch. Einer der Trolle bedachte mich mit meiner täglichen Dosis Stinkeblick, und ich sah, wie seine dicken verhornten Knöchel auf dem Kolben seines H&K-Sturmge-wehrs weiß wurden. Chummer, ich lächelte nur. Im Augenblick standen Trolle mit Sturmgewehren ganz unten auf meiner Liste mit Dingen, um derentwillen ich mir in die Hose machte.

Ich schlenderte die Auffahrt entlang, die niedrige Treppe hinauf und dann durch die Eingangstür. Und in die segensreiche Kühle eines Lobby/Empfangsbereichs. Scott hatte mir erzählt, der Iolani-Palast sei ungefähr hundertfünfzig Jahre alt, und jetzt konnte ich es tatsächlich spüren. Nicht daß das Haus heruntergekommen aussah. Weit gefehlt, er wurde offenbar perfekt instandgehalten. Aber die Geschichte, die sich durch seine Türen, die Treppe hinauf und über den dunklen Holzboden gewälzt hatte, lag förmlich in der Luft.

Es gab vier weitere weißgekleidete Parade-Wachen -wiederum Trolle -, eine in jeder Ecke des Raumes. Weitere Stinkeblicke. Vor mir stand ein riesiger Empfangstresen aus demselben dunklen Holz wie der Fußboden. Dahinter saß eine junge polynesische Frau, deren Attraktivität durch die Tatsache, daß sie ein Ork war, nicht im geringsten beeinträchtigt wurde. Kein Stinkeblick von ihrer Seite. Sie betrachtete mich mit einem Willkommenslächeln, das mich unter anderen Umständen vielleicht dazu veranlaßt hätte, im Kreis zu laufen, ein Rad zu schlagen und den Mond anzuheulen. Ich ging zu ihr. »Ich heiße Dirk Montgomery«, sagte ich zu ihr.

»Ja?« Dann blinzelte sie und warf einen Blick auf ihren in das Pult eingelassenen Computerbildschirm. »Ah, ja«, sagte sie strahlend. »Ich bitte um Verzeihimg, Mr. Montgomery, Sie werden selbstverständlich erwartet. Wenn Sie noch einen Augenblick warten würden...« Ihre Augen verdrehten sich, und erst jetzt fiel mir das Glasfaserkabel auf, daß sie mit dem Computersystem in ihrem Empfangspult verband. Ein paar Sekunden später strahlten mich ihre dunklen Augen wieder an. »Mr. Ortega kommt sofort«, sagte sie.

Als sie ›sofort‹ sagte, hatte sie auch ›sofort‹ gemeint. Ich hatte ihr kaum gedankt, als sich eine Tür in der Wand hinter ihr öffnete und ein Pinkel zum Vorschein kam.

Kein ›Pinkel‹ wie in ›Konzern‹. Nein, ›Pinkel‹ wie in Zoé oder bei einem anderen Modedesigner der Spitzen-klasse. Als Mr. Ortega durch die Tür schritt, war es sein Anzug, der mir als erstes auffiel. Der Mann darin wirkte wie ein Anhängsel. Ein teiggesichtiger kleiner Bursche mit blasser Haut und Pfeffer-und-Salz-farbenem Haar. Er wirkte irgendwie staubig, wie ein Bibliothekar, der ein paar Jahre unter seinen Bücherstapeln begraben gewesen war. Aber der Anzug und die Augen - granithart wie die des Ali'i, dachte ich plötzlich - reichten aus, um mich davon zu überzeugen, daß dieser Bursche ein hohes Tier sein mußte.

Jene Augen betrachteten mich von Kopf bis Fuß, taxierten mich... und verengten sich, als gefielen ihm die Schlußfolgerungen nicht besonders, die er daraus zog. »Mr. Montgomery«, sagte er höflich, doch ohne menschliche Wärme. Er streckte eine dünne Hand aus. »Ihre Waffe, bitte.«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich die Wachen versteiften, als ich - sehr langsam und mit der linken Hand - unter mein Hemd griff und den Manhunter herauszog. Ich sicherte die Waffe, wobei ich sogar so weit ging, das Magazin herauszunehmen, bevor ich ihn Ortega gab. Er nahm ihn voller Abscheu, als hätte ich ihm einen toten Fisch angeboten, und gab ihn der Orkfrau hinter dem Empfangstresen, die ihn in einer Schublade verschwinden ließ. »Natürlich bekommen Sie sie beim Verlassen des Palastes zurück«, sagte Ortega. Dann drehte er sich um und ging auf die Tür zu, wobei ich der Haltung seiner schmalen Schultern die Erwartung entnahm, ihm zu folgen.

Und ich folgte ihm, durch die Tür - zweifellos durch eine umfangreiche Batterie von Metalldetektoren und Chemoschnüfflem - und in eine Art Vorzimmer mit drei Türen. Ortega drehte sich wieder zu mir um und musterte mich erneut von Kopf bis Fuß. »Ja, nun«, sagte er schließlich, »natürlich müssen Sie für eine Audienz mit dem Ali'i Jacke und Krawatte tragen.« Ich hätte fast laut aufgelacht - zuletzt hatte ich so einen Spruch gehört, als ich mich in Seattle in ein Restaurant namens La Maison d'Indochine zu schleichen versucht hatte -, unterdrückte jedoch meine Belustigung. Adjutant, Maitre d' -bei genauerem Nachdenken gibt es wohl wenig Unterschiede zwischen den beiden. Ich beobachtete den la-seräugigen kleinen Marin - überrascht, daß er nicht einmal ansatzweise polynesisch aussah -, während er einen in die üppig vertäfelten Wände eingelassenen Schrank öffnete und ein paar Kleidungsstücke herausholte. »Größe eins-null-fünf dürfte passen.« (Das schien eine Woche zu sein, in der mir andauernd Leute mit dem Augenmaß eines Herrenausstatters über den Weg liefen.) Er gab mir einen Zweireiher - dunkelblau mit konservativen smaragdgrünen Nadelstreifen - und eine weiß und marineblau gemusterte Krawatte. Und dann wartete er.

Der Kragen meines Tropenhemds war nicht für eine Krawatte gemacht, und wenn die Größe der Jacke tatsächlich eins-null-fünf war, hatte ich zugenommen. Aber ich behalf mich, so gut ich konnte, und drehte mich vor Ortega einmal wie ein Model im Kreis. »Ja«, sagte er trocken - ich nahm an, ein gewisser Sinn für Humor war in dieser Saison nicht de rigeur - und drehte mir wieder den Rücken zu.

Ich folgte ihm durch noch eine Tür und einen kurzen Flur. Wir blieben vor einer weiteren Tür stehen - diesmal aus einem dunklen, dynamisch gemaserten Holz -und warteten. Er drehte sich wieder zu mir um, betrachtete mich noch einmal von oben bis unten - sein Stirnrunzeln verriet mir, daß ihm das, was er jetzt sah, auch nicht besser gefiel - und begann mit einer Vorlesung über das Protokoll. »Der Ali'i wird Sie begrüßen«, sagte er. »Bis dahin werden Sie den Blick abwenden. Sie reden nur, wenn Sie angesprochen werden, und dann werden Sie sich auf Antworten auf die Fragen des Ali'i beschränken. Sie werden nicht...«

Mr. Protokoll wurde durch ein Klicken unterbrochen, als sich die Tür hinter ihm öffnete. Er warf mir einen finsteren Blick zu - offenbar konnte er Unterbrechungen nicht leiden drehte sich jedoch um und flüsterte dem Weißbekleideten, der die Tür geöffnet hatte, etwas zu. Nach einem leisen Wortwechsel trat Ortega beiseite und bedeutete mir einzutreten. Das tat ich, wobei ich mir gewünscht hätte, eine kleine Münze zur Hand zu haben, um sie ihm als Trinkgeld zu geben (und ihn echt sauer zu machen). Ich trat durch die Tür...

... Und in einen Thronsaal. Ich meine einen echten Thronsaal, richtig mit Thron auf einem niedrigen Podest am anderen Ende. Die Gestalt auf dem Thron zog meinen Blick wie ein Magnet an. Ein bronzehäutiger Kriegsgott - das war mein erster Eindruck. Hochgewachsen, muskulös, in der Blüte seines kraftstrotzenden, vitalen Lebens. Er trug im wesentlichen dasselbe wie die Statue Kamehamehas des Großen, die Scott mir gezeigt hatte: Lendentuch, einen Umhang aus leuchtend gelben Federn über den Schultern und einen ausladenden Kopfschmuck, der ebenfalls mit Federn bedeckt war. Seine Brust war nackt, sehr muskulös und hier und da mit Tätowierungen von geometrischer Musterung verziert. Hätte er einen Speer oder eine Keule in den großen Händen gehalten, wäre das völlig angemessen gewesen. Tatsächlich handelte es sich jedoch bei dem Gegenstand in seinen Händen um einen Taschencomputer, auf dessen Tastatur er bei meinem Eintreten eifrig herumhämmerte. Als sich die Tür klickend hinter mir schloß, sah er auf, und seine granitharten Augen schienen mich zu durchbohren.

Es war Gordon Ho - so lange, ein paar Sekunden, hatte ich gebraucht, um ihn in seiner Pracht zu erkennen. Gordon Ho, König Kamehameha V., Ali'i des Königreichs Hawai'i. Als ich ihn auf dem Telekomschirm sah, hatte ich den Eindruck eines jungen, aufstrebenden Konzern-Execs. Das Telekom hatte weder seine Größe vermittelt - knapp unter zwei Meter, also nicht ganz die Statur Kamehamehas des Großen, aber trotzdem ein großer Junge -, noch war es seiner... Aura gerecht geworden. (Ich hasse dieses Wort, aber es ist das einzige, das paßt.) Ich konnte seine Persönlichkeit, seine Willenskraft, spüren wie die Hitze eines Glutofens. Das war meine erste Begegnung mit einem König, und mir wurde klar, daß an diesem Monarchie-Drek vielleicht doch mehr war als ein Titel und - möglicherweise - inzuchtbedingte Geburtsfehler.

Er wandte den Blick von mir ab und richtete ihn wieder auf seinen Computer, und das schien mich von einem Bann zu befreien. Zum erstenmal seit meinem Eintreten war ich in der Lage, mir den Rest des Raumes ansehen.

Er war nicht groß, dieser Thronsaal, etwa von der Größe eines Sitzungssaals. Der Boden bestand aus Hartholz, die Wände waren mit demselben gemaserten Holz vertäfelt, aus dem auch die Tür bestand, durch die ich eingetreten war. An der Wand hinter dem Ali'i hing ein großes Wappen oder Siegel oder so etwas - kreisrund mit einem Ring von Worten am Rand. Ua mau ke ea a ka aina i ka pono, konnte ich entziffern... was auch immer das zu bedeuten hatte. In der Mitte des Siegels befand sich eine Art Emblem, das eine hibiskusähn-liche Blume, einen Baum, der wie ein Banyan aussah, und - ganz ehrlich - eine verdammte Gans beinhaltete. Das Siegel wurde von Vorhängen aus schwerem, kastanienbraunem Samt eingerahmt.

Links neben König Kamehameha befand sich noch ein weiterer Mann auf dem Podest - stehend. Die einzige Sitzgelegenheit in dem Raum war der Thron, der vom Ali'i ausgefüllt wurde. Es war ein älterer Mann, hager und runzlig, und er sah aus, als sei er aus nußbraunem Holz geschnitzt. Er trug ebenfalls einen Umhang - keine Federn, nur einfacher roter Stoff -, ein Lendentuch und darüber hinaus ein Stirnband mit einer Feder am Hinterkopf, die sich - einsam und verloren, wie ich fand -nach vorn neigte. Irgendein Ratgeber, dachte ich mir sofort. Wie hatte Scott diese Burschen genannt? Kahunas, das war es. Der Kahuna sah nur ein paar Jahre jünger aus als Gott persönlich, aber er hatte denselben stählernen Blick wie Gordon Ho. Kein Bursche, der mit sich spaßen ließ.

Zwei Weißgekleidete flankierten das Podest, und ein weiterer wachte über mich und Ortega, der sich mir angeschlossen hatte. Diese Burschen hielten tatsächlich Speere in den Händen, aber mir entging nicht, daß in dem Halfter an ihrem Gürtel großkalibrige Kanonen steckten.

Und darin waren da noch die drei... Besucher? Bittsteller? Wie sollte man sie nennen? Sie standen vor dem Podest, den Blick abgewandt, wie ich es zu tun vergessen hatte. Alle drei Menschen, alle Polynesier... und alle Pinkel (diesmal im Konzernsinn). Einer von ihnen drehte sich um und warf mir einen bösen Blick zu -mittlerweile hatte ich den Stinkeblick ziemlich satt -, bevor er sich wieder auf das Blickabwenden konzentrierte.

Der Ali'i sah von seinem Computer auf und musterte einen der Pinkel mit scharfem Blick. »Gibt es sonst noch etwas, das ich in dieser Angelegenheit hören sollte?«

Der Pinkel sah auf und sagte förmlich: »Nichts mehr, e Ku'u lani.«

»Gut«, sagte der König mit einem Nicken. »Dann werden Sie meine Entscheidung binnen vierundzwanzig Stunden hören.«

Einer der drei Pinkel - er sah jünger aus als die anderen - öffnete den Mund, um Einwände zu erheben, aber der Blick, den ihm der Ali'i zuwarf, ließ ihn innehalten, bevor er überhaupt angefangen hatte. Der junge Pinkel trat mißmutig von einem Fuß auf den anderen, dann machte er sich ebenfalls wieder ans Blickabwenden.

Der Ali'i warf einen Blick in meine Richtung, und ich glaubte, ein schwaches Lächeln zu erkennen. »Mr.

Montgomery«, sagte er. Das war keine Frage, also schwieg ich. Sein Blick wanderte zu Ortega neben mir. »Bitte führen Sie Mr. Montgomery in mein Privatbüro.«

Ortega versteifte sich. »E Ku'u lani, ist das schicklich?«

Oha, Fehler. Der königliche Stinkeblick unterscheidet sich ganz erheblich von der Allerweltsart, und ich war froh, daß diese Kostprobe jemand anderem galt. Überraschenderweise war es der hagere Kahuna, der sagte: »Es ist Sache des Ali'i, zu entscheiden, was schicklich ist und was nicht.« Der Verweis wurde mit leiser Stimme erteilt, die kaum mehr als ein Flüstern war, aber Ortega zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb.

Der Adjutant/Maitre d' nickte und schien seinen vorstehenden Adamsapfel verschlucken zu wollen. Er tippte mir auf den Arm, und ich folgte ihm wieder zur Tür hinaus.

Während er mich durch die Eingeweide des Palastes führte, sagte er kein Wort, was mir nur recht war. Schließlich blieb er vor einer weiteren Tür aus üppig gemasertem Holz stehen, nickte dem unerläßlichen Weißgekleideten zu, der die Tür bewachte, und öffnete sie. Wortlos bedeutete er mir einzutreten, und diesmal folgte er mir nicht. Ich wartete, bis sich die Tür hinter mir geschlossen hatte, bevor ich mir den Raum genauer ansah.

Ein Konzernbüro, eingerichtet mit allem, was gut und teuer war - das war mein erster Eindruck. Überall Tech -nicht aufdringlich oder überladen, aber immer zur Hand. Alles und jedes, um einem schwer beschäftigten Exec das Leben leichter oder bequemer zu machen. Eine riesige Holo-Einheit an einer Wand, eine dieser HiTech-Anlagen, die automatisch eine Vielzahl von Taschencomputern per Infrarot-Verbindung zusammenschaltet und ein Dutzend Leute Zeichnungen und Anmerkungen eingeben läßt. Eine Telekom/Kommunikationsanlage, für die man schon einen Elektroingenieur brauchte, um sie nur einzuschalten. Ein elektrostatischer Drucker, der kaum größer war als die Blätter, auf denen er druckte.

Und - Gott sei Dank für wenigstens eine Sache, mit der ich mich auskannte - eine schicke kleine Kaffee/Espresso-Maschine auf einer Anrichte.

Ich hatte wohl damit gerechnet, daß die Einrichtung des königlichen Privatbüros der des Thronsaals ähneln würde: dunkles, poliertes Holz, schwere Vorhänge, diese Art Drek. Netter Versuch, aber daneben. Der Raum war luftig und heiter, in blassen Pastellfarben gehalten, die den Raum größer machten, als er eigentlich war. Schreibtisch und Anrichte bestanden aus Makro-plast in einem kontrastierenden Pastellton. Die Stühle -es gab vier davon, einen hinter dem Schreibtisch und drei davor - waren nicht die antiken Ungetüme, die ich erwartet hatte, sondern die neusten selbstregulierenden Modelle.

Hinter dem Schreibtisch war ein großes Fenster, das einen Blick auf die Berge im Norden der Stadt gewährte. Es sah aus, als sei ein Gewitter im Anzug, da sich über den zerklüfteten Gipfeln schwarze Wolken zusammenballten. Ich schüttelte den Kopf und war versucht, zum Fenster zu gehen und das Material zu berühren. Es waren keine Farbveränderungen zu sehen, die ich immer mit extra verstärkten antiballistischen Legierungen in Verbindung brachte. Wenn dieses Fenster aus normalem Transpex bestand, konnte jeder dahergelaufene Penner mit einem Gewehr den verdammten Ali'i umlegen, indem er ihm eine Kugel durch den adeligen Kopf jagte. Hey, Augenblick mal... Was stimmte nicht an diesem Bild?

Einiges. Erstens... dieser Raum konnte kein Außenbüro sein. Wenn ich nicht völlig die Orientierung verloren hatte - möglich, aber nicht wahrscheinlich befand sich dieses Zimmer mitten im ersten Stock des Iolani-Pa-lasts.

Zweitens: der Blick auf die Berge, der sich mir darbot, war vom Palast aus einfach unmöglich. Klar, man konnte die Berge sehen... aber nur zwischen Konzern-

Wolkenkratzern, von denen im ›Fenster‹ keiner zu sehen war. Eine raffinierte Holo-Anzeige, das mußte es sein -wie das ›Fenster‹ in Adrian Skyhills Büro in Fort Lewis, wie mir plötzlich einfiel. Das Gefühl des Déjà vu ließ mich erschauern. Ich setzte mich auf einen der Besucherstühle und versuchte mich zu entspannen, während ich wartete.

Ich brauchte nicht lange zu warten - sehr angenehm, da ich mich ohnehin nicht entspannen konnte. Die Tür hinter mir öffnete sich, und ich sprang instinktiv auf.

Gordon Ho, König Kamehameha V., hatte sich wiederum verändert. Es lag nicht nur an seiner Kleidung, obwohl er anstelle seiner Amtstracht schrecklich teure Freizeitkleidung trug. Nein, seine ganze Art - seine Aura, um dieses alberne Wort zu benutzen - war wie verwandelt, als hätte er mit dem Ablegen der äußeren Zeichen seiner Königswürde auch die Kraft der Persönlichkeit abgelegt, die ich im Thronsaal gespürt hatte. War diese Kraft auf einen magischen Einfluß zurückzuführen, der vielleicht in den Kopfschmuck eingearbeitet war?

Nein, korrigierte ich meine Einschätzung gleich darauf. Die Kraft war immer noch da. Sie glitzerte in seinen Augen. Es war nur so, daß Gordon Ho wie jeder gute Exec zwischen Zeremonie und Geschäft unterschied.

»E Ku'u lani«, begann ich.

Ho bedeutete mir, mich zu setzen. »Ich sagte Ihnen bereits am Telekom, es sind die Kahunas, die auf die alten Formen fixiert sind, nicht ich.« Er setzte sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch und lehnte sich behaglich zurück. Dann betrachtete er mich fast eine Minute lang. Sein forschender Blick war nicht feindselig -mehr neugierig als alles andere, dachte ich -, aber dadurch fühlte ich mich nicht besser. Ich rutschte nervös auf meinem Stuhl hinunter und spürte, wie mir ein dünnes Schweißrinnsal die Rippen herunterlief. Ich versuchte seinem Blick standzuhalten, aber es dauerte nicht lange, bis ich den Blick abwenden mußte. Ich richtete ihn auf alles mögliche - das ›Bildfenster‹ hinter ihm, den Schreibtisch, die Holoeinheit -, nur nicht auf diese Granitaugen.

Schließlich rührte sich der Ali'i, und ich spürte, wie die Intensität seines Blickes nachließ. »Mr. Montgo-mery«, sagte er zögernd, beinahe nachdenklich. »Derek Montgomery.« Er lächelte. »Ich weiß ein wenig über Sie, Mr. Montgomery. Geboren am 22. Juli 2019 in Seattle, Washington - damals war es noch der amerikanische Bundesstaat Washington, nicht wahr? Eine jüngere Schwester. Beide Elternteile getötet.« Sein Tonfall war so, als lese er etwas vor, wenngleich er den Blick immer noch auf mein Gesicht gerichtet hatte. Erst als ich ein schwaches künstliches Glitzern auf seiner Hornhaut bemerkte, wurde mir klar, daß ihm irgendeine Einheit im Schreibtisch meine persönlichen Daten direkt vor die Augen projizierte. »Besuchte die Universität von Washington«, fuhr er fort, »machte jedoch keinen Abschluß. Wählte eine Laufbahn bei Lone Star Security Services.« Er bedachte mich mit einem trockenen Grinsen. »Eine verkürzte Laufbahn«, fügte er ironisch hinzu, »die damit endete, daß Sie den Konzern unter wenig freundlichen Umständen verließen.

Seitdem« - er zuckte die Achseln - »eigentlich ziemlich wenig. Gelegentliche Hinweise, daß Sie Ihre Dienste verschiedenen Individuen und sogar einigen Konzernen zur Verfügung gestellt haben. Aber kaum konkrete Daten.

Bis zu Ihrem Tod im Jahre 2052, bestätigt durch Genabdruck und Gebiß vergleich.« Eine buschige Augenbraue hob sich fragend. »Interessant, Mr. Montgomery. Ich habe mich noch nie mit einem Toten unterhalten.«

Ich zuckte die Achseln... und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie schockiert ich über die Leichtigkeit war, mit der er Hintergrundinformationen über mich ausgegraben hatte. Geburtsdatum, Geburtsort, Familiendetails, beruflicher Werdegang... all das hätte aus den öffentlichen Datenbanken herausfallen müssen, als ich nach meinem Bruch mit Lone Star meine SIN gelöscht hatte. Ich hatte immer gedacht, ›gelöscht‹ bedeute genau das - man existiert nicht mehr, es gibt keine Verbindung mehr zwischen dem, der man einmal war, und dem, der man ist, und keinen problemlosen Weg, diesen Drek danach noch aufzuspüren. Leben heißt lernen, nehme ich an.

Der Ali'i beugte sich vor. »Sagen Sie, Mr. Montgomery, was will ein Toter auf Hawai'i?«

Ich zögerte. Drek, Barnards Anweisungen waren zu ungenau gewesen. Ja, ich sollte König Kam eine bestimmte Nachricht überbringen, aber was sollte ich ihm sonst noch sagen oder auch nicht sagen? »Er versucht etwas gegen die Friedhofsblässe zu tun«, antwortete ich und versuchte Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

Daraufhin kicherte er leise. »Nun, vielleicht kommen wir darauf später noch zurück.« Er hielt inne, dann veränderte sich seine Stimme - Zeit fürs Geschäft. »Sie ließen durchblicken, Sie hätten eine Nachricht für mich. Von wem, Mr. Montgomery?«

»Von Jacques Barnard«, sagte ich. »Dem geschäfts-führenden Leiter oder so bei Yamatetsu.«

»Ich kenne Jacques Barnard«, bestätigte er, »und zwar als einen untadeligen Mann. Ich nehme an, Sie haben erst kürzlich mit ihm geredet. Gefällt ihm Chiba?«

»Kyoto«, korrigierte ich.

»Natürlich, Kyoto. Ich frage mich... hatten Sie je Gelegenheit, sein Anwesen in Beaux Arts zu sehen?«

»Ich habe seinen Übungsraum gesehen... aber der war in Madison Park.«

»Richtig. Und wie geht es seiner reizenden Frau -Marie, war das nicht ihr Name?«

Ich seufzte. »Ich habe seine Frau nie kennengelernt und kenne auch ihren Namen nicht«, sagte ich ein wenig matt. »Zwei Fragen von dreien beantwortet. Heißt das, ich habe den Hauptgewinn verpaßt?«

Der Ali'i stutzte, und sein Blick schien mich auf dem Stuhl festzunageln. »Machen Sie immer so viele Witze, Mr. Montgomery?« fragte er gelassen.

Ich blinzelte und sagte ihm - zu meiner Überraschung -die Wahrheit. »Nur, wenn ich eine Scheißangst habe.«

Darüber lächelte er. »Ich glaube, ich verstehe.« Wiederum eine Pause. »Also gut, Mr. Montgomery. Ich glaube an Ihre lauteren Absichten.«

Sehr rücksichtsvoll von dir, du verdammter Hurensohn, sagte ich nicht zu ihm. Ich nickte nur.

»Wie lautet also Jacques' Nachricht?«

Mir fiel kein eleganter Weg ein, um den heißen Brei herumzureden, also gab ich die Botschaft ganz direkt weiter. »Ich soll Ihnen versichern, daß er mit dem Anschlag auf Ekei Tokudaiji nichts zu tun hat.«

Daraufhin schössen Gordon Hos Augenbrauen in die Höhe. »Tatsächlich?«

»Honto«, bestätigte ich. »Tatsächlich.«

»Was glaubt Mr. Barnard dann, wer dafür verantwortlich ist?«

»ALOHA«, stellte ich fest. »Wer sonst?«

Der Ali'i lächelte wiederum. »Eine ganze Reihe von Leuten, würde ich meinen. Schließlich war Tokudaiji-san ein Oyabun der Yakuza. Aber ich glaube auch, daß Sie mit ALOHA recht haben.« Sein harter Blick wurde weicher. »Vielen Dank, Mr. Montgomery«, sagte er. »Betrachten Sie Ihre Nachricht als überbracht. Ich habe nie wirklich geglaubt, daß Yamatetsu hinter dieser Geschichte steht, aber es ist gut, eine weitere Bestätigung zu bekommen.

Ich wäre sehr daran interessiert, Einsichten zu hören, die Jacques in bezug auf die Entwicklung hat«, fuhr er fort, jetzt allerdings eher im Konversationston. »Einige meiner Quellen melden bereits zunehmende öffentliche Unterstützung für ALOHA auf der Straße. Und im Parlament übt die Oppositionspartei zunehmenden Druck aus. Ich würde gerne mit Jacques persönlich reden, aber...« Er zuckte die Achseln. Dann veränderte sich sein Lächeln, und sein Blick bohrte sich wieder in mich. »Vielleicht können Sie mir dabei helfen, Mr. Montgomery«, sagte er mit täuschender Beiläufigkeit.

Ach, Drek, nicht schon wieder...

Meine Gedanken mußten sich auf meinem Gesicht gespiegelt haben, weil Gordon Ho kicherte. »Sie sehen aus, als sei es schon wieder einer dieser Tage.«

»Eines dieser Jahrzehnte«, korrigierte ich.

»Das ist wohl nicht gerade Ihre bevorzugte Art, Ihren Aufenthalt hier auf den Inseln zu verbringen, indem Sie Botschaften überbringen, nicht wahr?« Er zögerte, und plötzlich stand echte Neugier in seinen Augen. »Wie sind Sie eigentlich in diese Sache hineingeraten, Mr. Montgomery?«

»Reines Glück, würde ich sagen.« Ich seufzte. Was sollte es - wenn irgend etwas an meiner Beteiligung ein Geheimnis war, war es nicht mein Geheimnis, und außerdem war ich der Ansicht, daß ich Barnard nichts mehr schuldig war.

Also erzählte ich ihm die Geschichte - die gekürzte Version, die in Cheyenne begann, nicht die komplette Saga, die beinhaltete, wie ich Barnard ursprünglich kennengelernt hatte. Wahrscheinlich sollte ich das nicht tun, dachte ich, während ich vor mich hin plapperte, aber, Drek, es gibt Zeiten, wenn man einfach mit jemandem reden muß, wer es auch ist. Ich sah nicht, welchen praktischen Schaden das anrichten konnte. Mein Leben lag ohnehin in König Kams Hand, und ich konnte mir keine Möglichkeiten vorstellen - nun, jedenfalls nicht viele -, wie er die Dinge für mich schlimmer machen konnte, als sie ohnehin schon standen. Außerdem schien sich Gordon Ho jetzt, wo er diesen gefiederten Drek nicht mehr trug, gar nicht mehr so sehr von mir zu unterscheiden, und ich fühlte mich irgendwie veranlaßt, ihn zu mögen.

(Was mir, um die Wahrheit zu sagen, eine höllische Angst einjagte. Irgendwie hatte ich mich auch veranlaßt gefühlt, Barnard zu mögen, nicht wahr? Und wohin hatte mich das gebracht...?)

Als ich geendet hatte, nickte der junge Ali'i zögernd. »Die direkte Beteiligung Ryumyos ist einigermaßen beunruhigend«, sagte er. (Einigermaßen beunruhigend? Die Untertreibung des Jahrhunderts, e Ku'u lani...) »Natürlich immer vorausgesetzt, es war Ryumyo, mit dem Sie geredet haben.«

»Ein Drache sieht irgendwie aus wie der andere«, räumte ich trocken ein.

»Genau.« Ho hielt kurz inne. »Aber vielleicht war es auch überhaupt kein Drache. Ja, ich weiß, er hat wie einer ausgesehen, aber viele Kahunas und hermetische Magier könnten eine Illusion erzeugen, die nur ein anderer Zauberkundiger durchschauen könnte.«

Ich mußte blinzeln. Dieser Gedanke war mir bisher noch gar nicht gekommen.

»Aber ob Ryumyo tatsächlich persönlich beteiligt ist oder nicht, ich glaube, die ALOHA-Verbindung ist ziemlich gewiß«, schloß der Ali'i. Er betrachtete mich nachdenklich. Dann öffnete er eine seiner Schreibtischschubladen, nahm einen kleinen Gegenstand heraus und hielt ihn mir hin. »Nehmen Sie das, Mr. Montgo-mery.«

Ich nahm den Gegenstand und betrachtete ihn. Es war eine Anstecknadel, der Größe nach zu urteilen fast eine Brosche. Kunstvoll gestaltet, so daß sie dem Wappen ähnelte, das ich hinter dem Thron des Ali'i gesehen hatte, lag sie schwer in meiner Hand. »Gold?«

Hos dunkle Augen funkelten. »Nur vergoldet. Tut mir leid.« Er deutete auf die Anstecknadel. »Damit stehen Sie offiziell unter dem Schutz des Ali´i, Mr. Montgomery. Soweit Mitglieder des Regierungsdienstes betroffen sind, weisen Sie sich damit als Träger meiner Autorität aus - zumindest eines Teils davon.«

Ich schnaubte. »Sie meinen, Sie haben mich gerade zu einer Art Cop gemacht?«

»So könnte man es sehen«, bestätigte der Ali'i mit einem Lächeln. »Wenn Sie dieses Abzeichen vorzeigen, können Sie von allen Dienern der Krone - Regierungsstellen, sogar von Na Maka'i, der Polizei - Kooperation erwarten. Nicht jedoch vom Militär.« Er zuckte die Achseln. »Es könnte sogar sein, daß es sich Tokudaiji-sans Sicherheitspersonal zweimal überlegt, bevor es sie niederschießt, wenn es das sieht«, fügte er nachdenklich hinzu. »Schließlich war Tokudaiji-san« auf seine Weise auch ein Diener der Krone, und seine Hilfe ist nicht unerwidert geblieben.«

Ich warf einen skeptischen Blick auf das Abzeichen in meiner Hand. Vielleicht hatte der Ali'i recht, vielleicht würden Tokudaijis Samurai... ich weiß nicht, patriotische Loyalität gegenüber der Krone oder ähnlichen Drek... empfinden und beschließen, mich nicht umzulegen, wenn sie dieses Ding sahen. Vielleicht auch nicht. Ich würde mich gewiß nicht darauf verlassen. Ich hatte schon einmal in einer früheren Phase meiner Karriere den Fehler begangen zu glauben, ein Abzeichen könnte mich beschützen, und ich hatte nicht lange gebraucht, um herauszufinden, wie sehr ich mich getäuscht hatte. Dennoch konnte es nicht schaden. Ich nickte dankend und befestigte das Abzeichen an meiner Hemdtasche.

Hos Blick wich nicht von meinem Gesicht. »Ich würde Ihnen keine Situation aufzwingen, die Sie unangenehm fänden...«

Ich beendete den Gedanken für ihn. »...Aber es wäre Ihnen ganz recht, wenn ich Barnard mitteilte, daß Sie auf Ideen warten.« Ich seufzte wiederum. »Also schön, ich werde mal sehen, was ich tun kann... wenn ich mich dafür nicht zu weit vorwagen muß.« Drek, schon wieder Botenjunge. Warum, ach, warum nur begreifen die Leute nie, daß es keine gute Idee ist, die Überbringer von Nachrichten umzubringen?

»Das weiß ich zu schätzen, Mr. Montgomery. Also...« Ho hielt inne, als es an der Tür klopfte. »Hele mai.«

Die Tür öffnete sich, und ein Funktionär - nicht Ortega, wenngleich er sein graugesichtiger polynesischer Halbbruder hätte sein können - betrat den Raum. »Kala mai ia'u, e Ku'u lani«, begann er, dann bemerkte er mich und unterbrach sich auf der Stelle. Er sah den Ali'i mit einer ›Was, zum Henker, soll ich jetzt machen?‹-Miene an.

Gordon Ho kicherte. »Dieser Mann genießt mein Vertrauen«, sagte er gelassen. »Sie haben einen Bericht für mich?«

»'Ae, e Ku'u lani«, sagte der ältere Mann nickend. »I luna o ka Puowaina.«

»Auf Englisch, bitte«, sagte der Ali'i scharf.

Der Funktionär sah beinahe so schockiert aus wie Ortega im Thronsaal. Nur um mich zu vergewissern, daß er verstand, schlug ich das Revers der Jacke zurück, die Ortega mir geliehen hatte, so daß er mein Hilfssheriffs-Abzeichen klar und deutlich sehen konnte.

Er sah es auch, und ich konnte ihm ansehen, wie wenig er von der ganzen Sache hielt. Aber wenigstens gelang es ihm, sich zu beherrschen. »Ae, e Ku'u lani.« Ja, o mein Königlicher, natürlich.

»Die« - er warf mir einen Seitenblick zu, und ich konnte förmlich sehen, wie er das, was er gerade hatte sagen wollen, im Geiste abänderte - »die Vorgänge auf dem Puowaina scheinen zu eskalieren, e Ku'u lani. Die jüngsten Ereignisse sind ziemlich beunruhigend - so hat es der Chef der Na Maka'i formuliert, ›ziemlich beunruhigende Der... Grad der Aktivität ist gestiegen.«

»Aber daraus kann nichts erwachsen, richtig?« fragte Ho.

Der Funktionär schien sich plötzlich echt unbehaglich zu fühlen... und das nicht nur wegen meiner Anwesenheit. »Die Kahunas glauben es nicht, e Ku'u lani.«

»Sie glauben es nicht?« Ho klang überrascht.

»Das haben sie mir gesagt, e Ku'u lani.«

»Interessant. Natürlich setzt die Na Maka'i die Untersuchungen fort?«

»Ja, e Ku'u lani, sie hat das ganze Gebiet abgesperrt.«

»Gut.« Der Ali'i nickte beifällig. »Haben Sie sonst noch etwas zu berichten?«

»Im Moment nicht, e Ku'u lani.«

»Dann bedanke ich mich.« Ho entließ ihn mit einem Nicken.

Sobald der Funktionär die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sich der Ali'i zurück und schüttelte den Kopf.

»Worum geht es?« fragte ich.

Ho seufzte. »Um den Puowaina«, sagte er. Dann wartete er.

»Die Punschschüssel«, sagte ich nach einer kleinen Pause.

»Genau«, bestätigte er. Er drehte sich auf seinem Stuhl und zeigte auf einen Gipfel der Holo-›Berge‹ hinter sich. »Dort. Der Puowaina liegt genau im Norden der Stadt. Sein Name bedeutet ›Berg der Opfer‹ und bezieht sich auf die alten Religionen. Es scheint, als nehme jemand diesen Namen ein wenig ernster als wünschenswert.«

»Opfer?« fragte ich.

Der Ali'i nickte. »Bedauerlicherweise sind solche Dinge nicht ganz unbekannt«, räumte er ein. »Auf Hawai'i gibt es ebenso Randkulte wie in den UCAS. In den ersten acht Jahren nach meiner Thronbesteigung gab es ein halbes Dutzend... Zwischenfälle dieser Art. Tieropfer - hauptsächlich Hunde und Schweine, die Opfertiere, die in den alten Religionen gewöhnlich geopfert wurden. Normalerweise wären die Opfer eben genau das und nicht mehr: ein unglückliches Tier, dem die Kehle durchschnitten und das dann verbrannt wird. Ein- oder zweimal gab es Hinweise darauf, daß jemand magische Aktivitäten mit diesen Opfern zu verbinden suchte - unvollständige hermetische Kreise und ähnliche Dinge.« Er zuckte die Achseln. »Meine Kahunas haben mir versichert, daß die Leute, die diese Rituale vollzogen haben, völlig auf dem Holzweg waren. Das magische Drum und Dran hätte nie funktioniert.

Aber die Dinge ändern sich«, fuhr er mit leiser Stimme fort. »Haben Sie sich schon mal überlegt, daß Randreligionen - Kulte, könnte man sagen - immer dann um sich greifen, wenn ein Volk Sorgen hat? Es stimmt«, bestätigte er mit einem Nicken. »Überlegen Sie es sich selbst. Das UFO-Fieber vor einem Jahrhundert auf der Höhe des Kalten Krieges. Das Wuchern sogenannter Medien und Löffelverbieger in Rußland nach dem Zusammenbruch der UdSSR. Die ›Kirche Christi des Genetikers‹ in den Wirren der Zeit der VITAS-Epi-demie. Die Faszination für Reinkarnation in den Zehnern...«

Ich nickte ob des letzten Beispiels. Ich erinnerte mich, einmal gelesen zu haben, daß zwei - in Worten, zwei -Betrüger eine Karriere auf der Behauptung aufgebaut hatten, die Reinkarnation von Proto-Angst-Rocker Kurt Cobain zu sein.

»Die Bruderschaft des Ewigen Jetzt«, fuhr der Ali'i fort, »in den Jahren vor dem Vertrag von Denver. Die Universelle Bruderschaft - diese Perversion -, als sich in den UCAS der ›Zukunftsschock‹ so richtig bemerkbar machte. Und hier? Hier opfern die Leute auf der Punschschüssel Hunde und Schweine und Ziegen.« Er lächelte trocken. »Ich nehme an, das läßt sich als Kritik an meiner Herrschaft auffassen.«

»Dann greift es um sich?« fragte ich.

»Genau. Sechs oder sieben Opfer in den ersten acht Jahren meiner Regierung. Dann, in den letzten beiden Jahren... wollen Sie raten?« Ich schüttelte den Kopf. »Siebzehn Vorfälle. Nein«, korrigierte er sich rasch, »mittlerweile achtzehn.« Er seufzte. »Verrückte.«

Aus irgendeinem Grund war ich mir dessen plötzlich nicht so sicher. »Ihr Polizeichef scheint die Angelegenheit ernster zu nehmen«, stellte ich fest.

»Es ist sein Beruf, alles ernster zu nehmen... und sei es auch nur, weil die Leute, die diese Opfer durchführen, vielleicht eines Tages zu dem Schluß kommen könnten, daß sie über Schweine und Hunde hinaus sind.«

Ich wartete, doch der Ali´i fuhr nicht fort. Tja, wenn ein König beschließt, einem nicht alle seine Gedanken mitzuteilen, was, zum Teufel, kann man dann tun? Nach einer Weile lächelte Ho. »Vielen Dank für Ihre Mitarbeit, Mr. Montgomery«, sagte er warmherzig. »Ich habe unsere Unterhaltung sehr genossen. Bitte unternehmen Sie alles in Ihrer Macht Stehende, um sich mit Mr. Barnard in Verbindung zu setzen. Und halten Sie mich über alles, was Sie erfahren, auf dem laufenden. Einverstanden?«

»Wie nehme ich Kontakt auf?«

»Hier.« Er gab mir eine Visitenkarte - kein Name, keine Adresse, nur eine LTG-Nummer. »Dieser Knoten leitet Sie auf meine Privatleitung um, und zwar unabhängig davon, wo ich mich gerade aufhalte. Sollte ich aus irgendeinem Grunde unabkömmlich sein, wird sich niemand melden.« Er zögerte. »Aber berücksichtigen Sie bitte, daß ich mich nicht für die absolute Sicherheit der Verbindung verbürgen kann.« Er grinste trocken. »Die Kommunikationsanalyseteams meines Geheimdienstes waren in letzter Zeit ziemlich eifrig.«

»Einverstanden«, sagte ich.

König Kamehameha V. drückte einen verborgenen Knopf an seinem Schreibtisch, und Sekunden später kam ein Funktionär, um mich hinauszubegleiten. Ich tauschte Jacke und Krawatte bei Ortega gegen meinen Manhunter ein, und dann verließ ich den Iolani-Palast. Das Abzeichen des Ali'i war ein beruhigendes Gewicht an meiner Hemdtasche. Ich war der Ansicht, daß es vielleicht zuviel Aufmerksamkeit erregte, wenn ich es offen trug, aber ich wollte es auf jeden Fall bei der Hand haben.

Was, zum Teufel, sollte ich jetzt tun? Mit Barnard Kontakt aufnehmen - das wollte Ho... aber zumindest im Augenblick war mir eher danach, mich in sicherer Entfernung von Yamatetsu und allen anderen Megakon-zernen aufzuhalten.

Wie durch Zauberei wurden meine Augen von den Bergen angezogen, die den Honolulu-Sprawl überragten. Dort war die Punschschüssel - der Puowaina. Ach, was soll's, ich hatte im Augenblick ohnehin nichts Richtiges zu tun, oder?

Ich kehrte dem Palast den Rücken und hielt nach einer Bushaltestelle Ausschau.