26
Ich war bereits in vollem Galopp den Geröllhang hinunter, als ich einen Schrei hinter mir hörte. Ich blieb stehen und wirbelte herum.
Pohaku hatte Akaku'akanene in einer Art Schwitzkasten. Ihr sehniger Hals steckte in der Beuge seines linken Arms. In der rechten Hand hielt er eine kleine Pistole, eine Holdout, deren Lauf er der Neneschamanin an die Schläfe hielt.
»Bleib, wo du bist, Haole«, fauchte der Leibwächter.
Ich erstarrte. Alana Kono hatte ihre Kanone gezogen, und der rubinrote Punkt ihres Laserzielrohrs lag reglos auf der Stirn ihres ehemaligen Partners.
»Nicht!« schnauzte Pohaku die Frau an. Er warf einen vielsagenden Blick auf seine Holdout-Pistole. »Der Abzug funktioniert in beide Richtungen, okay? Ich drücke ab, sie schießt. Ich lasse los, sie schießt. Begriffen?«
Ach, Drek, ich hatte von Kanonen mit derartigen Vorrichtungen gelesen. Damals hatte ich nicht verstanden, warum jemand scharf auf so etwas sein sollte. Die einzige Anwendungsmöglichkeit, die ich mir vorstellen konnte, war... tja, eine Situation wie diese. Ein Patt, bei dem man damit drohen konnte zu schießen, wie sich die Situation auch entwickelte. Bei dem man unabhängig von den reflexhaften Handlungen, die der Körper noch ausführt, nachdem er von Kugeln durchlöchert wird, weiß, daß die eigene Kanone noch einen Schuß abgibt. Toll.
Ich sah Akaku'akanene aus einer Entfernung von vielleicht zehn Metern ins Gesicht. Ihre dunklen Knopfaugen schauten gelassen drein, gefaßt. Sie mußte wissen, welche Gedanken mir durch den Kopf gingen.
Schade, altes Mädchen, du hast eine Menge Mumm. Aber hier steht mehr auf dem Spiel als das Leben einer Frau. Nene sei deiner Seele gnädig... Ich veränderte den Griff um mein Sturmgewehr. Ein rascher Feuerstoß in Pohakus Kopf und darauf vertrauen, daß die Aufprallwucht der Kugeln seine Waffenhand wegschlagen würde, bevor die Pistole das Hirn der Kahuna verspritzen konnte...
»Denk nicht mal daran, Montgomery!« knurrte Po-haku. »Schau doch!«
Ich schaute.
Und fing wieder an zu schwitzen. Die meisten Hütergeister schwirrten immer noch an der Stelle herum, wo Quinn verschwunden war. Aber zwei von ihnen -große, widerliche, feurige - hatten ihre Aufmerksamkeit wieder auf uns gerichtet und umkreisten uns langsam in einer Entfernung von fünfzehn Metern von Akaku'aka-nene. Drek!
»Tu's nicht, Montgomery«, wiederholte Pohaku, indem er den Gedanken Ausdruck verlieh, die mir durch den Kopf gingen. »Wenn du mich erschießt, geeke ich sie, und dann zerreißen euch diese Dinger in der Luft. Wenn du versuchst, nach unten zu gehen, zerreißen sie dich in der Luft. Du hast gesehen, was sie mit den Soldaten angestellt haben.«
Ich hatte es gesehen, ja. Ich knirschte mit den Zähnen und senkte meine Waffe.
»Legt sie auf den Boden«, befahl Pohaku. »Ihr beide, Waffen auf den Boden.«
Kono und ich wechselten hilflose Blicke. Keine von uns wußte, was wir tun sollten. Langsam gingen wir in die Hocke, um unsere Waffen auf das schroffe vulkanische Gestein zu legen. »Und was jetzt?« fragte ich.
Pohaku grinste, wahrscheinlich das erstemal, daß sich auf seiner Miene eine andere Regung als Wut, Haß oder Spott abzeichnete. »Jetzt warten wir und sehen zu. Es dürfte ein interessantes Schauspiel werden.«
Ohne Drek. Ich sah bergab auf das wabernde, wirbelnde Licht. Die Intensität des Tanzes schien zugenommen zu haben. Der Fächer aus Hexenlicht leuchtete heller, und die Wellenfronten, die ihn durchliefen, schienen ausgeprägter zu sein. Elektrische Entladungen leckten über die tiefhängenden Wolken und warfen strobosko-pische Blitze auf die Szenerie. In diesem Licht schienen sich einige der Felsen auf dem Geröllhang zu bewegen, langsam, wie vorsichtige Tiere. Natürlich war das nur meine fiebrige Einbildung.
Es mußte eine Möglichkeit geben, dieses Patt zu knacken. Ich brauchte nur Zeit, um nachzudenken. »Du gehörst zur Na Kama'aina, nicht wahr?« sagte ich, indem ich mich wieder zu Pohaku umdrehte. Eigentlich war mir weniger an einer Antwort gelegen, sondern mehr daran, ihn am reden zu halten.
Er schnaubte verächtlich. »Na Kama'aina? Feiglinge mit dem Herzen einer Taube, alle durch die Bank.«
»Dann zu ALOHA«, stellte ich fest.
»Natürlich. Genau wie Ka-wena-'ula-a-Hi'iaka-i-ka-poli-o-Pele-ka-wahine-'ai-ho-nua.«
Einen Moment glaubte ich, er hätte aus irgendeinem Grund den Verstand verloren und gerade angefangen, vor sich hin zu brabbeln. Aber dann sprachen einige der flüssig ausgesprochenen Silben eine Erinnerung in mir an. Das war doch Scotts Name gewesen, oder? Der Name, den Scott, der Chauffeur/Attentäter, von seiner Mutter bekommen hatte. (Von wegen, dachte ich plötzlich. Er hatte den Namen selbst angenommen, genauso wie Marky ›Te Purewa‹ Harrop, oder?)
»Also ALOHA«, wiederholte ich zustimmend. Ich hielt inne, während sich meine Gedanken überschlugen. »Dann gehe ich davon aus, daß ihr Na Kama'aina endlich überzeugt habt, sich eurem Anti-Konzern-Plan anzuschließen, richtig?« sagte ich schließlich, während ich einen vielsagenden Blick nach unten auf die Tänzer warf.
Pohaku lachte rauh. »Und sie haben verdammt lange dazu gebraucht, Haole. Aber jetzt geht es echt rund.«
Ich nickte zögernd. »Du weißt, daß ich verzweifelt nach einem Ausweg suche«, sagte ich nach einer kleinen Pause. »Warum hast du nicht längst ein Ende gemacht und mich umgelegt?«
Er schnaubte. »In dem Augenblick, indem ich meine Kanone von ihrer Schläfe nehme, legt sie mich um.« Er deutete mit dem Kopf auf Kono.
Und umgekehrt, dachte ich grimmig. Die einzige Person mit zumindest etwas Handlungsfreiheit war Aka-ku'akanene selbst. Warum unternahm die Schamanin dann aber nichts? Konnte sie nicht irgendeinen Zauber wirken, ihm die Kanone aus der Hand schlagen und den Wichser erstarren lassen?
Nein, wurde mir klar. Er mußte eine Art magischen Schutz haben, irgendeine Barriere zur Abwehr von Zaubern oder irgendwas - wahrscheinlich per Zauber mit ihm verbunden, so daß sie Teil seiner Aura war. Also war Akaku'akanene ebenso zur Tatenlosigkeit verurteilt wie wir.
Hangabwärts konnte ich die Wellen der Magie spüren, die der Tanz erzeugte. Mein Magen verkrampfte sich und drehte sich um. Meine Eingeweide fühlten sich an, als seien sie voller Eiswasser. Zum Teufel damit, ich mußte irgend etwas unternehmen. Ich mußte etwas riskieren. Wenn ich Pohaku umlegte - und Akaku'akanene dabei nicht gegeekt wurde -, konnte mich die Schamanin vor den Hütergeistern abschirmen, während ich zu den Tänzern rannte... Ich holte tief und energisch Luft und behielt mein Sturmgewehr im Augenwinkel. Ich würde nicht viel Zeit haben, um es richtig zu machen. Ich spannte mich...
Und da flog sie in mein Blickfeld. Eine nene - eine verdammte Gans. Schreiend und mit den Flügeln flatternd, rauschte sie von rechts heran und scheinbar direkt auf Akaku'akanenes Kopf zu.
Pohaku reagierte instinktiv, indem er den Ellbogen hochriß, um sein Gesicht zu schützen. Den rechten Ellbogen, den Ellbogen seiner Waffenhand. Die Holdout-Pi-stole war nicht mehr auf die Schläfe der Schamanin gerichtet.
Der Zeitablauf schien auf Zeitlupe umzuschalten. Während ich nach meinem Sturmgewehr tauchte, sah ich die Gans heranrauschen. Pohakus Reaktion erfolgte einen Augenblick zu spät, und die Krallen des großen Vogels zerkratzten sein Gesicht. Er schrie vor Schmerz und Schreck auf und wich vor der Gefahr für seine Augen zurück.
Und dann schien alles gleichzeitig zu passieren. Kaum war der Lauf der Holdout-Pistole nicht mehr auf Akaku'akanenes Kopf gerichtet, als die Schamanin mit dem Ellbogen zustieß. Der harte Knochen versank tief in der Kehle des Leibwächters, stieß ihn zurück und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Fast gleichzeitig knallte ein Schuß, als Kono - die offenbar dieselbe Idee wie ich gehabt hatte - Pohaku eine Kugel durch den Kopf jagte. Und dann hatte ich das Ares-Sturmgewehr gepackt, und der Lauf kam hoch, während der Laserzielpunkt auf Pohakus stolperndem Körper tanzte. Ich zog durch, und das Gewehr knatterte nicht im Automatikmodus, sondern kreischte förmlich. Der Kugelhagel richtete Pohaku genauso zu, wie es eine Kettensäge getan hätte.
Und dann war es vorbei. Von uns dreien schien nur Akaku'akanene das, was gerade geschehen war, unbeeindruckt zu lassen. Sie bürstete sich über ihre bauschige Kleidung, als wolle sie ein störendes Stäubchen entfernen. Dann sah sie mich mit ihren dunklen, glitzernden Knopfaugen an und sagte leise: »Geh.«
Einen Drek werde ich, hätte ich fast gesagt. Dann sah ich die beiden Hütergeister, die uns die ganze Zeit umkreist hatten. Sie rauschten heran, fast so wie die Gans, die bereits wieder in den Schatten verschwunden war, welche sie ausgespien hatten. Akaku'akanene mußte in ihrer Aufregung ihren magischen Schild fallen gelassen haben. Instinktiv riß ich das Sturmgewehr wieder hoch, obwohl mir mein Verstand sagte, daß das sinnlos war.
Akaku'akanene hatte die Geister ebenfalls gesehen... und sie lächelte. Einer von ihnen schoß so nah an mir vorbei, daß ich seine Hitze spüren konnte. Der andere flog ebenso nah an Kono vorbei, die zurückzuckte und fast einen reflexhaften Schuß auf ihn abgegeben hätte. Beide ignorierten uns völlig, und fielen statt dessen über die bereits verstümmelte Leiche Pohakus her, um mit offensichtlicher Genugtuung den Vorgang der Zerstückelung fortzusetzen, den mein Feuerstoß eingeleitet hatte.
Während sich der Zeitablauf wieder normalisierte, klickte es in meinem Hinterkopf, und mir dämmerte die Erkenntnis. Okay, das war also der Grund dafür, warum uns die Hütergeister auch dann nicht in Ruhe gelassen hatten, als Akaku'akanene ihnen gesagt hatte, daß wir dem Tanz ein Ende bereiten wollten. Sie hatten gespürt, daß jemand in der Gruppe den Tanz schützen wollte -Pohaku, um genau zu sein. Vielleicht konnten die Geister nicht erkennen, wer von uns der Feind der Struktur war (vielleicht waren sie durch die Magiebarriere verwirrt worden, die die Messerklaue geschützt hatte). Oder vielleicht hatte der Widerspruch zwischen Aka-ku'akanenes Versicherungen und ihren eigenen Wahrnehmungen auch dazu geführt, daß sie beschlossen hatten, kein Risiko einzugehen und uns für alle Fälle alle zu geeken. Welche Möglichkeit auch zutraf, ich schien aus dem Gröbsten heraus zu sein.
Sozusagen.
Wiederum handelte ich, bevor ich die Möglichkeit hatte, mich durch langes Nachdenken zu lähmen. Ich bedachte Alana Kono mit meinem besten ›Zum Teufel mit der Welt‹-Lächeln und machte mich daran, den Geröllhang hinunter und zu dem einen halben Kilometer entfernten Tanz zu traben.
Schlechter Zug, Chummer, echt schlechter Zug. Ich hatte vielleicht hundert von diesen fünfhundert Metern zurückgelegt, als ich einen falschen Schritt machte, mir den Knöchel verdrehte und zu einem klassischen Abflug ansetzte, um auf Nacken und Schulter zu landen. Natürlich auf meiner verletzten Schulter. Ich tat, was jeder in dieser Situation getan hätte - ich schrie Zeter und Mor-dio, während ich eine elegante Rutschpartie den Geröllhang hinunter veranstaltete. Nach einer Zeitspanne, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, wurde ich von einem autogroßen Felsbrocken aufgehalten.
Schön, okay, vielleicht war es doch kein ganz so schlechter Zug. Offenbar haben Babys, Betrunkene und übereifrige Schwachköpfe einen besonderen Schutzengel. Einen Augenblick nachdem ich vor der Rückseite des Felsens zur Ruhe gekommen war, rauschte von vorne eine riesige, tosende, flackernde Feuerwand darüber hinweg. Ich machte mich so klein, daß ich mich in meinem eigenen Bauchnabel verkriechen konnte, während die Hitzewelle über mich hinwegbrauste, die mir das Haar versengte und meine Haut spannte.
Es war in weniger als einer Sekunde vorüber, als habe es sich nur um einen einzelnen Feuerball gehandelt. Ich richtete mich auf und riskierte einen Blick über meinen rauchenden Felsbrocken.
Ich mußte die Aufmerksamkeit von mindestens einem der Tänzer erregt haben, soviel war sicher. Der Tanz dauerte an, aber einer der mit Lendentüchern bekleideten Kahunas hatte sich aus dem Kreis zurückgezogen und starrte in meine Richtung. Offensichtlich hatte er mit einem ziemlich häßlichen Feuerball-Zauber zugeschlagen. (Da kam mir ein ziemlich unangenehmer Gedanke: Waren die Tänzer in der Lage, Energie aus dem Haleakala zu ziehen, bei dem es sich ja um einen Ort der Macht handelte? Wenn ja, waren gerade alle Richtlinien hinfällig geworden, die ich bezüglich der Grenzen gelernt hatte, wieviel Energie ein Magier für sein Wirken verbrauchen kann, ohne vor Schwäche ohnmächtig zu werden.)
Tja, Drek, jetzt hatte er meine Aufmerksamkeit erregt. Ich legte das Sturmgewehr an und gab einen kurzen Feuerstoß ab. (Und verschoß dabei das gesamte Magazin. Mann, das Baby schoß vielleicht schnell!) Ich glaubte nicht, daß ich ihn getroffen hatte - wahrscheinlich hatte er irgendeine magische Barriere errichtet -, aber aus reinem Reflex duckte er sich trotzdem... was ohnehin der Zweck von Sperrfeuer ist. Ich duckte mich wieder hinter meinen Felsblock.
Wiederum keinen Augenblick zu früh. Irgendwas - ir-gendwelche Dinge, um genau zu sein - prallten gegen die andere Seite des Felsens. Der Härte des Anpralls nach hätte es sich um Kugeln handeln können, aber das Geräusch, das sie verursachten, war nicht ganz richtig. Splitter regneten auf meiner Seite des Felsens herunter, und einige fielen mir in den Kragen. Kalt, naß... Eisstücke. Der Wichser schoß mit Eiszapfen oder irgendwas in der Art nach mir. Genau in dieser Sekunde kam ich zu dem Schluß, daß ich vielleicht doch ein Mago-phober war.
Das würde nicht leicht werden. Ich sah mich nach Alana Kono um. Eine zweite Kanone war hier unten Gold wert. Vielleicht konnten wir vorrücken, indem wir uns gegenseitig Feuerschutz gaben.
Fehlanzeige in dieser Hinsicht, das sah ich sofort. Mein Felsen hatten mich vor dem Superfeuerball geschützt. Kono hatte nicht so viel Glück gehabt. Sie war nur noch ein formloser Haufen, der sich nicht mehr rührte. Flammen leckten über ihren Körper und sandten eine schmierige Rauchfahne in den Himmel. Verdammt noch mal...
Die beinahe sublime Vibration - das tiefe, kosmische Pulsieren - unter meinen Füßen (jetzt unter meinem Hintern) veränderte ihr Timbre, als habe sich ihre Frequenz um eine Oktave erhöht. Meine Eingeweide verkrampften sich wieder, und mein Blickfeld verschwamm, als sich die Vibrationen durch meinen Hintern, das Rückgrat hinauf und schließlich bis in den Schädel fortpflanzten. Wiederum konnte ich die Magie spüren, die 400 Meter von meinem Felsen entfernt gewirkt wurde, die fast grenzenlose Kraft, die hier nutzbar gemacht wurde. Vor wenigen Minuten hatte mir Akaku'akanene gesagt, die Tänzer seien weit mit ihrem Ritual gekommen. Jetzt brauchte ich keine Schamanin mehr, um zu erkennen, daß sich das Ritual seinem Höhepunkt näherte.
Ich mußte etwas tun, und zwar sofort! Was hatten mir noch Wanzen-Bubi und Akaku'akanene gesagt? Daß ich in diese ach so wichtige Struktur eingewoben war, von der sie immer schwafelten? Und daß ich Einfluß hatte und sich die Ereignisse um meine Person entwickelten (oder ähnlichen Drek)? Tja, der Zeitpunkt war gekommen herauszufinden, ob sie die Wahrheit gesagt oder mir kanike erzählt hatten.
Ich hockte mich mit dem Rücken gegen den feuerversengten und eisüberschütteten Felsen, nahm das Sturmgewehr in die linke Hand und stemmte den Kolben gegen die Rippen unter dem Arm. In die rechte Hand nahm ich die Granatwerfer-Pistole, die ich von meinem toten Wohltäter an Bord der Merlin requiriert hatte. (Daisho, dachte ich, als mir plötzlich mein Freund Ar-gent einfiel. Er hätte meiner Waffen-Verteilung zugestimmt. Die automatische Waffe - die eine ganze Gegend im Nu völlig verwüsten kann - in die ungeübte Hand, mit der man nicht so treffsicher ist. Soll die größere Kraft des Cyberarms mit dem Rückschlag fertigwerden. Die Einzelschußwaffe in die Hand, mit der ich normalerweise schieße.)
Ich verdrängte diese Gedanken. Sie waren nur Versuche meines Hirns, den Moment aufzuschieben, in dem es in seine Atome zerlegt werden mochte. Ich vergewisserte mich, daß beide Waffen durchgeladen und entsichert waren. Und ich sprang hinter meiner Deckung hervor wie eine Tontaube auf einem Schießstand.
Der Kahuna erwartete mich. Kaum tauchte ich hinter dem Felsen auf, begann er mit einem schlurfenden Tanz, und ich sah, wie sich ein Nimbus der Kraft um ihn bildete. Mit derselben übernatürlichen Klarheit des Blicks, in deren Genuß ich schon zuvor gekommen war, sah ich ihn in einem häßlichen Lächeln die Zähne blecken.
Nun, sollte er sich damit vergnügen. Aus der Hüfte schoß ich eine Granate aus dem Werfer ab. Der Rückschlag war grotesk, und das Ding, das im Flugzeug in meiner Schulter geknirscht hatte, machte sich deutlich bemerkbar. Trotz des gewaltigen Rückschlags flog die Minigranate so langsam, daß ich ihre Flugbahn verfolgen und sehen konnte, wie sie unter dem Einfluß der Schwerkraft einen sanften Bogen beschrieb. Der Schuß war zu kurz, aber die Explosion und die Splitter mochten dem Schamanen dennoch so sehr zu denken geben, daß er vorübergehend vergaß, mich zu geeken.
Der Schuß war tatsächlich zu kurz. Oder zumindest wäre er zu kurz gewesen, wenn die Granate nicht zuvor gegen eine unsichtbare Barriere zwischen mir und dem Schamanen geprallt wäre, etwa fünf Meter vor meinem lendenbetuchten Gegenspieler. Die Granate explodierte und hüllte das ganze Gelände in eine Wolke dichten, schweren Rauchs. Ach, Drek... In meiner unendlichen Enttäuschung hätte ich den Werfer beinahe weggeschleudert. Ich hatte mir eine Waffe ausgesucht, die mit einem vollen Magazin verdammter Rauchgranatm geladen war! Wäre ich der Ansicht gewesen, meine Lebenserwartimg betrage mehr als ein paar Sekunden, hätte ich mich wahrscheinlich für meine Dummheit geschämt. Ich hatte nicht einmal die verdammte Munition überprüft!
Wie ging der uralte Witz noch? Tod ist besser als Versagen, weil man mit dem Versagen leben muß. Die Chancen standen gut, daß sich dieses Problem für mich nicht stellen würde. Ich gab einen kurzen Feuerstoß mit dem Sturmgewehr ab, während ich vorwärtslief, obwohl ich wußte, daß die Kugeln von derselben unsichtbaren Barriere abprallen würden, die auch die Granate aufgehalten hatte. Aber welche andere Wahl hatte ich? Sollte ich einfach stehen bleiben und darauf warten, daß der Zauber des Schamanen durch die dichte Rauchwolke fuhr und mich geekte?
Augenblick mal... Durch die dichte Rauchwolke?
Und da kam mir die Erkenntnis. Ich konnte den Schamanen wegen des Rauchs nicht sehen. Und wenn ich ihn nicht sehen konnte, konnte er mich auch nicht sehen. Und -letzter Schritt in der logischen Kette, die vielleicht meinen traurigen Hintern rettete - Magie funktioniert nur bei direkter Sichtverbindung. Man kann nicht geeken, was man nicht sieht...
Ich glaube, ich jubelte in einer Art schrecklicher Freude, als ich die Granatpistole wieder hochriß und Granate um Granate gegen die unsichtbare Barriere vor dem Kahuna jagte, bis das Magazin leer war. Der Schamane begriff sehr rasch, was ich tat. Aus dem Nichts wehte plötzlich ein Hexenwind und peitschte über die zerklüfteten Felsen. Aber Rauchgranaten explodieren nicht einfach in einer Rauchwolke, und das war's. Nein, sie rauchen und qualmen noch für ein paar Sekunden nach der Explosion weiter. Der zahme Wind des Schamanen mochte den Rauch wegblasen, der bereits entstanden war, aber auf dem Boden zwischen ihm und mir lag mittlerweile ein halbes Dutzend Granaten, aus denen immer noch dichte Rauchwolken quollen.
Während ich die Granatwerfer-Pistole leerschoß, rannte ich über das offene Gelände, so schnell mich meine langen Beine trugen. Ich konzentrierte mich in erster Linie auf die Rauchwolke - und indirekt auch auf den zweifellos genervten Kahuna dahinter aber ich kam nicht umhin, zur Kenntnis zu nehmen, was sonst noch um mich herum vorging.
Was für meinen ungeschulten Verstand eine ziemlich nahe Annäherung an die Hölle war, die sich darauf vor- bereitete, mit Pauken und Trompeten loszubrechen. Das Tempo des Tanzes hatte zugenommen, etwa von einem Menuett zu einem Chiphead, der zu Shag-Rock ausflippte und gleichzeitig an Schüttelfrost litt. Die Tänzer bewegten sich in einem zwanzig Meter durchmessenden Kreis gegen den Uhrzeigersinn. Um sie herum schimmerte die Luft vor Macht, als brenne jedes Molekül in seinem eigenen schwachen Hexenlicht.
Im Laufen fiel mir zum erstenmal auf, daß sich die pyrotechnischen Effekte nicht um den Kreis der Tänzer zentrierten, wie ich ursprünglich angenommen hatte. Nein, ganz und gar nicht. Der Feuerfächer - die Blume aus Licht und Hitze, die ich zuerst auf der Infrarotanzeige der Merlin gesehen hatte - hatte ihren Ursprung an einer Stelle, die gut fünfzig Meter vom Zentrum des Tanzes entfernt war. Dort lag das wirkliche Zentrum der Macht. Die Tänzer befanden sich am Rande seines Nimbus, aber der eigentliche Mittelpunkt lag außerhalb des Kreises.
Dort - in diesem Mittelpunkt - fanden die wirklich verrückten Sachen statt. Dort leuchtete die Luft mit solcher Intensität - nicht Helligkeit als solcher, sondern Intensität ... und das ist ein Unterschied -, daß sie einen festen Eindruck machte: Gase, die so weit gekühlt wurden, daß sie kristalline Form annahmen, und dann leuchteten die Kristalle von innen. Über diesem Mittelpunkt wölbte sich die wogende, wirbelnde Wolkendecke nach unten, als sei das Zentrum des Leuchtens ein teilweises Vakuum, das Luft und Wolken aufsog. Elektrische Entladungen blitzten innerhalb der Wolkendecke und aus den Wolken herab zum Boden. Sie blitzten durch und inmitten der Dutzenden von Hütergeistern, die immer noch in ihrem Annäherungs-Ausweich-Schema um den Tanz und um den Mittelpunkt wirbelten. Meine Ohren waren vom Heulen und Kreischen jener Geister erfüllt. Hinzu kamen die titanischen Peitschenschläge der elektrischen Entladungen und das tiefe, fundamentale Pulsieren, das sich sowohl durch die Felsen als auch durch die Luft fortpflanzte.
Das Licht war zwar hell, aber die elektrischen Entladungen waren unendlich viel heller. Jedesmal wenn sie aufblitzten, ließen sie die Bewegungen im Krater erstarren wie das Blitzlicht eines Fotografen. Sie ließen meine Glieder erstarren, sie ließen die dahintreibenden Rauchwolken erstarren, sie ließen die Bewegungen der Tänzer erstarren...
Und sie ließen die Bewegungen der Felsen um mich erstarren. Denn die Felsen bewegten sich tatsächlich - langsam, unbeholfen. Ich konnte ihnen keine Aufmerksamkeit widmen, aber aus dem Augenwinkel nahm ich doch einige Einzelheiten wahr. Es waren Felsbrocken gewesen, das wußte ich. Aber - und das war eine Einzelheit - sie sahen nicht mehr wie unbelebte Felsbrocken aus. Nein, sie sahen wie große Tiere, wie titanische Hunde aus, die man im Zuge irgendeines gräßlichen Züchtungsexperiments mit dem Gestein der Erde gekreuzt hatte. Manchmal spürte ich ihre Blicke auf mir ruhen und die Intensität ihres Hasses. Aber ich spürte auch, daß sich dieser Haß nicht gegen mich richtete. Ich war unwichtig für sie, das wußte ich, nur ein weiteres Merkmal ihrer Umgebung wie die abgestürzte Merlin oder die Wolken am Himmel. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich ausschließlich auf den Tanz und auf die Kristallfeuer-Luft am Mittelpunkt. Sie bewegten sich langsam, aber unaufhaltsam. Irgendwann würden sie ihr Ziel erreichen - in meinem tiefsten Innern wußte ich das. Was würden sie tun, wenn sie dort ankamen? Sie haben mich verstanden, Chummer.
Und würden sie es rechtzeitig schaffen?
Die Zeit floß wieder zäh wie Leichtöl in der Tiefkühltruhe. Ich rannte, was das Zeug hielt, über die zerklüfteten Felsen. Ich hatte bereits mehr als vierhundert Meter zurückgelegt, so daß ich vielleicht noch fünfzig vor mir hatte, bis ich auf die Rauchwolke stieß. Ich rannte so schnell wie noch nie in meinem Leben.
Aber ich hatte trotzdem genug Zeit und Aufmerksamkeit übrig, um festzustellen, daß sich im Mittelpunkt etwas verändert hatte. Irgend etwas war da, inmitten der Kristallfeuer-Luft.
Oder genauer gesagt, irgend etwas war nicht da Wate die Kristallfeuer-Luft eine Wolkendecke gewesen, hatte ich gesagt, daß sich die Wolken geteilt hatten, so daß da hinter der schwarze, sternenbedeckte Himmel sichtbar wurde. Nur, daß die Lichter, die ich dort im Zentrum der Kristallfeuer-Luft sehen konnte, keine Sterne wa ren - Sterne bewegen sich und blinken nicht so. Und die Dunkelheit - sie vermittelte das Gefühl unendlicher Tiefe, wie dies der Nachthimmel tut, aber ich wußte, wußte, daß sie durch das Kristallfeuer begrenzt wurde Vielleicht blicke ich tatsächlich in die unendliche Tiefe eines Himmels, dachte ich plötzlich.
Aber es war nicht der Himmel dieser Welt. Und darin bewegten sich Dinge. Ich glaubte verrückt zu werden. Wieder veränderte sich mein Zeitgefühl, und plötzlich pflügte ich mit Höchstgeschwindigkeit durch die dünner werdende Rauchwolke. Ich hielt meine Beine in Bewegung, aber ich riß das Sturmgewehr hoch.
Und da war der Schamane, direkt vor mir. Er war ein Stück vorangegangen, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, bis zu seiner magischen Barriere. Schlechter Zug. Eine verirrte Windbö hatte den Rauch in seine Richtung getrieben und ihn eingehüllt. In dem Augenblick bevor ich ihn niederwalzte, sah ich, wie sich seine Augen gerötet, tränend, verschwollen - weiteten. Er öffnete den Mund - vielleicht, um einen Zauber zu wirken viel leicht, um ›Drek‹ zu rufen, ich werde es nie erfahren.
Meine Schulter schmetterte gegen seine Brust meine verletzte Schulter, verdammt noch mal -, und ich warf ihn glatt um. Während er hintenüber fiel, zog ich ihm instinktiv die leere Granatwerfer-Pistole über die Schläfe. Und dann - wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen - zerfetzte ich ihm mit einem Feuerstoß aus meinem Sturmgewehr im Laufen die Eingeweide.
Die wirbelnde, wogende Masse der Hütergeister blieb hinter mir zurück. Das bedeutete, ich befand mich innerhalb der magischen Barriere, die sie davon abhielt, sich auf die Tänzer zu stürzen. Außerdem war ich auch durch die magische Barriere hindurch, die der getötete Kahuna zu seinem Schutz errichtet hatte. Das bedeutete...
Ich glaube, ich grinste, als ich sowohl in das Sturmgewehr als auch in die Granatwerfer-Pistole ein neues Magazin einlegte.
Dort waren die Tänzer, fünfundzwanzig Meter von mir entfernt, nicht mehr. Wenn sie überhaupt wußten, daß ich da war, konnten sie kein Iota ihrer Aufmerksamkeit von ihrem Tun abwenden. Zum erstenmal sah ich die Muster, die auf den Boden gezeichnet waren -Linien, die mit Asche oder Mehl gezogen waren, Reihen aus weißen Steinen, die zu komplexen Mustern arrangiert und von Holz, Knochen und Federfetischen durchsetzt waren -, und ich verstand ein wenig besser, was vorging.
Die Tänzer befanden sich selbst in einer Art Schutzkreis, der fünfundzwanzig Meter durchmaß, und in dem sich ihre Bewegungen abspielten. Und abseits des Tanzes gab es einen weiteren Schutzkreis, kleiner, aber komplexer... und, wie ich irgendwie spürte, auch viel mächtiger. Die Kristallfeuer-Luft, die Region der Dunkelheit, die ›Sterne‹, die Dinger - all das befand sich innerhalb dieses zweiten Kreises.
Und was bedeutete das alles? Kreise können Dinge einsperren oder Dinge aussperren - das ist so ungefähr alles, was ich über Beschwörungen weiß. Der kleinere, komplexere Kreis mußte den Zweck haben, Wanzen-Bubis ›Wesenheiten‹ zu binden, wenn sie durch das ›Tor‹ kamen, wie ich den Riß bei mir bezeichnete, den der Tanz in der Realität erzeugt hatte. (Und wenn ich Wanzen-Bubis und Akaku'akanenes Warnung ernst nahm, war er dieser Aufgabe nicht gewachsen.)
Was war dann mit dem Kreis, der die Tänzer umgab? Dort gab es nichts zum Einsperren, also mußte er dazu dienen, etwas auszusperren. Eine Art magische kugelsichere Weste - ein Schutz für die Schamanen, falls es den Wesenheiten, die in diese Welt eindrangen, gelang, den Kreis zu durchbrechen, der sie halten sollte.
Nun, zum Teufel damit, sage ich.
Die Wesenheiten kamen noch nicht durch den Riß in der Realität, aber sie würden kommen. Davon war ich überzeugt. Die Tänzer hatten ein Portal zwischen unserer Welt und einer anderen geöffnet. Der Schaden war angerichtet. Jeden Augenblick würden ein oder mehrere von Wanzen-Bubis Wesenheiten - meine »kosmischen Gemeinheiten* - durch den Riß springen oder kriechen oder fliegen, und dann war der Drek am Dampfen. Die Inseln von Hawai'i würden Höllenqualen erleiden...
Sollten also die Tänzer - die Wichser, die für diese drekkige Situation verantwortlich waren - ungeschoren davonkommen? Würden sie innerhalb ihres Schutzkreises in Sicherheit sein, während sich die kosmischen Gemeinheiten austobten?
Nicht, wenn ich dabei ein Wörtchen mitzureden hatte, Chummer, das kann ich Ihnen sagen.
Ich spürte, wie ich die Zähne zu einem furchtbaren Grinsen bleckte, als ich mit meinen beiden Waffen auf die Tänzer anlegte. Zuerst eine Granate, um sie wissen zu lassen, daß ihnen die Hölle bevorstand. Mein rechter Zeigefinger krümmte sich um den Abzug...
Und jeder verdammte Muskel meines Körpers erstarrte. Jeder einzelne. Ich atmete nicht mehr, und ich glaube, mein Herz hatte zu schlagen aufgehört. Wie zuvor auf dem Rollfeld von Kaiao war ich magisch gelähmt.
Zur Hölle mit dir, Harlech! wollte ich schreien, aber die Worte erschollen nur in meinem Kopf.
Zu meiner Linken erschien eine Gestalt. Sie erschien einfach - gerade noch nichts, im nächsten Augenblick da, zack, einfach so. Nicht Quinn Harlech. Ein polynesi-scher Mann, der dieselbe Uniform wie die anderen Tänzer trug - ein Lendentuch und einen Kopfschmuck aus Gras, und damit hatte es sich. Abgesehen von einem gemeinen Grinsen.
Ich kannte ihn, den Wichser. Ich hatte ihn schon gesehen, und da hatte er mehr oder weniger denselben Retro-Drek getragen: im Thronsaal des Iolani-Palasts, wo er links neben König Kamehameha V. gestanden hatte. Ich kannte diesen mageren, faltigen, nußbraunen Körper, der jetzt vor Schweiß glänzte. König Kameha-mehas Kahuna, sein magischer Ratgeber. Wußte Gordon Ho, wie dicht er von Verrat umringt gewesen war? Nun, wenn nicht, war es ein klarer Fall, daß ich es ihm nicht mehr sagen würde.
Die Welt um mich herum schrumpfte bereits zusammen, da mein Hirn nach dem Sauerstoff schrie, den mein Herz ihm nicht schickte. Was für eine lausige Art abzutreten: so nah daran, und dann von einem alten Rattenfurz von einem Schamanen aufgehalten zu werden, der einfach im Schutz eines Unsichtbar-keitszaubers gewartet hatte, bis ich in seinen kleinen Hinterhalt gestolpert war. Was für ein drekkiger Abgang, zu ersticken, während alle Muskeln gelähmt waren...
Muskeln? Wie funktionierte dieser magische Drek überhaupt? Lähmte er die Bewegungsnerven, oder fror er die Muskeln selbst ein? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Und, Drek, ich hatte einmal ein altes Buch gelesen, in dem es geklappt hatte...
Mit dem linken Arm - meinem kybernetischen Ersatzarm - schlug ich mit all der Kraft der Pseudomyomerfa-sern, Servomotoren und Cyber-Aktivatoren zu. Kein Muskel bewegte sich - nur der technologische Ersatz für Muskeln.
Meine linke Hand und das Sturmgewehr, das sie hielt, bewegten sich so schnell, daß sie nur noch verschwommen zu sehen waren. Der Lauf krachte mit einem gräßlichen knirschenden Laut gegen den Hals des Kahuna und beschleunigte immer noch. Und ich will verdammt sein, wenn ich ihm nicht seinen gottverdammten Kopf sauber abtrennte! Der Körper des Kahuna stürzte in eine Richtung, sein Kopf flog in eine andere, und ich selbst fiel in eine dritte, da mich die Heftigkeit meiner eigenen Bewegung von den Beinen riß. Ich schlug schwer auf den Boden, was mir den letzten kümmerlichen Rest verbrauchter Luft aus den Lungen trieb, den sie noch enthielten. Ich holte schmerzhaft keuchend Luft...
Noch einmal: Ich holte schmerzhaft keuchend Luft! Die Schmerzen, die ich empfand, waren wie eine Wohltat. Nur lebendige Menschen empfinden Schmerz.
Mit dem Tod des Kahuna war auch die Wirkung seines Zaubers erloschen. Ich war wieder frei. Ich konnte atmen, ich konnte mich bewegen.
Ein paar Sekunden lang blieb ich einfach liegen und genoß das, ja aalte mich in dem Gefühl des Atmens. Dann erinnerte mich eine plötzliche Veränderung in der Vibration des Bodens daran, daß meine einzige Chance, auch weiterhin zu atmen - und was für eine kleine Chance es war -, in meinen eigenen Händen lag. Mit einem Knurren zwang ich mich auf Hände und Knie, dann in eine unsichere Hocke.
Der Tanz hatte seinen frenetischen Höhepunkt erreicht. Zwei der Tänzer lagen am Boden - ohnmächtig oder tot, konnte ich nicht sagen -, aber die anderen hampelten immer noch herum, als litten sie unter Zuckungen. Fünfzig Meter entfernt, im Mittelpunkt, hatte sich der Riß im Gefüge von... nun, von allem... noch weiter geöffnet. Ich spürte Kälte auf meinem Gesicht brennen. (Okay, ich weiß, daß Kälte nicht brennt.
Aber, Drek, genau das empfand ich...) Irgendwas füllte das Tor aus, wollte hindurchkommen. Irgendwas...
Ich zwang mich wegzusehen. Mein Gott... Mein Verstand konnte nicht begreifen, was meine Augen gesehen hatten... nicht richtig. Ich stand kurz vor dem schrecklichen Begreifen und hatte die unerschütterliche Überzeugung, daß ich in dem Augenblick, in dem ich tatsächlich begriff, unheilbar wahnsinnig werden würde.
Aber ich brauchte nicht zum Mittelpunkt zu schauen. Meine eigentlichen Ziele waren viel näher.
Ich legte mit der Granatwerfer-Pistole an und zielte sorgfältig. Der Kreis, der die Tänzer umgab, wurde von kleinen, aber kunstvoll aufgeschichteten Haufen aus weißen Steinen, geschnitzten Holzstatuen und Knochen geviertelt. Der nächste dieser Steinhaufen war weniger als dreißig Meter von mir entfernt. Ich korrigierte mein Ziel ein wenig und drückte ab.
Die Granate traf den Steinhaufen genau in der Mitte und explodierte. Diesmal kein Rauch. Das zweite Magazin, das ich mir geschnappt hatte, war mit Splittergranaten geladen. Ich hörte das fast sublime Flüstern der Splitter, die überall um mich herum durch die Luft pfiffen. Der Steinhaufen war bereits zu Drek zerborsten, aber was sollte es? Ich hatte noch fünf weitere Granaten, also schickte ich noch eine weitere hinterher.
Ich hatte eine Bresche in den Schutzkreis der Tänzer gesprengt. Irgendwie wußte ich das, ich konnte es spüren. Und sie wußten es auch. Sie verhielten in ihren Zuckungen und gafften - manche in meine Richtung, die meisten in Richtung des Tors, aber alle mit derselben Miene betäubten Entsetzens. Sie gafften.
Bis ich sie mit einem einzigen langen Feuerstoß aus meinem Sturmgewehr alle niedermähte. Sie fielen wie Kegel, sackten zusammen, während Blut und Gewebe spritzte. Ich lachte, ein Geräusch, das selbst für meine Ohren irrational klang. Nun, das war eine Möglichkeit, die Tänzer vom Tanz abzuhalten ...
Mein Job war noch nicht erledigt. Ich wandte mich dem Tor zu, wobei ich den Blick nicht auf den Riß im Gefüge von Raum und Zeit richtete, und verschoß die vier noch im Magazin verbliebenen Granaten. Wie zuvor zielte ich nicht auf das, was sich innerhalb des Schutzkreises befand, sondern auf den Kreis selbst. Die Minigranaten explodierten inmitten der weißen Steine, der geschnitzten und gefiederten Fetische, der Asche und des Mehls und schickten alles zur Hölle.
Irgendwas krachte gegen meinen Rücken und stieß mich zu Boden. Scharfkantiges Lavagestein schnitt mir Gesicht und Hände auf. Ich hob den Kopf, und das Blut lief mir bereits in die Augen und ließ meine Sicht verschwimmen.
Es war eines dieser großen Fels-Hunde-Dinger, das mich umgestoßen hatte. Es war nicht stehengeblieben, um mich zu beschnüffeln oder das Bein zu heben. Ein Dutzend oder mehr dieser Dinger flitzten dem Tor entgegen. Hatten sie sich zuvor noch mit der Geschwindigkeit eines Gletschers bewegt, so machten sie das jetzt mehr als wett. Gewaltige hüpfende Schritte überbrückten rasch die Entfernung.
Ihnen buchstäblich auf den Fersen folgte der wilde Tumult der Hütergeister, der bisher von der magischen Barriere der Tänzer abgehalten worden war. Wie ein heulendes, kreischendes Rudel verlorener Seelen fluteten sie über mich hinweg. Nicht dem Tor entgegen, das erkannte ich sehr rasch - vielmehr zu den Überresten der Kahunas, die ich niedergemäht hatte. Während die Hunde (oder worum es sich auch handelte) weiter zum Tor hasteten, fielen die Hütergeister über die Leichen und Beinahe-Leichen her und rissen sie in kleine blutige Fetzen, wobei sie mit gräßlicher Schadenfreude vor sich hin schnatterten und kreischten.
Die Hunde näherten sich dem Tor jetzt aus allen Richtungen. Zum erstenmal hörte ich das Geräusch, das sie verursachten - ein scheußliches, unnatürliches Kläffen, bei dem mir das Blut in den Adern gefror. Sie stürmten immer weiter, und ihre Masse verbarg den Schrecken des Dings, das durch das Tor kam.
Ich glaubte, sie würden sich kopfüber auf das Ding stürzen wie Wachhunde, die einem Eindringling an die Kehle gehen. Fehlanzeige, Chummer, das wäre zu vorhersehbar gewesen. Sie blieben alle gleichzeitig stehen und bildeten einen soliden Ring um das Tor, wo sie Schulter an Steinschulter hockten. Dann reckten alle wie auf ein geheimes Signal das klobige Maul gen Himmel und heulten.
Das Geräusch fuhr mir durch Mark und Bein bis tief in meine Seele und rührte jede Andeutung von Verzweiflung, Einsamkeit und Verlassenheit an, die ich je empfunden hatte - rührte sie an und erweckte sie wieder zum Leben. Ich hätte geweint - wäre in Tränen ausgebrochen, um nie wieder aufzuhören -, aber meine Seele litt so sehr, daß ich nicht weinen konnte. Da glaubte ich, sterben zu müssen. Wie konnte ein armseliges menschliches Wesen so viel Verzweiflung empfinden und nicht sterben?
Doch ich starb nicht. Irgendwie schlug mein Herz weiter, floß mein Blut weiter. Ich lag dort auf dem felsigen Boden und sah zu, wie die Hunde das Tor anheulten.
Und das Tor veränderte sich. Es erbebte und flimmerte, verlor an Schärfe. Blitze knisterten und krachten, aber jetzt innerhalb der endlosen Tiefen des Tores. Aktinisches Licht flackerte und ließ die Hunde scharf hervortreten, schwarz vor blendendem Weiß. Innerhalb des Tores schrie irgend etwas, vermischte seinen eigenen Verzweiflungsschrei mit dem Heulen der Hunde.
Mit einem letzten markerschütternden Knall brach das Tor zusammen. Die Kristallfeuer-Luft flimmerte, und ich sah, wie sich eine Schockwelle - eine perfekt kreisförmige Wellenfront von ihrem Zentrum ausbreitete. Wie in all den alten 2D-Filmen von Atombombentests breitete sich die Schockwelle aus und komprimierte dabei die Luft vor sich zu einer solchen Dichte, daß sie undurchsichtig wurde.
Die Schockwelle erfaßte mich, und alles hörte auf.