Wenn Sie EVERMORE
lieben,
dann müssen Sie auch den neuen Roman
von COURTNEY ALLISON MOULTON
lesen:
Sie ist stark.
Sie ist kämpferisch.
Nur sie kann die Welt
retten.
Zuerst kamen die Albträume. Jede Nacht wurde Ellie von
ihnen heimgesucht. Schreckliche Wesen verfolgen und töten sie dann.
Aber sind es tatsächlich Träume – oder nicht doch Erinnerungen? Und
dann ist da dieser mysteriöse Fremde, Will. Es kommt ihr vor, als
würde ihre Seele ihn wiedererkennen. Und wirklich weiß er mehr über
sie als sie selbst – denn er offenbart ihr, dass sie magische
Kräfte besitzt, an die sie sich nicht mehr erinnern kann. Und dass
die Wesen in ihren Träumen schreckliche Realität sind, finstere
Kreaturen, die es auf die Seelen der Menschen abgesehen haben.
Ellie ist die Einzige, die den Kampf gegen sie aufnehmen und ihnen
Einhalt gebieten kann. Doch zuerst muss sie sich ihrer eigenen
Vergangenheit stellen, auch wenn die Erinnerungen daran fast
schmerzlicher sind, als sie
ertragen kann.
ANGELFIRE – MEINE SEELE GEHÖRT
DIR
von Courtney Allison
Moulton
erscheint im Oktober 2011 im Page & Turner
Verlag.
Mehr Informationen unter
www.pageundturner-verlag.de
und www.courtneyallisonmoulton.com
Auf den folgenden Seiten finden Sie
Ihre exklusive Leseprobe aus Angelfire
KAPITEL 1
Ich starrte aus dem Fenster des Klassenzimmers und
träumte davon, frei zu sein, aber ich saß hier fest. Überall hätte
ich sein wollen, nur nicht hier, wo ich wie alle anderen die
Ausführungen meines Wirtschaftskundelehrers über mich ergehen
lassen musste. Als ich ihm noch zugehört hatte, hatte er über
Finanzpolitik gesprochen, und das war auch schon der Moment
gewesen, in dem er mich verloren hatte. Mein Blick wanderte zu
meiner besten Freundin, Kate Green, die selbstvergessen ihre
Notizen mit einem kunstvollen Blumenmuster verzierte. Dann starrte
ich auf die grauen Brusthaare, die wie Stahlwolle aus dem Kragen
von Mr Meyers Polohemd hervorquollen, und fragte mich, ob er jemals
über Enthaarung nachgedacht hatte.
Nach weiteren einschläfernden zwanzig Minuten
weckte der erlösende Gong meine Lebensgeister und ließ mich
erleichtert aufspringen. Kate schob ihre Arbeitsblätter in ihren
Ordner und folgte mir durch den Gang zwischen den Tischen. Die
anderen Zwölftklässler stürmten wie von der Tarantel gestochen zur
Tür.
»Ms Monroe?«, rief Mr Meyer mir nach, als ich
gerade hinausgehen wollte.
Ich drehte mich zu Kate um: »In fünf Minuten an
deinem Schließfach?«
Sie nickte und folgte den anderen Schülern auf
den Flur, bis ich mit unserem Lehrer allein zurückblieb. Mr Meyer
schaute mich durch seine dicken Brillengläser freundlich an und
winkte mich zu sich.
Ich holte tief Luft, denn ich ahnte, worüber er
mit mir reden wollte. »Ja, Sir?«
Sein Lächeln war warmherzig und nett, sein
grauer Bart kräuselte sich um seine schmalen Lippen. Er schob die
Brille
hoch. »Der Test letzte Woche ist wohl nicht so gut gelaufen? «
Ich wappnete mich. »Nein, Sir.«
Er blickte zu mir auf. »Letztes Jahr in meinem
Politikkurs haben Sie anfangs sehr gut mitgearbeitet, aber in den
letzten Monaten des Schuljahrs wurden Ihre Noten schlechter. Nach
den Sommerferien sind sie noch weiter in den Keller gegangen. Ich
möchte, dass Sie wieder besser werden, Ellie.«
»Ich weiß, Mr Meyer«, erwiderte ich
zerknirscht. Tausend Entschuldigungen kamen mir in den Sinn. Ich
war abgelenkt. Abgelenkt durch die College-Bewerbungen, die
ständigen Streitereien meiner Eltern, die Albträume, die mich Nacht
für Nacht quälten. Natürlich wollte ich mit meinem
Wirtschaftskundelehrer nicht über meine Probleme reden. Sie gingen
ihn nichts an. Also entschied ich mich für eine vage Antwort. »Es
tut mir leid. Ich war abgelenkt. Im letzten Jahr war so viel
los.«
Er stützte die Ellbogen auf seinen
vollgepackten Tisch und beugte sich vor. »Ich weiß, es steht eine
Menge an in der Abschlussklasse. College, Freunde, Homecoming,
Jungs … Es gibt so vieles, das Sie beschäftigt. Aber Sie müssen
sich auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist.«
»Ich weiß«, sagte ich schuldbewusst.
»Danke.«
»Und ich spreche nicht nur von der Schule«,
fuhr er fort. »Das Leben hält Prüfungen für Sie bereit, von denen
Sie noch nichts ahnen. Lassen Sie nicht zu, dass die künftigen
Herausforderungen das Gute, das Sie in sich tragen, verändern oder
Sie vergessen lassen, wer Sie sind. Sie sind ein nettes Mädchen,
Ellie. Ich hatte Sie immer gern in meinen Kursen.«
»Danke, Mr Meyer«, sagte ich mit aufrichtigem
Lächeln.
Er lehnte sich zurück. »Dieser Kurs ist nicht
besonders schwierig. Ich bin mir ganz sicher, wenn Sie sich ein
bisschen mehr Mühe geben, werden Sie ihn bestimmt schaffen. Mein
Kurs ist nichts im Vergleich zu dem, was da draußen in der realen
Welt vor sich geht. Ich weiß, dass Sie das hinkriegen.«
Ich nickte, obwohl er diese kleine Ansprache
sicher für jeden parat hatte, der bei einem Test mit zwanzig Fragen
ein »Ausreichend« bekommen hatte, aber seine Worte klangen so
ehrlich, dass ich sie ihm abkaufen wollte. »Danke, dass Sie an mich
glauben.«
»Ich sage das nicht zu jedem, dessen Noten
schlechter werden«, erwiderte er, als hätte er meine Gedanken
gelesen. »Ich meine es ernst. Ich glaube an Sie. Aber Sie müssen
auch an sich selbst glauben, versprochen?«
Mein Lächeln wurde breiter. »Danke. Bis
morgen.«
»Ich werde hier sein«, sagte er und erhob sich
mühevoll von seinem Stuhl. Seit dem ersten Schultag nach den Ferien
benutzte er einen Stock. »Sie haben bald Geburtstag, stimmt’s?«
Ich sah ihn erstaunt an. »Ja, woher wissen Sie
das? Soll ich selbstgebackene Muffins für alle mitbringen, oder
so?«
Er lachte. »Nein, nein. Es sei denn, Sie
möchten es gern. Ich hätte nichts dagegen. Alles Gute zum
Geburtstag, Ms Monroe.«
»Danke, Sir.« Ich winkte ihm lächelnd zu. Als
ich das Klassenzimmer verließ, ging mir durch den Kopf, dass diese
Ansprache ziemlich ernst gewesen war, für einen
Wirtschaftskundelehrer, der sich auf seinen baldigen Ruhestand in
Arizona freute.
Ich traf Kate bei ihrem Schließfach. Sie
musterte mich stirnrunzelnd, als ich näher kam.
»Was hat Meyer denn gewollt?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich soll mir mehr Mühe
geben.«
Sie lächelte. »Also ich finde, du bist
perfekt.«
»Danke«, sagte ich lachend. »Kommst du direkt
mit zu mir? Dann können wir für den Mathe-Test am Donnerstag
üben.«
Sie schüttelte den Kopf, strich ihr blondes
Haar zurück und zog ihren Rucksack aus dem Schließfach. »Ich will
vorher noch ins Sonnenstudio.«
»Warum das denn? Es ist September, und du
siehst jetzt schon aus, als würdest du den ganzen Tag am Strand
liegen.« Ich stupste gegen ihre Schulter und grinste. Ihre Haut
hatte einen wunderschönen goldbraunen Farbton, aber ich ärgerte sie
gern damit, dass sie bald so aussehen würde wie all die anderen
Barbie-Püppchen der Schule, wenn sie so weitermachte.
»Ich will diesen Winter auf keinen Fall so
käseweiß werden wie du!« Kate war sehr hübsch, und selbst wenn sie
ein finsteres
Gesicht machte, sah sie fantastisch aus. Sie war fast einen Kopf
größer als ich, aber das war kein Kunststück. Ich war ein gutes
Stück kleiner als die meisten anderen Mädchen in meinem Alter.
»Ich bin nicht käseweiß«, sagte ich und warf
einen verstohlenen Blick auf meinen Arm. So blass war ich nun
wirklich nicht.
»Diesen umwerfenden Hautton bekommt man nicht
einfach so, verstehst du?« Selbstverliebt strich sie über ihre
Schulter und lachte.
Ich streckte ihr die Zunge raus und öffnete
mein Schließfach. Ich warf mein Biobuch hinein und stopfte meine
Literatursachen in die Tasche. Mein Referat über Hamlet musste bis
nächste Woche fertig sein, ich sollte allmählich mal damit
anfangen. Etwas rumste gegen die Schließfachtür neben mir, und ich
schaute auf.
Landon Brooks hatte sich an die Schließfächer
gelehnt und fuhr sich durch sein goldblondes Haar mit den
professionell gesetzten hellen Strähnchen darin. Er war einer von
den Jungs, die den angesagten Surfer-Look für unabdingbar hielten,
obwohl es hier in Michigan weit und breit keine Möglichkeit zum
Surfen gab. Fast die gesamte Fußballmannschaft kopierte seinen
Look. Landon war der beste Stürmer der Schule, kein Wunder, dass er
für alle eine Art Trendsetter war. »Und was ist jetzt mit der Party
am Samstag? Läuft noch alles wie geplant? «
Am Donnerstag wurde ich siebzehn und wollte
Samstagabend eine Party feiern. Aus irgendeinem unerfindlichen
Grund hatte die ganze Schule davon Wind bekommen, und nun gingen
alle davon aus, dass es das Event werden
würde. Ich war jetzt nicht gerade wer weiß wie beliebt oder bekannt
für meine tollen Partys, aber an meiner Schule sorgte fast jede
Party für Aufregung. Aber das war wohl ganz normal für eine
Highschool in einem Vorort von Detroit wie Bloomfield Hills.
»Ja, ja«, sagte ich lahm. »Es dürfen bloß nicht
zu viele werden. Meine Eltern bringen mich um, wenn plötzlich
hundert Leute bei uns auflaufen.«
»Zu spät«, sagte Kate. »Es ist die erste Party
im Abschlussjahr,
ist doch klar, dass da alle angerannt kommen. Außerdem ist nächstes
Wochenende Homecoming, da brauchen wir eine gute Party zum
Aufwärmen. Die Massen werden schon ganz unruhig. Und eine
Außenseiterin bist du auch nicht. Die Leute mögen dich.«
»Und dann hast du ja auch noch Josie
eingeladen, schon vergessen?«, sagte Landon.
Stimmt. Josie Newport. Unsere Mütter waren alte
Highschool-Freundinnen und trafen sich auch heute noch ab und zu.
Josie und ich hatten als Kinder viel miteinander gespielt, aber das
war lange her. Sie war sehr beliebt in der Schule, aber abgesehen
von den Verabredungen unserer Mütter hatten wir kaum etwas
miteinander zu tun. Ich hatte sie zu meiner Party eingeladen, als
wir uns vor einigen Wochen beim Friseur getroffen hatten. Das
Vorurteil, dass alle beliebten, gut aussehenden Mädchen miese
Zicken seien, hab ich noch nie verstanden. Josie war jedenfalls
nett. Vielleicht ein bisschen naiv, aber sie würde niemals jemanden
mit Absicht verletzen. Allerdings musste ich zugeben, dass sie ein
paar Freundinnen hatte, über die ich das nicht hätte sagen
können.
»Und Josie hat immer ihr Gefolge im Schlepptau,
egal wo sie hingeht«, fügte Kate hinzu. »Und dazu gehört die halbe
Schule, Ell.«
Ich schnitt eine weitere Grimasse und schloss
mein Fach ab. »Ich klär das.« Aber in Wahrheit würde ich gar nichts
tun. Ich konnte doch schlecht zu Josie Newport gehen und ihr sagen:
»Ach, übrigens, als ich dich eingeladen habe, habe ich nur dich
gemeint und vielleicht noch ein oder zwei Freundinnen. Nicht alle
und jeden.«
»Vielleicht denkt sie, sie tut dir einen
Gefallen?«, mutmaßte Landon. »Damit du beliebter wirst, oder
so?«
Das klang natürlich cool, aber ich hielt es für
ziemlich unwahrscheinlich. Josie würde mir keinen Gefallen tun.
Falls die Party nicht so toll wäre, würde sie mit ihrem Gefolge
einfach woandershin ziehen. Sie würden ihre eigene Party machen.
Wenn meine blöd war, würde Josie ganz einfach eine neue starten.
Genug Leute dafür hätte sie.
»Also dann. Ich muss los«, sagte ich und war
froh, das Gespräch beenden und nach Hause gehen zu können, auch
wenn’s ’s nur zum Lernen war.
»Okay, wir sehen uns in einer Stunde«, sagte
Kate.
»Adios, Ladys«, sagte Landon und verbeugte sich
zum Spaß vor uns. »Könnt ihr nicht für mich mit lernen, damit ich’s
nicht tun muss?«
Kate hielt sarkastisch lächelnd die Daumen hoch
und verschwand in Richtung Schülerparkplatz. Seit ihrem sechzehnten
Geburtstag hatte sie den Führerschein und einen eigenen Wagen, wie
die meisten anderen Teenager, die ich kannte. Den Führerschein
hatte ich auch schon in der Tasche, aber noch kein Auto. Kates
Daddy hatte ihr einen roten BMW zum Geburtstag geschenkt. In meinen
Augen war es ein absolutes Wunder, dass sie ihn noch nicht zu
Schrott gefahren hatte. Sie fuhr wie eine Blinde auf Crack.
Ich winkte Landon zum Abschied zu, zog mein
langes, dunkelrotes Haar unter dem Rucksackriemen hervor und machte
mich auf den Weg zum Haupteingang, wo meine Mom auf mich
wartete.
Als ich die Rasenfläche vor der Schule
überquerte, erblickte ich einen Jungen, den ich noch nie gesehen
hatte. Er hatte sich an einen Baum gelehnt und trug ein braunes
T-Shirt und Jeans. Sein Haar, das leicht im Wind wehte, sah schwarz
aus, doch das Sonnenlicht brachte einen rötlichen Schimmer zum
Vorschein. Er wirkte ein wenig zu alt, um noch auf die Highschool
zu gehen, war vielleicht zwanzig oder einundzwanzig. Er sah
irgendwie vertraut aus, und ich spürte eine gewisse Sympathie tief
in meinem Herzen, schüttelte das Gefühl jedoch schnell wieder ab.
Ich wusste ja gar nicht, wer er war. Vielleicht hatte er vor ein,
zwei Jahren seinen Abschluss gemacht, und ich war ihm einige Male
auf dem Flur begegnet? Meine Schule war ziemlich groß, und ich
konnte unmöglich jeden kennen, der sie besucht hatte. Ich
beobachtete ihn noch ein paar Sekunden lang, bis ich merkte, dass
er mich ebenfalls ansah. Mein Gesicht wurde feuerrot, und ich
richtete meinen Blick schnell auf die Auffahrt zur Schule, wo die
Autos der Eltern warteten. Es war seltsam,
dass er hier herumhing, aber vielleicht wartete er ja auf einen
jüngeren Bruder.
Der Mercedes meiner Mom war kaum von den
anderen silbergrauen Mercedesmodellen, die sich vor der Schule
aneinandergereiht hatten, zu unterscheiden. Ich brauchte eine
Weile, bis ich meine Mutter hinter einer der Windschutzscheiben
ausgemacht hatte. Sie und mein Dad sahen mir so wenig ähnlich, dass
ich mich manchmal fragte, ob ich adoptiert war. Moms Haar war
dunkelblond – ganz anders als mein satter Rotton. Viele glaubten,
ich hätte mir die Haare gefärbt, als wären sie knallrosa oder
hätten irgendeine andere unnatürliche Farbe. Nein, die sind so.
Außerdem hatte sie auch keine Sommersprossen. Viele Leute denken,
dass alle Rothaarigen jede Menge Sommersprossen haben. Das stimmt
aber nicht. Ich habe nur sechs Stück auf der Nase. Man kann sie
leicht nachzählen. Es sind genau sechs.
Ich stieg ein, und wir begannen unser typisches
Nach-der-Schule-Gespräch.
»Wie war dein Tag, Ellie Bean?«, fragte meine
Mom, wie jedes Mal.
»Hat mich nicht umgebracht«, antwortete ich wie
immer.
»Das freut mich zu hören«, lautete ihre
Standardantwort.
Ich blickte durchs Seitenfenster zu dem Baum,
wo ich den Jungen gesehen hatte, aber er war fort. Auch auf dem
Rasen konnte ich ihn nirgends entdecken.
»Suchst du jemanden?«, fragte meine Mom, als
sie losfuhr.
»Nein, schon gut«, murmelte ich
geistesabwesend.
Meine Mutter beschimpfte den Fahrer vor uns,
der trotz grüner Ampel nicht weiterfuhr. Ihr Ärger war schnell
verflogen, und sie lächelte mir zu. »Ich bin so froh – nur noch ein
paar Tage, dann muss ich dich nie mehr von der Schule abholen!«
»Schön für dich!«
Mom arbeitete als Webdesignerin von zu Hause
aus und hatte mich immer zur Schule bringen und abholen können,
sodass ich nie zur Nachmittagsbetreuung musste. Mein Dad war
dagegen fast nie da. Er arbeitete in der medizinischen Forschung,
und es gab viele Abende, an denen ich zu Bett ging, ohne ihn
gesehen zu haben. Zuweilen bekam ich ihn eine ganze Woche lang
nicht zu Gesicht. In letzter Zeit war ich deswegen nicht sonderlich
traurig.
»Du hast mir noch immer nicht gesagt, was du
dir zum Geburtstag wünschst«, sagte meine Mom.
»Einen Lambo.«
Sie lachte. »Ja klar. Wir verkaufen einfach
unser Haus, damit wir dir einen Lamborghini zum Geburtstag schenken
können.«
Mittlerweile hatten wir die Zufahrtsstraße zur
Schule verlassen und befanden uns auf dem Weg nach Hause.
»Also, was wünschst du dir wirklich? Wir haben ja schon von einem Auto gesprochen,
und dein Dad hat ja gesagt.«
»Ich weiß nicht recht.«
»Überlass die Entscheidung nicht mir«, warnte
meine Mom. »Ich kauf dir ein Moped, mit dem du zur Schule fahren
kannst.«
»Ja, sicher!« Ich verdrehte die Augen. »Ich
weiß nicht, kauft mir einfach ein schickes, sicheres Teil mit einem
MP3-Adapter. Damit komm ich dann schon klar!«
Ich erwachte von der Musik, die auf mein linkes
Trommelfell eindröhnte. Ich tastete nach meinem Handy und drückte
den Anruf ohne zu gucken weg. Wenige Sekunden später klingelte es
erneut. Ich öffnete ein Auge, um auf die Uhr zu sehen. Es war
Viertel vor sechs. Mit einem leisen Fluch zog ich das Handy vom
Nachttisch und schaute auf den Namen des Anrufers. Es war Kate.
Ich rieb mir die Stirn, um die Benommenheit zu
verscheuchen, die mich nach meinem Albtraum am klaren Denken
hinderte. In den vergangenen Monaten wurde ich von seltsamen
Träumen gequält, die mich an den Dracula-Film mit Gary Oldman
erinnerten. Gruseliges Zeug. In den ersten Wochen hatten sie mich
schlecht schlafen lassen, aber nach und nach hatte ich mich daran
gewöhnt, und jetzt machten sie mir nicht mehr so viel aus. Bis vor
einem Monat war ich noch jede Nacht schreiend aufgewacht.
Zu faul, mir das Telefon ans Ohr zu halten,
drückte ich auf Lautsprecher und knallte es zurück auf das
Nachtschränkchen.
»Bist du nicht ganz dicht? Mein Wecker hat noch nicht mal
geklingelt.«
»Mein Gott, Ellie, mach den Fernseher an.«
Kates Stimme war leise und entsetzt. »Mr Meyer. Auf Kanal
vier.«
Ich griff nach der Fernbedienung und zappte wie
befohlen auf Kanal vier. Wie vom Blitz getroffen fuhr ich hoch.
»Er ist tot, Ellie«, flüsterte Kate. »Sie haben
ihn gefunden. Hinter Lane’s Pub.«
Meine Augen waren auf das Chaos gerichtet, das
sich live auf dem Bildschirm abspielte.
»… das fehlende Blut am Fundort der Leiche ist
für die Ermittler ein Hinweis, dass Frank Meyer möglicherweise an
einem anderen Ort getötet und hier hinter Lane’s Pub abgelegt
wurde, zusammen mit der mutmaßlichen Tatwaffe, einem
außergewöhnlich langen Jagdmesser mit Aufbruchhaken. Über den Grund
kann zu diesem Zeitpunkt nur spekuliert werden, da die Polizei nur
sehr wenige Details dieser grausamen Tat bekannt gegeben hat. Für
diejenigen, die jetzt erst eingeschaltet haben, hier ist Debra
Michaels vom Fundort der schwer verstümmelten Leiche eines der
beliebtesten Pädagogen unserer Gemeinde, Frank Meyer von der
West-Bloomfield-Highschool, der heute früh …« Mir war speiübel. Der
vertraute Ort hinter der Reporterin wimmelte von Polizisten,
Feuerwehrleuten und Sanitätern. Ausgerechnet Mr Meyer? Er war einer
der nettesten Lehrer, die ich jemals hatte. Weniger als
vierundzwanzig Stunden zuvor hatte ich noch mit ihm gesprochen. Wie
konnte er jetzt tot sein? Ermordet? Und
schwer verstümmelt?
»Glaubst du, die Schule fällt aus?«, fragte
Kate am anderen Ende der Leitung.
Ich hatte ganz vergessen, dass sie am Telefon
war. »Lass mich mit meiner Mom sprechen. Wir treffen uns dann bei
mir.« Ich beendete das Gespräch.
Eine Stunde später saß ich an der Theke unserer
Kochinsel und starrte auf einen unberührten Teller mit Pfannkuchen.
Mom machte eigentlich nur Pfannkuchen, wenn ich krank war oder
einen schlechten Tag hatte oder an Feiertagen wie Weihnachten. Dies
war anscheinend ein Tag, an dem Pfannkuchen
gerechtfertigt waren, aber ich brachte es nicht über mich, auch nur
einen Bissen davon zu essen. Von dem Geruch nach Fett und Eiern
wurde mir übel.
Mom trat hinter mich und legte den Arm um meine
Schulter. »Du musst was essen, Schatz. Bitte! Wenn du ein bisschen
was im Magen hast, fühlst du dich gleich besser.«
»Es würde eh nicht unten bleiben«, murmelte ich
trübsinnig.
»Ein Bissen«, befahl sie. »Dann wär meine
Kocherei nicht ganz umsonst gewesen.«
Grimmig spießte ich einen Happen auf meine
Gabel, doch auf dem Weg zum Mund landete er auf meinem Schoß. Ich
stöhnte und legte den Kopf auf die Theke.
Mom runzelte die Stirn. »Du solltest eigentlich
schlauer sein als die Pfannkuchen, Ellie.«
Ich warf ihr einen finsteren Blick zu.
Eigentlich wussten Teenager doch immer alles besser als ihre Eltern
und nicht umgekehrt.
Sie ignorierte meinen vorwurfsvollen Blick und
reichte mir ein Küchentuch, mit dem ich mir die Schlafanzughose
abwischte. »Also, ich habe endlich jemanden in der Schule erreicht.
Da sind heute Morgen die Telefone heiß gelaufen, deshalb war
ständig besetzt. Wahrscheinlich haben alle Eltern versucht
anzurufen. Heute findet jedenfalls kein Unterricht statt, aber ich
vermute, morgen geht es wieder weiter. Ich weiß, du mochtest Mr
Meyer wirklich gern, und die stellvertretende Schulleiterin hat
gesagt, dass Therapeuten zur Verfügung stehen, falls du also
jemanden zum Reden brauchst …«
»Ich komm schon klar«, sagte ich. »Ich dreh
nicht durch oder so. Mir geht’s nur nicht so gut, das ist alles.«
Mom hatte immer alles im Griff und für alles einen Plan.
Sie musterte mich liebevoll. »Du bist mein
kleines Wunder. Ich will, dass es dir gut geht.«
Ich verdrehte die Augen. »Das sagst du
immer.«
»Ich mach mir Sorgen wegen deiner Albträume«,
sagte sie traurig.
»Ich hab kaum noch welche«, log ich. Ich wollte
nicht, dass sie sich noch mehr um mich sorgte, als sie es ohnehin
schon
tat. Ich hatte immer noch fast jede Nacht Albträume, und ich musste
lernen, damit umzugehen, da die Medikamente, die der Arzt mir
dagegen verordnet hatte, nichts bewirkten.
»Und wenn sie nach dieser Tragödie wieder
schlimmer werden? Ich kann nächste Woche wieder einen Termin bei
Dr. Niles machen.«
»Lass gut sein, Mom«, sagte ich abwehrend. Ich
hasste es, wenn sie den Psychodoktor ins Spiel brachte, zu dem sie
mich seit drei Monaten schickten. Der Typ erzählte mir nur einen
Haufen Blödsinn, den ich sowieso schon wusste, und verschrieb mir
Tabletten, die nicht halfen. Natürlich glaubten sie jetzt alle, ich
wäre wieder gesund. Was sie nicht wussten, konnte sie nicht
beunruhigen.
»Ich wollte dich nicht ärgern, Ellie Bean.«
Ich atmete aus, lockerte meine angespannten
Gesichtszüge und sah sie wieder an. »Ich weiß. Du musst mir einfach
glauben, wenn ich sage, dass ich schon klarkomme.«
Sie hielt einen Moment inne, bevor sie
antwortete. »Ich sag deinem Vater, dass er sich noch von dir
verabschieden soll, bevor er losfährt.« Damit verließ Mom die
Küche.
Ich nahm mein Handy und fragte Kate per SMS, wo
sie war. Wenige Sekunden später erhielt ich ihre Antwort: »Binn
göicx da!« Ich bereute sofort, Kate eine SMS geschickt zu haben,
während sie am Steuer saß. Warum, war offensichtlich.
Ich stocherte noch ein bisschen in meinem
Frühstück herum, dann kam mein Dad in die Küche und knöpfte sein
Jackett zu. Ich schaute zu ihm auf und lächelte ihm kurz zu. Im
Vorbeigehen strich er mir unbeholfen übers Haar.
»Das mit deinem Lehrer tut mir leid«, sagte er.
Sein Gesichtsausdruck wirkte traurig, aber sein Blick passte nicht
dazu. Seine Augen waren ruhig und teilnahmslos, seine Gedanken
woanders.
Er meinte es bestimmt ernst, aber er wusste
nie, wie er so etwas zeigen sollte. Es kam mir immer vor, als hätte
er gelernt, jemanden zu trösten, indem er andere nachahmte – als
hätte er es im Fernsehen gesehen. Es wirkte nie natürlich, nie, als
käme es von Herzen.
»Danke, Dad«, sagte ich ernst. »Kate müsste
bald hier sein.«
»Ah«, mehr brachte er nicht heraus.
»Ich glaub nicht, dass wir was Besonderes
machen«, sagte ich.
»Na gut. Wir sehen uns.«
»Bis später.« Eigentlich hätte er sagen sollen,
wie sehr er hoffte, dass mit mir alles in Ordnung wäre und dass er
mich lieb hatte, aber es hätte mich zu Tode erschreckt, hätte ich
ihn dieser Tage so etwas sagen hören. Ich schaute ihm nach, wie er
zur Garage ging, und hörte, wie er den Motor anließ und
davonfuhr.
Ohne zu läuten, schlüpfte Kate ins Haus.
Schweigend setzte sie sich neben mich, griff nach meiner Gabel und
nahm einen Bissen von meinen Pfannkuchen.
»Ich kann gar nicht glauben, dass Mr Meyer tot
ist«, sagte sie mit vollem Mund.
Der Gedanke, dass ich sein gütiges, lächelndes
Gesicht nie wieder im Klassenzimmer sehen würde, machte mich
wirklich traurig. »Ich kann auch nicht glauben, dass er tot ist.
Haben sie in den Nachrichten noch mehr darüber gesagt?«
»Nein, nur, dass er ›schwer verstümmelt‹ wurde.
Keine Ahnung, was sie damit meinen. Könnte alles Mögliche bedeuten.
Wahrscheinlich war es ein Psychopath. Schließlich sind wir ganz in
der Nähe von Detroit.«
Ich aß ein Stück Pfannkuchen, von dem mir
augenblicklich übel wurde. »Ich glaube, ich leg mich noch ein
bisschen schlafen. Willst du mitkommen?«
»Das ist der beste Vorschlag, seit Landons und
Chris’ Idee, ein Zebra aus dem Zoo zu entführen und es auf unserer
Abschlussfeier freizulassen«, sagte sie. »Glaubst du, sie ziehen
das wirklich durch?«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
KAPITEL 2
Ich strich mit den Fingern über die
Krallenspuren auf der Stahltür, jede so breit wie meine Handfläche,
als ich das Gebrüll hörte, das aus dem Inneren der riesigen
Textilfabrik ertönte. Das wütende Heulen ließ den staubigen
Fußboden unter meinen Schuhen erzittern und kündete von der
Anwesenheit des seelenraubenden Reapers in der Tiefe. Aus dem
Nichts beschwor ich meine beiden Schwerter herauf und trat lautlos
durch die Tür in die abgedunkelte Halle. Die Luft roch nach Rauch
und Schwefel, jenem unverwechselbaren Gestank, den die Dämonischen
hinterlassen und der die einzige Verbindung zwischen der
sterblichen Welt und dem Limbus darstellt. Der Boden war bedeckt
mit vergilbtem Papier, und von den Fabrikfenstern war nichts übrig
außer spitzen Scherben. Das fahle Licht der Straßenlaternen, die
die dunklen Straßen säumten, fiel durch die zerschmetterten
Scheiben. Unrat stapelte sich an den Wänden, von denen die Farbe in
Streifen abblätterte. Ich bahnte mir den Weg durch die
herumliegenden Trümmer und versuchte jedes Geräusch zu vermeiden,
aber ich wusste, dass der Reaper meine Nähe fühlen konnte. Meine
Lautlosigkeit konnte die Energie, die von mir ausströmte, nicht
verbergen. Nichts konnte sie tarnen, und der Reaper hungerte nach
mir.
Ich trat in den Limbus ein,
durchdrang den rauchigen Schleier und gelangte in jene Welt, die
die meisten Menschen nicht wahrnehmen können. Dies war das Reich
der Reaper. Die Überreste der Sphäre der Sterblichen rissen an
meinen Armen und Kleidern wie boshafte Fangarme. Ein
vorbeifahrender Polizeiwagen erleuchtete das Erdgeschoss der Fabrik
wie ein blutrotes Feuerwerk, das Heulen seiner Sirene machte mich
einen Moment lang taub. Ich holte tief Luft, um die Fassung
wiederzuerlangen, und schlich zur nächstgelegenen Nottreppe. Ich
öffnete die Tür mit einem Fußtritt, und das laute Dröhnen des
Stahls verriet meine Position. Ich hielt die mit Leder umwickelten
Griffe meiner sichelförmigen Khopesh-Schwerter fest
umklammert und spähte über den Rand der stählernen Brüstung hinab
ins Untergeschoss.
Eine wuchtige Gestalt raste
unten vorüber. Das erneute Brüllen des Seelenjägers ließ die Treppe
erbeben.
Eilig machte ich mich auf den
Weg nach unten, hastete die stählerne Wendeltreppe hinab, wild
entschlossen, ihn nicht entkommen zu lassen. Meine Schritte waren
leicht und berührten kaum den Boden. Als nur noch ein Stockwerk
zwischen mir und dem Kellergeschoss lag, schwang ich mich über das
Geländer und landete sicher und sanft mit federnden Knien auf dem
Betonboden. Ich trat gegen die Stiegentür, die sofort nachgab, und
spähte vorsichtig in die Dunkelheit. Unsichtbare Klauen kratzten
über den Beton. Er wollte mich wissen lassen, dass er hier
war.
Hinter mir ertönte ein tiefes,
kehliges Knurren. Ich wirbelte herum und erhaschte einen Blick auf
den Reaper, aber dann zog er sich tiefer ins schwarze Dunkel
zurück. Entschlossen biss ich die Zähne zusammen, Engelsfeuer brach
aus meinen Schwertern hervor und machte sie bereit für den Kampf.
Die Flammen waren das Einzige, das einen Reaper wirklich töten
konnte, und nur ich hatte Macht über sie. Sie erfüllten das
höhlenartige Kellergewölbe mit gelblich orangefarbenem Licht, aber
der Reaper wich dem glühenden Schimmer aus und hielt sich im
Schatten.
Er spielte mit mir, lockte
mich. Ich hielt die Schwerter bereit und folgte ihm.
Plötzlich umgab mich die Kraft
des Reapers, schlug mir entgegen wie eine erstickende Rauchwolke,
schwer, tintenschwarz, gnadenlos und ohne Vorwarnung. Ich schlug
mit beiden Schwertern um mich. Der Feuerschein erleuchtete seinen
monumentalen, bärenartigen Körper, der sich nun aufbäumte, die
Vorderbeine ausgestreckt, mit Pranken so groß wie Suppenteller.
Seine Augen waren schwarz und leer wie die eines Hais, und sein
gewaltiger Unterkiefer senkte sich, um ein Gebrüll auszustoßen, so
laut, als würde mir ein entgegenkommender Schnellzug direkt ins
Gesicht fahren.
Ich kauerte mich zusammen, als
der Reaper mit seinen messerlangen Krallen mein Gesicht streifte.
Dann sprang ich auf und wich zurück. Der Reaper warf sich in meine
Richtung und hatte mich mit einem halben Schritt erreicht. Wieder
riss er sein Maul auf und zeigte
gewaltige Zähne, die zu einem Säbelzahntiger gepasst hätten, jeder
Reißzahn so lang wie mein Unterarm. Er richtete sich über mir auf
und ließ die Fabrikmauern ein weiteres Mal mit seinem Gebrüll
erzittern. Ich ließ mich auf die Knie fallen und schlitzte ihm
Brust und Hinterbeine auf. Das Blut spritzte nur so, und er brach
zusammen, richtete sich jedoch sofort wieder auf, sprang in die
Luft und landete etwa zehn Meter von mir entfernt. Sein Fleisch
verkohlte, wo es von den Silberklingen aufgeschlitzt und vom Feuer
angesengt worden war. Er wirbelte herum und startete einen neuen
Angriff.
Ich trat zurück und bereitete
mich auf den Aufprall vor. Stattdessen landete der Reaper ein Stück
links von mir und verschwand für einen Augenblick aus meinem
Sichtfeld. Krallen schlugen sich in meinen Rücken und zerfetzten
meinen Körper zu Hackfleisch. Ich schrie auf und stürzte vornüber.
Zitternd ließ ich meine Schwerter fallen. Der zu erwartende Schmerz
blieb jedoch aus; ich spürte nicht das Geringste.
Der Reaper war einen Augenblick
lang abgelenkt von der Blutlache, die sich um meinen reglosen
Körper gebildet hatte. Er hielt inne, um es zu kosten, und seinem
ungeheuerlichen Maul entfuhr ein genussvolles, kehliges Grunzen,
bevor er sich erneut auf mich stürzte, um sein todbringendes Werk
zu vollenden.
Noch bevor ich meinen letzten
Atemzug beenden konnte, starb ich.
Ich fuhr hoch und schnappte so verzweifelt nach
Luft, als müsse ich noch immer um mein Leben kämpfen. Beklommen
tastete ich nach meinem Rücken, und als ich glatte, unversehrte
Haut fühlte, seufzte ich erleichtert auf. Meine Albträume wurden
von Mal zu Mal realistischer, und ich fragte mich allmählich, ob
ich nicht doch ein paar Therapiestunden brauchen könnte.
Neben mir regte sich Kate. Sie setzte sich auf
und musterte mich stirnrunzelnd. »Alles in Ordnung? Hast du
schlecht geträumt? «
Ich zog die Knie an die Brust und umschlang sie
mit den Armen. »Ja.«
Tröstend strich sie mir übers Haar. »Sollen wir
einen Film gucken?«
Ich nickte. Kate machte nie viel Aufhebens
wegen meiner
Albträume, behandelte mich nie wie einen Freak, und sie verstand
besser als jeder andere, dass Medikamente und Therapie nicht
halfen. Sie war die Einzige, die mir zuhörte, statt Diagnosen zu
stellen. Ich legte mich auf die Seite und rollte mich zusammen,
während Kate das DVD-Regal vor meinem Fernseher durchstöberte. Wir
guckten uns drei Komödien an – darunter einen meiner
Lieblingsfilme, Das darf man nur als
Erwachsener, um mich daran zu erinnern, dass ich am nächsten
Tag Geburtstag hatte. Von diesem Film kriegte ich immer bessere
Laune. Mit lustigen Filmen und Pfannkuchen hatten wir uns schon
seit der Grundschule getröstet, wenn es mal nicht so gut gelaufen
war, und wahrscheinlich würden wir uns dieses liebgewonnene Ritual
auch im College nicht nehmen lassen. Aber der Versuch, den heutigen
Tag weniger schrecklich zu machen, war sinnlos.
»Was jetzt?«, fragte Kate und zog den
DVD-Ständer näher zum Bett. »Clueless – Was
sonst?«
Ich schüttelte den Kopf. Mittlerweile war es
schon nach vier, und ich wurde allmählich etwas unruhig. »Ich hab
keine Lust mehr auf Filme. Wollen wir nicht irgendwas machen?«
»Und was? Shoppen? Wenn wir uns nicht beeilen,
sind die Herbstsachen von Gucci alle weg.«
Ich verzog das Gesicht. »Nein, ich hab keine
Lust, mich zu stylen und mir was Ordentliches anzuziehen. Wir
könnten doch einfach ein Eis essen.«
Kates Miene hellte sich ein wenig auf. »Hört
sich gut an. Da bin ich dabei.«
Ich zog meine Jeans an und streifte eine
leichte Kapuzenjacke über mein Trägertop. »Sollen wir Landon
fragen, ob er auch Lust hat?«
Kate nickte und tippte seine Nummer ein. Wir
sagten meiner Mom, was wir vorhatten, stiegen in Kates BMW und
fuhren zu Cold Stone. Landon stand bereits mit ein paar von unseren
Freunden auf dem Parkplatz: Chris, Evan und Rachel. Chris war mit
Landon in der Schulmannschaft, und die beiden waren unzertrennlich,
seit ich denken konnte. Sie verstummten, als Kate und ich aus dem
Wagen stiegen.
»Verrückter Tag«, sagte Landon. »Wie geht’s
euch beiden?«
»Ganz okay«, sagte Kate. Sie ergriff meine Hand
und steuerte die Eisdiele an.
Wir gaben an der Theke unsere Bestellungen auf
und setzten uns draußen an einen Tisch. Landon und die anderen
kamen dazu. Ich stocherte ein bisschen in meinem Schokoeisbecher
herum, bevor ich den ersten Bissen nahm. Obwohl ich den ganzen Tag
kaum was gegessen hatte, war ich nicht besonders hungrig. Der Mord
an Mr Meyer machte mir mehr zu schaffen, als ich erwartet hatte.
Bis auf meinen Großvater hatte ich noch nie jemanden gekannt, der
gestorben war. Und der war friedlich eingeschlafen. Meinem Lehrer
dagegen war etwas Schreckliches zugestoßen.
Auch meine Freunde hatten kein anderes Thema
als Mr Meyer.
»Ich hab gehört, dass er von einem Bären
angegriffen worden ist«, sagte Evan mit vollem Mund. »Und Meyer
soll versucht haben, sich mit einem Messer zu wehren.«
»In diesem Teil von Michigan gibt’s keine
Bären«, merkte Rachel an.
»Vielleicht war es ein Puma«, mutmaßte Landon.
»Ich kenne einen, der hat einen Ozelot.«
»Wer’s glaubt«, spottete Chris.
»Stimmt aber.«
Rachel wuschelte Evan durchs Haar. »Du weißt
doch nicht mal, wie ein Ozelot aussieht.«
»War es so schrecklich?«, fragte Kate.
Chris nickte. »Ein Kumpel von mir leistet im
Leichenschauhaus Sozialstunden, weil er besoffen Auto gefahren ist,
und er hat gehört, dass es übel war. Als wäre er in Stücke gerissen
worden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Schlägerei so
ausgegangen wäre, es sei denn, die Braut, deretwegen sie sich
gestritten haben, wäre heiß wie sonst was gewesen. Wenn ein Typ
zwischen mich und Angelina Jolie käme, könnte ich auch für nichts
garantieren.«
Es gefiel mir nicht, wie sie über Mr Meyer
redeten, also versuchte ich, sie und die verstörenden Bilder in
meinem Kopf auszublenden. Im Cold Stone herrschte viel Betrieb;
mittlerweile
war auch der Unterricht an der nahe gelegenen Grundschule beendet,
und es wimmelte nur so von lärmenden, streitenden Kindern. Ich
ignorierte sie, so gut es ging, da Jungs aus der fünften Klasse es
gern darauf anlegten, Highschool-Mädchen zu ärgern. Ich sondierte
das Gelände und nahm ihre Gesichter nur am Rande wahr, bis ich den
Jungen entdeckte, den ich am Tag zuvor an der Schule gesehen
hatte.
Heute trug er ein schwarzes langärmeliges
T-Shirt und dunkle Jeans. Er saß keine zehn Meter entfernt allein
an einem Tisch und starrte vor sich hin. Er kam mir so bekannt vor.
Ich musste ihn von irgendwoher kennen. Als ich ihn ansah, blitzten
kurze Schnappschüsse von seinem Gesicht, seinen Augen und seinem
Lächeln in meiner Erinnerung auf. Ein vertrauter Geruch kam mir in
die Nase, und ich wusste, dass er zu ihm gehörte, aber ich war
nicht nah genug, um mich zu überzeugen. Die Zuneigung, die in
meinem Herzen aufstieg, ängstigte und beruhigte mich zugleich. Als
er merkte, dass ich ihn anstarrte, erwiderte er meinen Blick und
schaute nicht weg. Ich versuchte, auch ihn auszublenden, doch dann
wurde mir klar, dass ich nicht alle und jeden um mich herum
ignorieren konnte, und wandte mich wieder meinen Freunden zu.
»Morgen ist bestimmt wieder Schule«, sagte
Rachel.
Kate leckte einen Sahneklecks vom Löffel.
»Schöner Mist.«
»Glaubt ihr, wir müssen den
Wirtschaftslehre-Aufsatz von dieser Woche noch zu Ende schreiben?«,
fragte Landon.
Chris zuckte die Achseln. »Warum nicht? Wir
kriegen sicher einen Vertretungslehrer, bis sie Ersatz gefunden
haben.«
Hastig aß ich meinen Eisbecher auf, ohne mich
an der Unterhaltung zu beteiligen. Dann stand ich auf und ging zum
Mülleimer hinüber, um den leeren Becher wegzuwerfen. Als ich mich
umdrehte, wäre ich fast mit einer großen Gestalt zusammengestoßen
und zuckte erschrocken zusammen. Als ich aufschaute, stand ich dem
Jungen gegenüber, den ich am Tag zuvor gesehen hatte. Er war groß,
über eins achtzig, breitschultrig – und er stand viel zu dicht vor
mir. Seine Gegenwart schien mich einzuhüllen – es war jedoch kein
beklemmendes Gefühl, wie ich es erwartet hätte, sondern ein
friedvolles. Ich wich nicht
vor ihm zurück. Seine leuchtend grünen Augen blickten zu mir herab,
aber er sagte kein Wort. Um den Halsausschnitt seines Shirts waren
seltsame schwarze Linien zu sehen – wahrscheinlich Tattoos. Sein
dunkles Haar war vom leichten Septemberwind ein wenig zerzaust.
»Ähm, hallo«, sagte ich gedehnt, um meine
Nervosität zu überspielen. »Wolltest du auch zum Mülleimer?« Sobald
die Worte aus meinem Mund waren, kam ich mir vor wie ein Idiot.
»Hi«, sagte er und schenkte mir ein Lächeln,
das seine feingeschnittenen Gesichtszüge verschönerte, die
geschwungenen Lippen, das kleine Grübchen unter seinem linken Auge,
das nur zu sehen war, wenn er lächelte – ein Lächeln, bei dem ich
das Gefühl hatte, als hätte ich es schon unzählige Male gesehen.
»Nein, ich wollte nichts wegwerfen.«
»Okay …« Ich machte Anstalten, zu meinen
Freunden zurückzukehren.
»Erinnerst du dich an mich?«, fragte er.
Abgesehen von einem ausgeprägten Déjà-vu-Gefühl
war ich mir ziemlich sicher, ihn nicht wirklich zu kennen. »Ich
glaube, ich habe dich gestern bei der Schule gesehen.«
»Das ist alles?« Sein Gesicht spiegelte
Enttäuschung wider.
Ja, er war wirklich sonderbar. »Ich bin mir
ziemlich sicher. Suchst du jemanden?«
»Nein. Du bist doch Elisabeth Monroe,
oder?«
»Ja, ich bin Ellie. Gehst du auch auf meine
Schule?«
»Nein, leider nicht. Du gibst am Samstag eine
Party, stimmt’s?«
Gütiger Himmel, wusste denn die ganze Welt
davon? »Ja. Wie hast du davon erfahren, wenn du nicht auf meiner
Schule bist?«
»Von einem Freund.« Er lächelte.
»Alles in Ordnung, Ellie?« Landon war neben uns
getreten. Er wirkte verärgert, fast ein wenig feindselig. »Wer ist
der Typ?« Er musterte den Jungen von oben bis unten.
Das Lächeln des Fremden verging. »Nenn mich
einfach Will.«
Seine Worte lösten ein Gefühl von Vertrautheit
aus, ebenso
wie sein Lächeln. Mir war, als hätte ich ihn das schon einmal sagen
hören.
»Quatsch sie nicht an, Mann«, sagte Landon und
trat einen Schritt auf Will zu.
Ich schob ihn mit sanfter Hand zurück. »Lass
gut sein, Landon. Er hat mich nicht belästigt. Ich wollte nur
meinen Becher wegwerfen. Lass uns gehen. War nett, dich
kennenzulernen, Will.«
Ich nickte Will zu und zog Landon hinter mir
her. »Was ist bloß in dich gefahren?«, fragte ich, als wir außer
Hörweite waren.
»Nichts – mach dir keine Gedanken. Er hätte
dich nicht ansprechen sollen.«
»Ich dachte, du wolltest dem Typen eine
reinhauen.«
»Das hätte ich auch getan, wenn er dich
angefasst hätte.«
Ich blinzelte überrascht. »Hat er aber
nicht.«
»Dann ist ja gut«, schnaubte er.
Ich musste mir das Lachen verkneifen. Ich war
zwar seit der sechsten Klasse mit Landon befreundet, aber er war
ein Junge, und Jungs waren mir manchmal ein Rätsel.
Zu meiner Überraschung schaffte es mein Dad heute
tatsächlich, zum Abendessen zu Hause zu sein, aber sobald wir uns
alle an den Tisch gesetzt hatten, wünschte ich mir, er wäre nicht
da. Unsere gemeinsamen Mahlzeiten verliefen in letzter Zeit meist
so, dass meine Eltern damit beschäftigt waren, mich zum Reden zu
bringen. Aber ich brauchte kein Gespräch über Mr Meyer. Ich war
nicht mehr zehn, und ich war nicht traumatisiert. Ich war nur
traurig. Das war ganz natürlich und zu erwarten. Man brauchte mich
deshalb nicht wie ein Kleinkind zu behandeln.
Mir graute vor der Schule am nächsten Tag. Die
schreckliche Geschichte würde wieder und wieder durchgekaut werden.
Ganz zu schweigen von dem Mathe-Test, der mir bevorstand. Ein
toller Geburtstag!
Die Faust meines Vaters, die auf den Tisch
niedersauste, riss mich brutal aus meinen Gedanken. Erschrocken
setzte ich mich kerzengerade hin.
»Darum geht es nicht.« Seine Stimme klang kalt
und harsch, als müsste er sich beherrschen, um nicht wütend
loszubrüllen.
»Ach nein?«, fragte meine Mom. »Das ist diese
Woche der erste Abend, an dem du zu Hause bist. Es würde mich nicht
wundern, wenn ihre Albträume durch die fehlende Vaterfigur
ausgelöst werden.«
»Das ist doch lächerlich. Komm mir nicht mit
diesem Psychoquatsch, Diane.«
»Ich versuche nur eine Lösung zu finden«, sagte
Mom müde. »Ihr Lehrer wurde ermordet, da mache ich mir eben Sorgen.
Es wäre kein Wunder, wenn sie dadurch wieder Albträume bekommt. Wir
sollten noch einmal einen Termin bei Dr. Niles für sie machen.«
Offenbar hatte sie vollkommen vergessen, was
ich ihr am Morgen gesagt hatte. Am liebsten hätte ich allen beiden
meine Spaghetti ins Gesicht geschleudert und geschrien:
Hallo! Ich sitze auch hier! Wäre ich nicht
so wütend gewesen, hätte ich darüber lachen müssen, dass sie
meinetwegen stritten, während ich direkt neben ihnen saß. Wenn sie
meine Anwesenheit so ignorierten, wurde deutlich, dass ihnen ihr
Streit viel wichtiger war als meine psychische Gesundheit.
Mein Dad schnaubte. »Wenn du das für notwendig
hältst.«
»Es gibt viele Dinge, die ich für notwendig
halte.«
»Was soll denn das schon wieder heißen?«
Sie starrte ihn an. »Du weißt genau, was das
heißt.«
»Hör auf mit den Ratespielchen.«
An einem Abend wie diesem wünschte ich mir
einen Hund. Dann hätte ich eine Entschuldigung gehabt, das Haus zu
verlassen und spazieren zu gehen. Hauptsache ein Grund,
verschwinden zu können.
»Du bist nie zu Hause, und wenn du da bist,
tust du nichts, als herumzuschreien«, warf Mom ihm vor. »Ich habe
Angst vor dir, wenn du abends nach Hause kommst. Elisabeth
ebenfalls. Es würde mich nicht wundern, wenn ihre Albträume davon
kommen, dass du sie all die Jahre wegen jeder Kleinigkeit
angebrüllt hast. Hier geht es nicht um dich und mich, Rick – hier
geht es darum, wie du deine Tochter behandelst.«
Ich konnte es nicht länger ertragen. Ich stand
vom Tisch auf und brachte meinen Teller in die Küche. Dabei
versuchte ich, die aufgebrachte Antwort meines Vaters zu überhören.
Alle Eltern stritten sich – so etwas passiert in jeder Beziehung –,
aber Eltern sollten nicht vor ihren Kindern streiten. Meine Mom und
mein Dad schoben sich ständig gegenseitig die Schuld an meinen
Albträumen in die Schuhe, obwohl sie wahrscheinlich beide Schuld
daran hatten.
Ich ging in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett
und starrte in den Spiegel über der Kommode. Die pinkfarbene
Spieluhr, die mein Dad mir zum siebten Geburtstag geschenkt hatte,
stand zwischen zwei Duftkerzen und einer Geburtstagkarte von meiner
Oma. Ich ging zur Kommode und öffnete den Deckel der Spieluhr. Die
kleine Ballerina im Inneren richtete sich auf. Ich drehte den
Schlüssel, der sich am Boden der Spieluhr befand. Eine fröhliche
Melodie ertönte, und die Ballerina begann sich zu drehen. Ich sah
ihr eine Weile zu und fragte mich, wie mein Leben sich so
entwickeln konnte, und warum mein Dad zu einem so hasserfüllten
Menschen geworden war. Ich liebte diese Spieluhr jetzt vor allem,
weil sie mich an den wundervollen Vater erinnerte, der er einst
gewesen war. Am liebsten hätte ich die Zeit um zehn Jahre
zurückgedreht – irgendwie ein trauriger Wunsch für ein Mädchen in
meinem Alter.
KAPITEL 3
Entschlossen, mich von meiner Niedergeschlagenheit
nicht noch tiefer runterziehen zu lassen, legte ich eine DVD ein.
Ich entschied mich für 30 über Nacht, da
meine Eltern genau dieses Gefühl in mir ausgelöst hatten.
Vielleicht könnten mich die lustigen Szenen ein wenig aufheitern.
Immer mal wieder hörte ich sie sich anbrüllen. Kurz nach
Mitternacht begannen sie erneut heftig zu streiten.
»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte ich
trübsinnig. Innerhalb der nächsten fünf Minuten erhielt ich acht
SMS-Glückwünsche mit vielen Ausrufungszeichen, Herzchen und
Smileys.
Ich beschloss, die ersten paar Minuten meines
neuen Lebensjahrs draußen auf der Veranda zu verbringen. Ich lehnte
mich an einen der Stützpfeiler und holte tief Luft. Die Nacht war
recht kühl, aber mir war warm genug in meinem T-Shirt und der
Kapuzenjacke.
Nachdem ich eine Weile auf der Veranda gesessen
und vor mich hin geträumt hatte, schlenderte ich die Auffahrt
hinunter bis zur Straße. Eine Runde um den Block dürfte genügen.
Ich brauchte wirklich einen Hund. Vielleicht sollte ich mir lieber
einen Hund statt ein Auto wünschen … na ja, ein Auto war wohl doch
besser. Wahrscheinlich kriegte ich es nicht direkt am nächsten Tag,
aber dann am Wochenende. Ich kannte viele Jugendliche, die kein
Auto zum Geburtstag bekamen, geschweige denn eines, das sie selbst
aussuchen durften, ich sollte mich also nicht beklagen.
Andererseits gab es auch viele Kinder, deren Eltern sich nicht
anbrüllten. Jeder musste so seine Opfer bringen.
Vor mir hörte ich plötzlich ein tiefes Brummen,
das mich innehalten ließ. Es klang nicht wie ein Motor oder so, und
ich konnte auch keine Scheinwerfer entdecken. Angestrengt spähte
ich in die Dunkelheit. Die Laterne über mir summte, dann erlosch
sie. Bis zur Straßenecke und auf der großen Rasenfläche konnte ich
nichts erkennen. Kurz musste ich an Mr Meyers Mörder denken.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee, nach Mitternacht allein
draußen herumzulaufen.
»Was hast du gesehen?«
Mit einem kleinen erschreckten Aufschrei
wirbelte ich herum. Das Herz schlug mir bis zum Hals.
Es war Will, wie aus dem Nichts aufgetaucht. Er
wirkte besorgt und entschlossen, versuchte aber offensichtlich,
diese Gefühle zu verbergen.
»Was machst du hier draußen?«, fragte ich
barsch.
»Und was machst du denn
hier?«, konterte er.
»Ich wohne hier!«
Plötzlich kam mir ein schrecklicher Gedanke.
Ich hatte Will zum ersten Mal an dem Tag gesehen, an dem Mr Meyer
nachts ums Leben gekommen war. Nein, nein, nein. Das war
lächerlich. Will war nur ein attraktiver, seltsamer Typ, der mir
zufälligerweise ständig über den Weg lief. Das machte ihn noch
lange nicht zu einem Mörder. Hatte meine Mom mir nicht zu
Weihnachten eine Dose Pfefferspray geschenkt? Was hatte ich
eigentlich damit gemacht?
»Also warum gehst du so spät noch spazieren?«,
fragte er und riss mich aus meinen Gedanken. »Selbst wenn du hier
wohnst, ist es nicht gerade die beste Zeit, um noch draußen
herumzulaufen.«
»Du läufst ja auch hier
herum. Außerdem bin ich gern nachts draußen. Es ist so
entspannend.«
Sein Lächeln wurde breiter. Offensichtlich fand
er lustig, was ich sagte. »Die meisten Leute hätten Angst.«
Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Wieso?
Sollte ich denn welche haben?«
»Was?«
»Angst.«
»Eigentlich schon.«
»Du siehst nicht aus, als würdest du dich
fürchten.«
»Ich kann auf mich selbst aufpassen.« Er
lächelte wehmütig, als erinnere er sich an etwas.
»Du bist der merkwürdigste Junge, dem ich je
begegnet bin – und glaub mir, die waren alle merkwürdig, also will
das schon was heißen.« Sobald mir klar wurde, was ich da gerade
gesagt hatte, hätte ich mich am liebsten geohrfeigt. Ich redete mal
wieder, ohne nachzudenken, statt einfach schleunigst das Weite zu
suchen.
Er lachte. »Wenigstens bist du ehrlich.«
»Manche halten das für eine Tugend.« Ich drehte
mich um. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. »Tu mir einen Gefallen
und lass mich in Ruhe. Am Ende bist du ein Serienmörder und fällst
gleich über mich her.« Ich schaute mich um in der Hoffnung, einer
der Nachbarn würde das Verandalicht einschalten und mit einem
Gewehr auf ihn zielen. Aber so ein Glück hatte ich nicht.
»Hast du Angst vor mir?«, fragte Will und
bemühte sich, mit mir Schritt zu halten.
»Vielleicht hast du ja eine aggressive Störung,
und deine Gegenwart sollte mich beängstigen
und nicht nur nervös machen.« Nur noch vier Häuser und ich hätte es
geschafft.
»Nein, aber hast du noch nie das Sprichwort
gehört: Der Tapfere lebt nicht ewig, aber der Furchtsame hat nie
gelebt?«
»Nein, das kenne ich nicht. Aber ich werd es
mir merken. Vielen Dank für die sprichwörtliche Belehrung, mein
lieber Stalker.«
Er hielt mir den Arm vor die Brust, um mich
aufzuhalten, und starrte gebannt in die Dunkelheit. Sein Körper
zitterte, aber irgendetwas sagte mir, dass es nicht an der kühlen
Nachtluft lag.
Ich folgte seinem Blick, konnte jedoch auf der
Straße vor uns nichts entdecken. Ein paar bereits abgefallene
Blätter wurden von einer Windböe aufgewirbelt. Plötzlich kam mir
ein seltsamer Geruch in die Nase, wie nach faulen Eiern und
schwarzem Rauch. »Riechst du das? Was ist denn das?«
Er trat auf meine andere Seite, um sich
zwischen mir und dem, was auch immer er anstarrte, zu postieren.
»Du kannst den Limbus noch nicht sehen.«
»Was kann ich nicht sehen? Den Nimbus?« Ich
spähte über
seine Schulter. Zuerst dachte ich, da wäre ein Schatten
vorbeigehuscht, aber als ich blinzelte, war nichts mehr zu sehen.
Es war zu dunkel.
Wills Blick fixierte einen Punkt in der
schwarzen Dunkelheit. »Es ist noch nicht so weit! Bleib, wo du
bist. Es ist mir egal, dass es schon nach Mitternacht ist – sie
darf noch nicht angegriffen werden, es sei denn, du bist bereit,
die Folgen zu tragen.«
Ganz offensichtlich redete er nicht mit mir.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich bis auf seinen Namen absolut
nichts über ihn wusste. Er hätte irgendein Junkie sein können. Bis
auf Gras und Alkohol hatte ich noch keine Drogen kennengelernt,
nicht einmal Pilze, und härtere Sachen schon gar nicht, also hatte
ich keine Ahnung, womit ich zu rechnen hatte. Mein Körper krampfte
sich vor Angst zusammen. »Was hast du denn genommen? Mir reicht’s
langsam. Ich geh jetzt.«
Ich rannte los zu unserem Haus.
»Nein, warte«, sagte Will.
Da war das Brummen wieder, nur ein wenig lauter
als zuvor. Das war kein Automotor. War es ein Knurren? War da ein
Hund – ein großer Hund – irgendwo in der
Dunkelheit? Die panische Vorstellung, ein tollwütiger Hund könnte
mich angreifen, raste durch meinen Kopf. Wenn der Hund so nah war,
dass ich ihn hörte, müsste ich ihn auch sehen können. Schließlich
war es nicht stockfinster.
Ein weiteres Knurren ertönte, dann folgten
schwere Schritte – wie die Schritte des Tyrannosaurus Rex, die in
Jurassic Park den Pudding erzittern
lassen.
»Was ist das?«, fragte ich zitternd und blickte
suchend in die Dunkelheit. Mir war, als würden meine Albträume
Wirklichkeit. In meinem Kopf drehte sich alles, und die Furcht ließ
meinen Magen rebellieren.
Ohne dass ich wusste woher, blies mir plötzlich
heißer, nach Verwesung stinkender Atem ins Gesicht, und ich
wirbelte würgend herum. »Oh, mein Gott!«, stöhnte ich und presste
die Hände auf den Mund.
»Komm her«, sagte Will langsam und streckte mir
die Hand entgegen, ohne einen Schritt auf mich zuzugehen. Die
Besorgnis,
die ihm zuvor schon im Gesicht gestanden hatte, war noch
deutlicher. Jetzt sah ich Furcht, und das machte mir noch mehr
Angst.
»Niemals!«, rief ich und versuchte mich von ihm
loszureißen.
Seine Furcht wandelte sich in Zorn über meinen
Fluchtversuch. »Hör auf zu schreien. Dadurch bringst du ihn dazu
anzugreifen.«
Panik überkam mich. »Lass mich los!«, schrie
ich und wollte wegrennen, aber Will packte meinen Arm. Ich wollte
mich befreien und zerrte mit aller Kraft, aber sein Griff war
eisern. Es war, als versuchte ich, einen Zwanzigtonner wegzuziehen;
obwohl ich all meine Kräfte aufbot, rührte er sich keinen
Millimeter von der Stelle. Wie konnte jemand nur so stark sein? Ich
riss an seinen Fingern, aber sie waren wie Schraubstöcke.
»Zeit, das Spiel zu beenden«, sagte er, und
seine Worte jagten mir eisige Schauer den Rücken herunter. Mühelos
zog er mich an seine Brust und presste mir seine Hand auf die
Stirn.
Grelles Licht blitzte auf und blendete mich.
Mein Schädel fühlte sich an, als würde er unter dem Druck
explodieren. Die Erde schien unter meinen Füßen zu beben und zu
schwanken, aus allen Richtungen peitschten heftige Sturmböen auf
mich ein. Meine Knie schwankten und gaben unter mir nach, aber Will
hielt mich, damit ich nicht zu Boden stürzte. Genauso plötzlich,
wie es erschienen war, verschwand das grelle Licht wieder, als er
die Hand von meiner Stirn nahm. Ich taumelte zurück und landete auf
meinem Steißbein, mein Blick war verschwommen – aber ich hätte
schwören können, dass sich über mir ein gewaltiges, schattenhaftes
Flügelpaar ausbreitete. Ich blinzelte und nahm nur Wills
verschwommene Gestalt wahr, wo ich zuvor die Flügel gesehen hatte.
Jeder Muskel meines Körpers schmerzte, als hätte ich einen
anstrengenden Lauf hinter mir, doch gleichzeitig war ich voller
Energie. Ein Rauschen erfüllte Luft und Erde, und jeder
Quadratzentimeter meines Körpers prickelte wie elektrisiert, als
würde ich rasend schnell durch die Gegend geschleudert werden,
obwohl ich mich in Wahrheit keinen Zentimeter von der Stelle bewegt
hatte. Die
Luft um mich herum schien mit einem Mal klebrig und voller Rauch.
Ich zwinkerte mit den Augen, um klarer sehen zu können. Eine
Nanosekunde später löste der Dunstschleier sich auf, und ich
starrte verwirrt auf das Pflaster und rieb mir die Stirn.
»Ellie!«
Mein Blick klärte sich, und ich nahm Will
plötzlich wieder wahr. Mein Sehvermögen war geschärft, und die Welt
schien heller. Ich sah an Will vorbei und wunderte mich darüber,
wie deutlich ich in der Dunkelheit jedes Blatt an den Büschen und
jede Rille in den Dachziegeln der Nachbarhäuser erkennen
konnte.
Und dann erblickte ich das Ungeheuer. Es
erinnerte vage an einen riesigen Hund mit dichtem, schwarzem Fell
und hatte eine Schulterhöhe von einem Meter fünfzig. Es kam auf
allen vieren auf uns zugetrampelt, mit einer Schnauze voller
spitzer, todbringender Zähne im ausladenden Kiefer seines
gewaltigen Kopfes. Seine Pfoten waren so groß wie Elefantenfüße,
und seine gewaltigen Klauen sahen aus, als könnten sie einen
ausgewachsenen Mann in Stücke reißen.
Dennoch hatte ich keine Angst. Ein Gefühl der
Ruhe erfüllte mich, und mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren.
Seltsame Erinnerungen und fremdartige Gedanken machten sich in
meinen Kopf breit: längst vergessene Gesichter und Gewalttaten,
deren Zeugin ich zu unterschiedlichen Zeiten geworden war. Ich sah
zu Will auf, dessen Gesicht die klarste und liebevollste Erinnerung
wachrief. Ich wusste, dass ich jetzt kämpfen musste, aber dazu
brauchte ich meine Waffen.
Die Bestie kam mit ausgestreckten Klauen auf
mich zugesprungen und holte zum Schlag aus, doch Will schob sich
dazwischen. Er packte sie am Vorderbein, trat ihr mit voller Wucht
gegen die Brust und schleuderte sie gegen den Briefkasten der
Nachbarn, der in unzählige Holz- und Ziegelsplitter zerbarst.
Es passierte so schnell, dass ich normalerweise
nicht in der Lage gewesen wäre, es zu sehen, aber ich nahm alle
Einzelheiten wahr. Ich trat einen Schritt vor und sah, wie das
Ungeheuer sich aufrappelte und ein tiefes, bedrohliches Knurren
ausstieß.
Ich streckte beide Arme aus und beschwor Waffen
in meine offenen Handflächen. Die Khopesh-Zwillingsschwerter
erschienen aus dem Nichts mit einem Blitz aus schimmerndem Licht.
Die geschwungenen Klingen funkelten hell. Ich blickte zu Will und
sah nun die kunstvollen schwarzen Tattoos, die sich aus den Ärmeln
seines Shirts den rechten Arm hinunter und bis zu den
Fingerknöcheln schlängelten. Ich erinnerte mich an die magischen
Symbole, die in das spiralenartige Muster eingewoben waren, weil
ich sie schon einmal mit anderen Augen gesehen hatte, in einer
anderen Zeit.
Mein Geist war ruhig und enervierend klar. Die
Klingen explodierten auf meinen Befehl hin zu weißen Flammen.
Gleißendes Licht verschlang das Silber, und die Macht durchströmte
mich. Meine Finger umklammerten die kühlen, vertrauten Griffe,
während der Geruch nach Silber und altem Blut meine geschärften
Sinne erfüllte. Die Schwerter fühlten sich in meinen Händen
vertraut und richtig an, als würden sie einen alten Freund
umarmen.
Das Biest begann, mich zu umkreisen, wobei es
bedrohlich knurrte und ein schauerliches Zischen ausstieß. Die
Augen wirkten wie unendlich schwarze Höhlen, die sich tief in
seinen deformierten, grauenvollen Schädel bohrten. Ohne Angst oder
Zögern starrte ich in sie hinein.
Ich folgte den Bewegungen des Monsters, sodass
ich es nie im Rücken hatte, und mit einer Stimme, die nicht zu mir
zu gehören schien, forderte ich es heraus: »Na los, komm
schon!«
Das wolfsartige Wesen stürzte sich auf mich,
mit ausgestreckten Pranken und Klauen und aufgerissenem Maul. Ich
warf mich zur Seite, sodass seine Zähne nur meine Sweatshirt-Kapuze
zu fassen kriegten und nicht meinen Hals. Das Untier zerrte an dem
Baumwollstoff herum und schleuderte mich knurrend hin und her.
Seine Klauen krallten sich um meinen Körper und zogen mich näher an
sein Maul, um mir ins Gesicht beißen zu können. Ich rammte ihm den
Ellbogen in die Nase, und es taumelte zurück und sackte stöhnend zu
Boden. Dann ging mein Ellbogen auf seinen Schädel nieder, und etwas
zerbarst, aber das Untier attackierte meine Kapuze nur noch
heftiger und riss den Stoff in Fetzen. Abrupt schleuderte es mich
zu Boden, aber als ich aufblickte, hatte Will es schon um den Hals
gepackt und hielt es zurück, den Arm ellbogentief in sein dichtes
Fell vergraben.
»Jetzt!«, brüllte er.
Wie ein gigantischer Pitbullterrier warf es
sich herum und befreite sich.
Meine Augen fixierten mein Ziel, und mein Geist
war klar genug, um die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen.
Schneller als mein Herzschlag war ich auf den Beinen und stieß ihm
mein flammendes Schwert von unten in die weiche Kehle durch die
Schädeldecke. Die Beine des Ungeheuers gaben nach, und sein Fell
bekam einen seltsamen Schimmer, bevor es in Flammen aufging. Es
ging alles sehr schnell. Das Feuer verschlang den Reaper,
verschluckte ihn in weißem Licht, fraß ihn auf, bis am Ende auch
sein Kopf verschwunden war und nichts zurückblieb als Asche, die
langsam zu Boden fiel, und eine leere Stelle, wo gerade noch das
Ungeheuer gewesen war.
Dann schlossen sich die Schatten um mich
herum.