Wenn Sie EVERMORE lieben,
dann müssen Sie auch den neuen Roman
von COURTNEY ALLISON MOULTON
lesen:

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Sie ist stark. Sie ist kämpferisch.
Nur sie kann die Welt retten.

Zuerst kamen die Albträume. Jede Nacht wurde Ellie von ihnen heimgesucht. Schreckliche Wesen verfolgen und töten sie dann. Aber sind es tatsächlich Träume – oder nicht doch Erinnerungen? Und dann ist da dieser mysteriöse Fremde, Will. Es kommt ihr vor, als würde ihre Seele ihn wiedererkennen. Und wirklich weiß er mehr über sie als sie selbst – denn er offenbart ihr, dass sie magische Kräfte besitzt, an die sie sich nicht mehr erinnern kann. Und dass die Wesen in ihren Träumen schreckliche Realität sind, finstere Kreaturen, die es auf die Seelen der Menschen abgesehen haben. Ellie ist die Einzige, die den Kampf gegen sie aufnehmen und ihnen Einhalt gebieten kann. Doch zuerst muss sie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen, auch wenn die Erinnerungen daran fast schmerzlicher sind, als sie

ertragen kann.

 

 

ANGELFIRE – MEINE SEELE GEHÖRT DIR

von Courtney Allison Moulton

 

erscheint im Oktober 2011 im Page & Turner Verlag.

 

Mehr Informationen unter
www.pageundturner-verlag.de
und www.courtneyallisonmoulton.com

 

Auf den folgenden Seiten finden Sie
Ihre exklusive Leseprobe aus Angelfire

KAPITEL 1

Ich starrte aus dem Fenster des Klassenzimmers und träumte davon, frei zu sein, aber ich saß hier fest. Überall hätte ich sein wollen, nur nicht hier, wo ich wie alle anderen die Ausführungen meines Wirtschaftskundelehrers über mich ergehen lassen musste. Als ich ihm noch zugehört hatte, hatte er über Finanzpolitik gesprochen, und das war auch schon der Moment gewesen, in dem er mich verloren hatte. Mein Blick wanderte zu meiner besten Freundin, Kate Green, die selbstvergessen ihre Notizen mit einem kunstvollen Blumenmuster verzierte. Dann starrte ich auf die grauen Brusthaare, die wie Stahlwolle aus dem Kragen von Mr Meyers Polohemd hervorquollen, und fragte mich, ob er jemals über Enthaarung nachgedacht hatte.

Nach weiteren einschläfernden zwanzig Minuten weckte der erlösende Gong meine Lebensgeister und ließ mich erleichtert aufspringen. Kate schob ihre Arbeitsblätter in ihren Ordner und folgte mir durch den Gang zwischen den Tischen. Die anderen Zwölftklässler stürmten wie von der Tarantel gestochen zur Tür.

»Ms Monroe?«, rief Mr Meyer mir nach, als ich gerade hinausgehen wollte.

Ich drehte mich zu Kate um: »In fünf Minuten an deinem Schließfach?«

Sie nickte und folgte den anderen Schülern auf den Flur, bis ich mit unserem Lehrer allein zurückblieb. Mr Meyer schaute mich durch seine dicken Brillengläser freundlich an und winkte mich zu sich.

Ich holte tief Luft, denn ich ahnte, worüber er mit mir reden wollte. »Ja, Sir?«

Sein Lächeln war warmherzig und nett, sein grauer Bart kräuselte sich um seine schmalen Lippen. Er schob die Brille hoch. »Der Test letzte Woche ist wohl nicht so gut gelaufen? «

Ich wappnete mich. »Nein, Sir.«

Er blickte zu mir auf. »Letztes Jahr in meinem Politikkurs haben Sie anfangs sehr gut mitgearbeitet, aber in den letzten Monaten des Schuljahrs wurden Ihre Noten schlechter. Nach den Sommerferien sind sie noch weiter in den Keller gegangen. Ich möchte, dass Sie wieder besser werden, Ellie.«

»Ich weiß, Mr Meyer«, erwiderte ich zerknirscht. Tausend Entschuldigungen kamen mir in den Sinn. Ich war abgelenkt. Abgelenkt durch die College-Bewerbungen, die ständigen Streitereien meiner Eltern, die Albträume, die mich Nacht für Nacht quälten. Natürlich wollte ich mit meinem Wirtschaftskundelehrer nicht über meine Probleme reden. Sie gingen ihn nichts an. Also entschied ich mich für eine vage Antwort. »Es tut mir leid. Ich war abgelenkt. Im letzten Jahr war so viel los.«

Er stützte die Ellbogen auf seinen vollgepackten Tisch und beugte sich vor. »Ich weiß, es steht eine Menge an in der Abschlussklasse. College, Freunde, Homecoming, Jungs … Es gibt so vieles, das Sie beschäftigt. Aber Sie müssen sich auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist.«

»Ich weiß«, sagte ich schuldbewusst. »Danke.«

»Und ich spreche nicht nur von der Schule«, fuhr er fort. »Das Leben hält Prüfungen für Sie bereit, von denen Sie noch nichts ahnen. Lassen Sie nicht zu, dass die künftigen Herausforderungen das Gute, das Sie in sich tragen, verändern oder Sie vergessen lassen, wer Sie sind. Sie sind ein nettes Mädchen, Ellie. Ich hatte Sie immer gern in meinen Kursen.«

»Danke, Mr Meyer«, sagte ich mit aufrichtigem Lächeln.

Er lehnte sich zurück. »Dieser Kurs ist nicht besonders schwierig. Ich bin mir ganz sicher, wenn Sie sich ein bisschen mehr Mühe geben, werden Sie ihn bestimmt schaffen. Mein Kurs ist nichts im Vergleich zu dem, was da draußen in der realen Welt vor sich geht. Ich weiß, dass Sie das hinkriegen.«

Ich nickte, obwohl er diese kleine Ansprache sicher für jeden parat hatte, der bei einem Test mit zwanzig Fragen ein »Ausreichend« bekommen hatte, aber seine Worte klangen so ehrlich, dass ich sie ihm abkaufen wollte. »Danke, dass Sie an mich glauben.«

»Ich sage das nicht zu jedem, dessen Noten schlechter werden«, erwiderte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Ich meine es ernst. Ich glaube an Sie. Aber Sie müssen auch an sich selbst glauben, versprochen?«

Mein Lächeln wurde breiter. »Danke. Bis morgen.«

»Ich werde hier sein«, sagte er und erhob sich mühevoll von seinem Stuhl. Seit dem ersten Schultag nach den Ferien benutzte er einen Stock. »Sie haben bald Geburtstag, stimmt’s?«

Ich sah ihn erstaunt an. »Ja, woher wissen Sie das? Soll ich selbstgebackene Muffins für alle mitbringen, oder so?«

Er lachte. »Nein, nein. Es sei denn, Sie möchten es gern. Ich hätte nichts dagegen. Alles Gute zum Geburtstag, Ms Monroe.«

»Danke, Sir.« Ich winkte ihm lächelnd zu. Als ich das Klassenzimmer verließ, ging mir durch den Kopf, dass diese Ansprache ziemlich ernst gewesen war, für einen Wirtschaftskundelehrer, der sich auf seinen baldigen Ruhestand in Arizona freute.

Ich traf Kate bei ihrem Schließfach. Sie musterte mich stirnrunzelnd, als ich näher kam.

»Was hat Meyer denn gewollt?«

Ich zuckte die Achseln. »Ich soll mir mehr Mühe geben.«

Sie lächelte. »Also ich finde, du bist perfekt.«

»Danke«, sagte ich lachend. »Kommst du direkt mit zu mir? Dann können wir für den Mathe-Test am Donnerstag üben.«

Sie schüttelte den Kopf, strich ihr blondes Haar zurück und zog ihren Rucksack aus dem Schließfach. »Ich will vorher noch ins Sonnenstudio.«

»Warum das denn? Es ist September, und du siehst jetzt schon aus, als würdest du den ganzen Tag am Strand liegen.« Ich stupste gegen ihre Schulter und grinste. Ihre Haut hatte einen wunderschönen goldbraunen Farbton, aber ich ärgerte sie gern damit, dass sie bald so aussehen würde wie all die anderen Barbie-Püppchen der Schule, wenn sie so weitermachte.

»Ich will diesen Winter auf keinen Fall so käseweiß werden wie du!« Kate war sehr hübsch, und selbst wenn sie ein finsteres Gesicht machte, sah sie fantastisch aus. Sie war fast einen Kopf größer als ich, aber das war kein Kunststück. Ich war ein gutes Stück kleiner als die meisten anderen Mädchen in meinem Alter.

»Ich bin nicht käseweiß«, sagte ich und warf einen verstohlenen Blick auf meinen Arm. So blass war ich nun wirklich nicht.

»Diesen umwerfenden Hautton bekommt man nicht einfach so, verstehst du?« Selbstverliebt strich sie über ihre Schulter und lachte.

Ich streckte ihr die Zunge raus und öffnete mein Schließfach. Ich warf mein Biobuch hinein und stopfte meine Literatursachen in die Tasche. Mein Referat über Hamlet musste bis nächste Woche fertig sein, ich sollte allmählich mal damit anfangen. Etwas rumste gegen die Schließfachtür neben mir, und ich schaute auf.

Landon Brooks hatte sich an die Schließfächer gelehnt und fuhr sich durch sein goldblondes Haar mit den professionell gesetzten hellen Strähnchen darin. Er war einer von den Jungs, die den angesagten Surfer-Look für unabdingbar hielten, obwohl es hier in Michigan weit und breit keine Möglichkeit zum Surfen gab. Fast die gesamte Fußballmannschaft kopierte seinen Look. Landon war der beste Stürmer der Schule, kein Wunder, dass er für alle eine Art Trendsetter war. »Und was ist jetzt mit der Party am Samstag? Läuft noch alles wie geplant? «

Am Donnerstag wurde ich siebzehn und wollte Samstagabend eine Party feiern. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte die ganze Schule davon Wind bekommen, und nun gingen alle davon aus, dass es das Event werden würde. Ich war jetzt nicht gerade wer weiß wie beliebt oder bekannt für meine tollen Partys, aber an meiner Schule sorgte fast jede Party für Aufregung. Aber das war wohl ganz normal für eine Highschool in einem Vorort von Detroit wie Bloomfield Hills.

»Ja, ja«, sagte ich lahm. »Es dürfen bloß nicht zu viele werden. Meine Eltern bringen mich um, wenn plötzlich hundert Leute bei uns auflaufen.«

»Zu spät«, sagte Kate. »Es ist die erste Party im Abschlussjahr, ist doch klar, dass da alle angerannt kommen. Außerdem ist nächstes Wochenende Homecoming, da brauchen wir eine gute Party zum Aufwärmen. Die Massen werden schon ganz unruhig. Und eine Außenseiterin bist du auch nicht. Die Leute mögen dich.«

»Und dann hast du ja auch noch Josie eingeladen, schon vergessen?«, sagte Landon.

Stimmt. Josie Newport. Unsere Mütter waren alte Highschool-Freundinnen und trafen sich auch heute noch ab und zu. Josie und ich hatten als Kinder viel miteinander gespielt, aber das war lange her. Sie war sehr beliebt in der Schule, aber abgesehen von den Verabredungen unserer Mütter hatten wir kaum etwas miteinander zu tun. Ich hatte sie zu meiner Party eingeladen, als wir uns vor einigen Wochen beim Friseur getroffen hatten. Das Vorurteil, dass alle beliebten, gut aussehenden Mädchen miese Zicken seien, hab ich noch nie verstanden. Josie war jedenfalls nett. Vielleicht ein bisschen naiv, aber sie würde niemals jemanden mit Absicht verletzen. Allerdings musste ich zugeben, dass sie ein paar Freundinnen hatte, über die ich das nicht hätte sagen können.

»Und Josie hat immer ihr Gefolge im Schlepptau, egal wo sie hingeht«, fügte Kate hinzu. »Und dazu gehört die halbe Schule, Ell.«

Ich schnitt eine weitere Grimasse und schloss mein Fach ab. »Ich klär das.« Aber in Wahrheit würde ich gar nichts tun. Ich konnte doch schlecht zu Josie Newport gehen und ihr sagen: »Ach, übrigens, als ich dich eingeladen habe, habe ich nur dich gemeint und vielleicht noch ein oder zwei Freundinnen. Nicht alle und jeden.«

»Vielleicht denkt sie, sie tut dir einen Gefallen?«, mutmaßte Landon. »Damit du beliebter wirst, oder so?«

Das klang natürlich cool, aber ich hielt es für ziemlich unwahrscheinlich. Josie würde mir keinen Gefallen tun. Falls die Party nicht so toll wäre, würde sie mit ihrem Gefolge einfach woandershin ziehen. Sie würden ihre eigene Party machen. Wenn meine blöd war, würde Josie ganz einfach eine neue starten. Genug Leute dafür hätte sie.

»Also dann. Ich muss los«, sagte ich und war froh, das Gespräch beenden und nach Hause gehen zu können, auch wenn’s ’s nur zum Lernen war.

»Okay, wir sehen uns in einer Stunde«, sagte Kate.

»Adios, Ladys«, sagte Landon und verbeugte sich zum Spaß vor uns. »Könnt ihr nicht für mich mit lernen, damit ich’s nicht tun muss?«

Kate hielt sarkastisch lächelnd die Daumen hoch und verschwand in Richtung Schülerparkplatz. Seit ihrem sechzehnten Geburtstag hatte sie den Führerschein und einen eigenen Wagen, wie die meisten anderen Teenager, die ich kannte. Den Führerschein hatte ich auch schon in der Tasche, aber noch kein Auto. Kates Daddy hatte ihr einen roten BMW zum Geburtstag geschenkt. In meinen Augen war es ein absolutes Wunder, dass sie ihn noch nicht zu Schrott gefahren hatte. Sie fuhr wie eine Blinde auf Crack.

Ich winkte Landon zum Abschied zu, zog mein langes, dunkelrotes Haar unter dem Rucksackriemen hervor und machte mich auf den Weg zum Haupteingang, wo meine Mom auf mich wartete.

Als ich die Rasenfläche vor der Schule überquerte, erblickte ich einen Jungen, den ich noch nie gesehen hatte. Er hatte sich an einen Baum gelehnt und trug ein braunes T-Shirt und Jeans. Sein Haar, das leicht im Wind wehte, sah schwarz aus, doch das Sonnenlicht brachte einen rötlichen Schimmer zum Vorschein. Er wirkte ein wenig zu alt, um noch auf die Highschool zu gehen, war vielleicht zwanzig oder einundzwanzig. Er sah irgendwie vertraut aus, und ich spürte eine gewisse Sympathie tief in meinem Herzen, schüttelte das Gefühl jedoch schnell wieder ab. Ich wusste ja gar nicht, wer er war. Vielleicht hatte er vor ein, zwei Jahren seinen Abschluss gemacht, und ich war ihm einige Male auf dem Flur begegnet? Meine Schule war ziemlich groß, und ich konnte unmöglich jeden kennen, der sie besucht hatte. Ich beobachtete ihn noch ein paar Sekunden lang, bis ich merkte, dass er mich ebenfalls ansah. Mein Gesicht wurde feuerrot, und ich richtete meinen Blick schnell auf die Auffahrt zur Schule, wo die Autos der Eltern warteten. Es war seltsam, dass er hier herumhing, aber vielleicht wartete er ja auf einen jüngeren Bruder.

Der Mercedes meiner Mom war kaum von den anderen silbergrauen Mercedesmodellen, die sich vor der Schule aneinandergereiht hatten, zu unterscheiden. Ich brauchte eine Weile, bis ich meine Mutter hinter einer der Windschutzscheiben ausgemacht hatte. Sie und mein Dad sahen mir so wenig ähnlich, dass ich mich manchmal fragte, ob ich adoptiert war. Moms Haar war dunkelblond – ganz anders als mein satter Rotton. Viele glaubten, ich hätte mir die Haare gefärbt, als wären sie knallrosa oder hätten irgendeine andere unnatürliche Farbe. Nein, die sind so. Außerdem hatte sie auch keine Sommersprossen. Viele Leute denken, dass alle Rothaarigen jede Menge Sommersprossen haben. Das stimmt aber nicht. Ich habe nur sechs Stück auf der Nase. Man kann sie leicht nachzählen. Es sind genau sechs.

Ich stieg ein, und wir begannen unser typisches Nach-der-Schule-Gespräch.

»Wie war dein Tag, Ellie Bean?«, fragte meine Mom, wie jedes Mal.

»Hat mich nicht umgebracht«, antwortete ich wie immer.

»Das freut mich zu hören«, lautete ihre Standardantwort.

Ich blickte durchs Seitenfenster zu dem Baum, wo ich den Jungen gesehen hatte, aber er war fort. Auch auf dem Rasen konnte ich ihn nirgends entdecken.

»Suchst du jemanden?«, fragte meine Mom, als sie losfuhr.

»Nein, schon gut«, murmelte ich geistesabwesend.

Meine Mutter beschimpfte den Fahrer vor uns, der trotz grüner Ampel nicht weiterfuhr. Ihr Ärger war schnell verflogen, und sie lächelte mir zu. »Ich bin so froh – nur noch ein paar Tage, dann muss ich dich nie mehr von der Schule abholen!«

»Schön für dich!«

Mom arbeitete als Webdesignerin von zu Hause aus und hatte mich immer zur Schule bringen und abholen können, sodass ich nie zur Nachmittagsbetreuung musste. Mein Dad war dagegen fast nie da. Er arbeitete in der medizinischen Forschung, und es gab viele Abende, an denen ich zu Bett ging, ohne ihn gesehen zu haben. Zuweilen bekam ich ihn eine ganze Woche lang nicht zu Gesicht. In letzter Zeit war ich deswegen nicht sonderlich traurig.

»Du hast mir noch immer nicht gesagt, was du dir zum Geburtstag wünschst«, sagte meine Mom.

»Einen Lambo.«

Sie lachte. »Ja klar. Wir verkaufen einfach unser Haus, damit wir dir einen Lamborghini zum Geburtstag schenken können.«

Mittlerweile hatten wir die Zufahrtsstraße zur Schule verlassen und befanden uns auf dem Weg nach Hause.

»Also, was wünschst du dir wirklich? Wir haben ja schon von einem Auto gesprochen, und dein Dad hat ja gesagt.«

»Ich weiß nicht recht.«

»Überlass die Entscheidung nicht mir«, warnte meine Mom. »Ich kauf dir ein Moped, mit dem du zur Schule fahren kannst.«

»Ja, sicher!« Ich verdrehte die Augen. »Ich weiß nicht, kauft mir einfach ein schickes, sicheres Teil mit einem MP3-Adapter. Damit komm ich dann schon klar!«

 

Ich erwachte von der Musik, die auf mein linkes Trommelfell eindröhnte. Ich tastete nach meinem Handy und drückte den Anruf ohne zu gucken weg. Wenige Sekunden später klingelte es erneut. Ich öffnete ein Auge, um auf die Uhr zu sehen. Es war Viertel vor sechs. Mit einem leisen Fluch zog ich das Handy vom Nachttisch und schaute auf den Namen des Anrufers. Es war Kate.

Ich rieb mir die Stirn, um die Benommenheit zu verscheuchen, die mich nach meinem Albtraum am klaren Denken hinderte. In den vergangenen Monaten wurde ich von seltsamen Träumen gequält, die mich an den Dracula-Film mit Gary Oldman erinnerten. Gruseliges Zeug. In den ersten Wochen hatten sie mich schlecht schlafen lassen, aber nach und nach hatte ich mich daran gewöhnt, und jetzt machten sie mir nicht mehr so viel aus. Bis vor einem Monat war ich noch jede Nacht schreiend aufgewacht.

Zu faul, mir das Telefon ans Ohr zu halten, drückte ich auf Lautsprecher und knallte es zurück auf das Nachtschränkchen. »Bist du nicht ganz dicht? Mein Wecker hat noch nicht mal geklingelt.«

»Mein Gott, Ellie, mach den Fernseher an.« Kates Stimme war leise und entsetzt. »Mr Meyer. Auf Kanal vier.«

Ich griff nach der Fernbedienung und zappte wie befohlen auf Kanal vier. Wie vom Blitz getroffen fuhr ich hoch.

»Er ist tot, Ellie«, flüsterte Kate. »Sie haben ihn gefunden. Hinter Lane’s Pub.«

Meine Augen waren auf das Chaos gerichtet, das sich live auf dem Bildschirm abspielte.

»… das fehlende Blut am Fundort der Leiche ist für die Ermittler ein Hinweis, dass Frank Meyer möglicherweise an einem anderen Ort getötet und hier hinter Lane’s Pub abgelegt wurde, zusammen mit der mutmaßlichen Tatwaffe, einem außergewöhnlich langen Jagdmesser mit Aufbruchhaken. Über den Grund kann zu diesem Zeitpunkt nur spekuliert werden, da die Polizei nur sehr wenige Details dieser grausamen Tat bekannt gegeben hat. Für diejenigen, die jetzt erst eingeschaltet haben, hier ist Debra Michaels vom Fundort der schwer verstümmelten Leiche eines der beliebtesten Pädagogen unserer Gemeinde, Frank Meyer von der West-Bloomfield-Highschool, der heute früh …« Mir war speiübel. Der vertraute Ort hinter der Reporterin wimmelte von Polizisten, Feuerwehrleuten und Sanitätern. Ausgerechnet Mr Meyer? Er war einer der nettesten Lehrer, die ich jemals hatte. Weniger als vierundzwanzig Stunden zuvor hatte ich noch mit ihm gesprochen. Wie konnte er jetzt tot sein? Ermordet? Und schwer verstümmelt?

»Glaubst du, die Schule fällt aus?«, fragte Kate am anderen Ende der Leitung.

Ich hatte ganz vergessen, dass sie am Telefon war. »Lass mich mit meiner Mom sprechen. Wir treffen uns dann bei mir.« Ich beendete das Gespräch.

Eine Stunde später saß ich an der Theke unserer Kochinsel und starrte auf einen unberührten Teller mit Pfannkuchen. Mom machte eigentlich nur Pfannkuchen, wenn ich krank war oder einen schlechten Tag hatte oder an Feiertagen wie Weihnachten. Dies war anscheinend ein Tag, an dem Pfannkuchen gerechtfertigt waren, aber ich brachte es nicht über mich, auch nur einen Bissen davon zu essen. Von dem Geruch nach Fett und Eiern wurde mir übel.

Mom trat hinter mich und legte den Arm um meine Schulter. »Du musst was essen, Schatz. Bitte! Wenn du ein bisschen was im Magen hast, fühlst du dich gleich besser.«

»Es würde eh nicht unten bleiben«, murmelte ich trübsinnig.

»Ein Bissen«, befahl sie. »Dann wär meine Kocherei nicht ganz umsonst gewesen.«

Grimmig spießte ich einen Happen auf meine Gabel, doch auf dem Weg zum Mund landete er auf meinem Schoß. Ich stöhnte und legte den Kopf auf die Theke.

Mom runzelte die Stirn. »Du solltest eigentlich schlauer sein als die Pfannkuchen, Ellie.«

Ich warf ihr einen finsteren Blick zu. Eigentlich wussten Teenager doch immer alles besser als ihre Eltern und nicht umgekehrt.

Sie ignorierte meinen vorwurfsvollen Blick und reichte mir ein Küchentuch, mit dem ich mir die Schlafanzughose abwischte. »Also, ich habe endlich jemanden in der Schule erreicht. Da sind heute Morgen die Telefone heiß gelaufen, deshalb war ständig besetzt. Wahrscheinlich haben alle Eltern versucht anzurufen. Heute findet jedenfalls kein Unterricht statt, aber ich vermute, morgen geht es wieder weiter. Ich weiß, du mochtest Mr Meyer wirklich gern, und die stellvertretende Schulleiterin hat gesagt, dass Therapeuten zur Verfügung stehen, falls du also jemanden zum Reden brauchst …«

»Ich komm schon klar«, sagte ich. »Ich dreh nicht durch oder so. Mir geht’s nur nicht so gut, das ist alles.« Mom hatte immer alles im Griff und für alles einen Plan.

Sie musterte mich liebevoll. »Du bist mein kleines Wunder. Ich will, dass es dir gut geht.«

Ich verdrehte die Augen. »Das sagst du immer.«

»Ich mach mir Sorgen wegen deiner Albträume«, sagte sie traurig.

»Ich hab kaum noch welche«, log ich. Ich wollte nicht, dass sie sich noch mehr um mich sorgte, als sie es ohnehin schon tat. Ich hatte immer noch fast jede Nacht Albträume, und ich musste lernen, damit umzugehen, da die Medikamente, die der Arzt mir dagegen verordnet hatte, nichts bewirkten.

»Und wenn sie nach dieser Tragödie wieder schlimmer werden? Ich kann nächste Woche wieder einen Termin bei Dr. Niles machen.«

»Lass gut sein, Mom«, sagte ich abwehrend. Ich hasste es, wenn sie den Psychodoktor ins Spiel brachte, zu dem sie mich seit drei Monaten schickten. Der Typ erzählte mir nur einen Haufen Blödsinn, den ich sowieso schon wusste, und verschrieb mir Tabletten, die nicht halfen. Natürlich glaubten sie jetzt alle, ich wäre wieder gesund. Was sie nicht wussten, konnte sie nicht beunruhigen.

»Ich wollte dich nicht ärgern, Ellie Bean.«

Ich atmete aus, lockerte meine angespannten Gesichtszüge und sah sie wieder an. »Ich weiß. Du musst mir einfach glauben, wenn ich sage, dass ich schon klarkomme.«

Sie hielt einen Moment inne, bevor sie antwortete. »Ich sag deinem Vater, dass er sich noch von dir verabschieden soll, bevor er losfährt.« Damit verließ Mom die Küche.

Ich nahm mein Handy und fragte Kate per SMS, wo sie war. Wenige Sekunden später erhielt ich ihre Antwort: »Binn göicx da!« Ich bereute sofort, Kate eine SMS geschickt zu haben, während sie am Steuer saß. Warum, war offensichtlich.

Ich stocherte noch ein bisschen in meinem Frühstück herum, dann kam mein Dad in die Küche und knöpfte sein Jackett zu. Ich schaute zu ihm auf und lächelte ihm kurz zu. Im Vorbeigehen strich er mir unbeholfen übers Haar.

»Das mit deinem Lehrer tut mir leid«, sagte er. Sein Gesichtsausdruck wirkte traurig, aber sein Blick passte nicht dazu. Seine Augen waren ruhig und teilnahmslos, seine Gedanken woanders.

Er meinte es bestimmt ernst, aber er wusste nie, wie er so etwas zeigen sollte. Es kam mir immer vor, als hätte er gelernt, jemanden zu trösten, indem er andere nachahmte – als hätte er es im Fernsehen gesehen. Es wirkte nie natürlich, nie, als käme es von Herzen.

»Danke, Dad«, sagte ich ernst. »Kate müsste bald hier sein.«

»Ah«, mehr brachte er nicht heraus.

»Ich glaub nicht, dass wir was Besonderes machen«, sagte ich.

»Na gut. Wir sehen uns.«

»Bis später.« Eigentlich hätte er sagen sollen, wie sehr er hoffte, dass mit mir alles in Ordnung wäre und dass er mich lieb hatte, aber es hätte mich zu Tode erschreckt, hätte ich ihn dieser Tage so etwas sagen hören. Ich schaute ihm nach, wie er zur Garage ging, und hörte, wie er den Motor anließ und davonfuhr.

Ohne zu läuten, schlüpfte Kate ins Haus. Schweigend setzte sie sich neben mich, griff nach meiner Gabel und nahm einen Bissen von meinen Pfannkuchen.

»Ich kann gar nicht glauben, dass Mr Meyer tot ist«, sagte sie mit vollem Mund.

Der Gedanke, dass ich sein gütiges, lächelndes Gesicht nie wieder im Klassenzimmer sehen würde, machte mich wirklich traurig. »Ich kann auch nicht glauben, dass er tot ist. Haben sie in den Nachrichten noch mehr darüber gesagt?«

»Nein, nur, dass er ›schwer verstümmelt‹ wurde. Keine Ahnung, was sie damit meinen. Könnte alles Mögliche bedeuten. Wahrscheinlich war es ein Psychopath. Schließlich sind wir ganz in der Nähe von Detroit.«

Ich aß ein Stück Pfannkuchen, von dem mir augenblicklich übel wurde. »Ich glaube, ich leg mich noch ein bisschen schlafen. Willst du mitkommen?«

»Das ist der beste Vorschlag, seit Landons und Chris’ Idee, ein Zebra aus dem Zoo zu entführen und es auf unserer Abschlussfeier freizulassen«, sagte sie. »Glaubst du, sie ziehen das wirklich durch?«

»Kann ich mir nicht vorstellen.«

KAPITEL 2

Ich strich mit den Fingern über die Krallenspuren auf der Stahltür, jede so breit wie meine Handfläche, als ich das Gebrüll hörte, das aus dem Inneren der riesigen Textilfabrik ertönte. Das wütende Heulen ließ den staubigen Fußboden unter meinen Schuhen erzittern und kündete von der Anwesenheit des seelenraubenden Reapers in der Tiefe. Aus dem Nichts beschwor ich meine beiden Schwerter herauf und trat lautlos durch die Tür in die abgedunkelte Halle. Die Luft roch nach Rauch und Schwefel, jenem unverwechselbaren Gestank, den die Dämonischen hinterlassen und der die einzige Verbindung zwischen der sterblichen Welt und dem Limbus darstellt. Der Boden war bedeckt mit vergilbtem Papier, und von den Fabrikfenstern war nichts übrig außer spitzen Scherben. Das fahle Licht der Straßenlaternen, die die dunklen Straßen säumten, fiel durch die zerschmetterten Scheiben. Unrat stapelte sich an den Wänden, von denen die Farbe in Streifen abblätterte. Ich bahnte mir den Weg durch die herumliegenden Trümmer und versuchte jedes Geräusch zu vermeiden, aber ich wusste, dass der Reaper meine Nähe fühlen konnte. Meine Lautlosigkeit konnte die Energie, die von mir ausströmte, nicht verbergen. Nichts konnte sie tarnen, und der Reaper hungerte nach mir.

Ich trat in den Limbus ein, durchdrang den rauchigen Schleier und gelangte in jene Welt, die die meisten Menschen nicht wahrnehmen können. Dies war das Reich der Reaper. Die Überreste der Sphäre der Sterblichen rissen an meinen Armen und Kleidern wie boshafte Fangarme. Ein vorbeifahrender Polizeiwagen erleuchtete das Erdgeschoss der Fabrik wie ein blutrotes Feuerwerk, das Heulen seiner Sirene machte mich einen Moment lang taub. Ich holte tief Luft, um die Fassung wiederzuerlangen, und schlich zur nächstgelegenen Nottreppe. Ich öffnete die Tür mit einem Fußtritt, und das laute Dröhnen des Stahls verriet meine Position. Ich hielt die mit Leder umwickelten Griffe meiner sichelförmigen Khopesh-Schwerter fest umklammert und spähte über den Rand der stählernen Brüstung hinab ins Untergeschoss.

Eine wuchtige Gestalt raste unten vorüber. Das erneute Brüllen des Seelenjägers ließ die Treppe erbeben.

Eilig machte ich mich auf den Weg nach unten, hastete die stählerne Wendeltreppe hinab, wild entschlossen, ihn nicht entkommen zu lassen. Meine Schritte waren leicht und berührten kaum den Boden. Als nur noch ein Stockwerk zwischen mir und dem Kellergeschoss lag, schwang ich mich über das Geländer und landete sicher und sanft mit federnden Knien auf dem Betonboden. Ich trat gegen die Stiegentür, die sofort nachgab, und spähte vorsichtig in die Dunkelheit. Unsichtbare Klauen kratzten über den Beton. Er wollte mich wissen lassen, dass er hier war.

Hinter mir ertönte ein tiefes, kehliges Knurren. Ich wirbelte herum und erhaschte einen Blick auf den Reaper, aber dann zog er sich tiefer ins schwarze Dunkel zurück. Entschlossen biss ich die Zähne zusammen, Engelsfeuer brach aus meinen Schwertern hervor und machte sie bereit für den Kampf. Die Flammen waren das Einzige, das einen Reaper wirklich töten konnte, und nur ich hatte Macht über sie. Sie erfüllten das höhlenartige Kellergewölbe mit gelblich orangefarbenem Licht, aber der Reaper wich dem glühenden Schimmer aus und hielt sich im Schatten.

Er spielte mit mir, lockte mich. Ich hielt die Schwerter bereit und folgte ihm.

Plötzlich umgab mich die Kraft des Reapers, schlug mir entgegen wie eine erstickende Rauchwolke, schwer, tintenschwarz, gnadenlos und ohne Vorwarnung. Ich schlug mit beiden Schwertern um mich. Der Feuerschein erleuchtete seinen monumentalen, bärenartigen Körper, der sich nun aufbäumte, die Vorderbeine ausgestreckt, mit Pranken so groß wie Suppenteller. Seine Augen waren schwarz und leer wie die eines Hais, und sein gewaltiger Unterkiefer senkte sich, um ein Gebrüll auszustoßen, so laut, als würde mir ein entgegenkommender Schnellzug direkt ins Gesicht fahren.

Ich kauerte mich zusammen, als der Reaper mit seinen messerlangen Krallen mein Gesicht streifte. Dann sprang ich auf und wich zurück. Der Reaper warf sich in meine Richtung und hatte mich mit einem halben Schritt erreicht. Wieder riss er sein Maul auf und zeigte gewaltige Zähne, die zu einem Säbelzahntiger gepasst hätten, jeder Reißzahn so lang wie mein Unterarm. Er richtete sich über mir auf und ließ die Fabrikmauern ein weiteres Mal mit seinem Gebrüll erzittern. Ich ließ mich auf die Knie fallen und schlitzte ihm Brust und Hinterbeine auf. Das Blut spritzte nur so, und er brach zusammen, richtete sich jedoch sofort wieder auf, sprang in die Luft und landete etwa zehn Meter von mir entfernt. Sein Fleisch verkohlte, wo es von den Silberklingen aufgeschlitzt und vom Feuer angesengt worden war. Er wirbelte herum und startete einen neuen Angriff.

Ich trat zurück und bereitete mich auf den Aufprall vor. Stattdessen landete der Reaper ein Stück links von mir und verschwand für einen Augenblick aus meinem Sichtfeld. Krallen schlugen sich in meinen Rücken und zerfetzten meinen Körper zu Hackfleisch. Ich schrie auf und stürzte vornüber. Zitternd ließ ich meine Schwerter fallen. Der zu erwartende Schmerz blieb jedoch aus; ich spürte nicht das Geringste.

Der Reaper war einen Augenblick lang abgelenkt von der Blutlache, die sich um meinen reglosen Körper gebildet hatte. Er hielt inne, um es zu kosten, und seinem ungeheuerlichen Maul entfuhr ein genussvolles, kehliges Grunzen, bevor er sich erneut auf mich stürzte, um sein todbringendes Werk zu vollenden.

Noch bevor ich meinen letzten Atemzug beenden konnte, starb ich.

Ich fuhr hoch und schnappte so verzweifelt nach Luft, als müsse ich noch immer um mein Leben kämpfen. Beklommen tastete ich nach meinem Rücken, und als ich glatte, unversehrte Haut fühlte, seufzte ich erleichtert auf. Meine Albträume wurden von Mal zu Mal realistischer, und ich fragte mich allmählich, ob ich nicht doch ein paar Therapiestunden brauchen könnte.

Neben mir regte sich Kate. Sie setzte sich auf und musterte mich stirnrunzelnd. »Alles in Ordnung? Hast du schlecht geträumt? «

Ich zog die Knie an die Brust und umschlang sie mit den Armen. »Ja.«

Tröstend strich sie mir übers Haar. »Sollen wir einen Film gucken?«

Ich nickte. Kate machte nie viel Aufhebens wegen meiner Albträume, behandelte mich nie wie einen Freak, und sie verstand besser als jeder andere, dass Medikamente und Therapie nicht halfen. Sie war die Einzige, die mir zuhörte, statt Diagnosen zu stellen. Ich legte mich auf die Seite und rollte mich zusammen, während Kate das DVD-Regal vor meinem Fernseher durchstöberte. Wir guckten uns drei Komödien an – darunter einen meiner Lieblingsfilme, Das darf man nur als Erwachsener, um mich daran zu erinnern, dass ich am nächsten Tag Geburtstag hatte. Von diesem Film kriegte ich immer bessere Laune. Mit lustigen Filmen und Pfannkuchen hatten wir uns schon seit der Grundschule getröstet, wenn es mal nicht so gut gelaufen war, und wahrscheinlich würden wir uns dieses liebgewonnene Ritual auch im College nicht nehmen lassen. Aber der Versuch, den heutigen Tag weniger schrecklich zu machen, war sinnlos.

»Was jetzt?«, fragte Kate und zog den DVD-Ständer näher zum Bett. »Clueless – Was sonst?«

Ich schüttelte den Kopf. Mittlerweile war es schon nach vier, und ich wurde allmählich etwas unruhig. »Ich hab keine Lust mehr auf Filme. Wollen wir nicht irgendwas machen?«

»Und was? Shoppen? Wenn wir uns nicht beeilen, sind die Herbstsachen von Gucci alle weg.«

Ich verzog das Gesicht. »Nein, ich hab keine Lust, mich zu stylen und mir was Ordentliches anzuziehen. Wir könnten doch einfach ein Eis essen.«

Kates Miene hellte sich ein wenig auf. »Hört sich gut an. Da bin ich dabei.«

Ich zog meine Jeans an und streifte eine leichte Kapuzenjacke über mein Trägertop. »Sollen wir Landon fragen, ob er auch Lust hat?«

Kate nickte und tippte seine Nummer ein. Wir sagten meiner Mom, was wir vorhatten, stiegen in Kates BMW und fuhren zu Cold Stone. Landon stand bereits mit ein paar von unseren Freunden auf dem Parkplatz: Chris, Evan und Rachel. Chris war mit Landon in der Schulmannschaft, und die beiden waren unzertrennlich, seit ich denken konnte. Sie verstummten, als Kate und ich aus dem Wagen stiegen.

»Verrückter Tag«, sagte Landon. »Wie geht’s euch beiden?«

»Ganz okay«, sagte Kate. Sie ergriff meine Hand und steuerte die Eisdiele an.

Wir gaben an der Theke unsere Bestellungen auf und setzten uns draußen an einen Tisch. Landon und die anderen kamen dazu. Ich stocherte ein bisschen in meinem Schokoeisbecher herum, bevor ich den ersten Bissen nahm. Obwohl ich den ganzen Tag kaum was gegessen hatte, war ich nicht besonders hungrig. Der Mord an Mr Meyer machte mir mehr zu schaffen, als ich erwartet hatte. Bis auf meinen Großvater hatte ich noch nie jemanden gekannt, der gestorben war. Und der war friedlich eingeschlafen. Meinem Lehrer dagegen war etwas Schreckliches zugestoßen.

Auch meine Freunde hatten kein anderes Thema als Mr Meyer.

»Ich hab gehört, dass er von einem Bären angegriffen worden ist«, sagte Evan mit vollem Mund. »Und Meyer soll versucht haben, sich mit einem Messer zu wehren.«

»In diesem Teil von Michigan gibt’s keine Bären«, merkte Rachel an.

»Vielleicht war es ein Puma«, mutmaßte Landon. »Ich kenne einen, der hat einen Ozelot.«

»Wer’s glaubt«, spottete Chris.

»Stimmt aber.«

Rachel wuschelte Evan durchs Haar. »Du weißt doch nicht mal, wie ein Ozelot aussieht.«

»War es so schrecklich?«, fragte Kate.

Chris nickte. »Ein Kumpel von mir leistet im Leichenschauhaus Sozialstunden, weil er besoffen Auto gefahren ist, und er hat gehört, dass es übel war. Als wäre er in Stücke gerissen worden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Schlägerei so ausgegangen wäre, es sei denn, die Braut, deretwegen sie sich gestritten haben, wäre heiß wie sonst was gewesen. Wenn ein Typ zwischen mich und Angelina Jolie käme, könnte ich auch für nichts garantieren.«

Es gefiel mir nicht, wie sie über Mr Meyer redeten, also versuchte ich, sie und die verstörenden Bilder in meinem Kopf auszublenden. Im Cold Stone herrschte viel Betrieb; mittlerweile war auch der Unterricht an der nahe gelegenen Grundschule beendet, und es wimmelte nur so von lärmenden, streitenden Kindern. Ich ignorierte sie, so gut es ging, da Jungs aus der fünften Klasse es gern darauf anlegten, Highschool-Mädchen zu ärgern. Ich sondierte das Gelände und nahm ihre Gesichter nur am Rande wahr, bis ich den Jungen entdeckte, den ich am Tag zuvor an der Schule gesehen hatte.

Heute trug er ein schwarzes langärmeliges T-Shirt und dunkle Jeans. Er saß keine zehn Meter entfernt allein an einem Tisch und starrte vor sich hin. Er kam mir so bekannt vor. Ich musste ihn von irgendwoher kennen. Als ich ihn ansah, blitzten kurze Schnappschüsse von seinem Gesicht, seinen Augen und seinem Lächeln in meiner Erinnerung auf. Ein vertrauter Geruch kam mir in die Nase, und ich wusste, dass er zu ihm gehörte, aber ich war nicht nah genug, um mich zu überzeugen. Die Zuneigung, die in meinem Herzen aufstieg, ängstigte und beruhigte mich zugleich. Als er merkte, dass ich ihn anstarrte, erwiderte er meinen Blick und schaute nicht weg. Ich versuchte, auch ihn auszublenden, doch dann wurde mir klar, dass ich nicht alle und jeden um mich herum ignorieren konnte, und wandte mich wieder meinen Freunden zu.

»Morgen ist bestimmt wieder Schule«, sagte Rachel.

Kate leckte einen Sahneklecks vom Löffel. »Schöner Mist.«

»Glaubt ihr, wir müssen den Wirtschaftslehre-Aufsatz von dieser Woche noch zu Ende schreiben?«, fragte Landon.

Chris zuckte die Achseln. »Warum nicht? Wir kriegen sicher einen Vertretungslehrer, bis sie Ersatz gefunden haben.«

Hastig aß ich meinen Eisbecher auf, ohne mich an der Unterhaltung zu beteiligen. Dann stand ich auf und ging zum Mülleimer hinüber, um den leeren Becher wegzuwerfen. Als ich mich umdrehte, wäre ich fast mit einer großen Gestalt zusammengestoßen und zuckte erschrocken zusammen. Als ich aufschaute, stand ich dem Jungen gegenüber, den ich am Tag zuvor gesehen hatte. Er war groß, über eins achtzig, breitschultrig – und er stand viel zu dicht vor mir. Seine Gegenwart schien mich einzuhüllen – es war jedoch kein beklemmendes Gefühl, wie ich es erwartet hätte, sondern ein friedvolles. Ich wich nicht vor ihm zurück. Seine leuchtend grünen Augen blickten zu mir herab, aber er sagte kein Wort. Um den Halsausschnitt seines Shirts waren seltsame schwarze Linien zu sehen – wahrscheinlich Tattoos. Sein dunkles Haar war vom leichten Septemberwind ein wenig zerzaust.

»Ähm, hallo«, sagte ich gedehnt, um meine Nervosität zu überspielen. »Wolltest du auch zum Mülleimer?« Sobald die Worte aus meinem Mund waren, kam ich mir vor wie ein Idiot.

»Hi«, sagte er und schenkte mir ein Lächeln, das seine feingeschnittenen Gesichtszüge verschönerte, die geschwungenen Lippen, das kleine Grübchen unter seinem linken Auge, das nur zu sehen war, wenn er lächelte – ein Lächeln, bei dem ich das Gefühl hatte, als hätte ich es schon unzählige Male gesehen. »Nein, ich wollte nichts wegwerfen.«

»Okay …« Ich machte Anstalten, zu meinen Freunden zurückzukehren.

»Erinnerst du dich an mich?«, fragte er.

Abgesehen von einem ausgeprägten Déjà-vu-Gefühl war ich mir ziemlich sicher, ihn nicht wirklich zu kennen. »Ich glaube, ich habe dich gestern bei der Schule gesehen.«

»Das ist alles?« Sein Gesicht spiegelte Enttäuschung wider.

Ja, er war wirklich sonderbar. »Ich bin mir ziemlich sicher. Suchst du jemanden?«

»Nein. Du bist doch Elisabeth Monroe, oder?«

»Ja, ich bin Ellie. Gehst du auch auf meine Schule?«

»Nein, leider nicht. Du gibst am Samstag eine Party, stimmt’s?«

Gütiger Himmel, wusste denn die ganze Welt davon? »Ja. Wie hast du davon erfahren, wenn du nicht auf meiner Schule bist?«

»Von einem Freund.« Er lächelte.

»Alles in Ordnung, Ellie?« Landon war neben uns getreten. Er wirkte verärgert, fast ein wenig feindselig. »Wer ist der Typ?« Er musterte den Jungen von oben bis unten.

Das Lächeln des Fremden verging. »Nenn mich einfach Will.«

Seine Worte lösten ein Gefühl von Vertrautheit aus, ebenso wie sein Lächeln. Mir war, als hätte ich ihn das schon einmal sagen hören.

»Quatsch sie nicht an, Mann«, sagte Landon und trat einen Schritt auf Will zu.

Ich schob ihn mit sanfter Hand zurück. »Lass gut sein, Landon. Er hat mich nicht belästigt. Ich wollte nur meinen Becher wegwerfen. Lass uns gehen. War nett, dich kennenzulernen, Will.«

Ich nickte Will zu und zog Landon hinter mir her. »Was ist bloß in dich gefahren?«, fragte ich, als wir außer Hörweite waren.

»Nichts – mach dir keine Gedanken. Er hätte dich nicht ansprechen sollen.«

»Ich dachte, du wolltest dem Typen eine reinhauen.«

»Das hätte ich auch getan, wenn er dich angefasst hätte.«

Ich blinzelte überrascht. »Hat er aber nicht.«

»Dann ist ja gut«, schnaubte er.

Ich musste mir das Lachen verkneifen. Ich war zwar seit der sechsten Klasse mit Landon befreundet, aber er war ein Junge, und Jungs waren mir manchmal ein Rätsel.

Zu meiner Überraschung schaffte es mein Dad heute tatsächlich, zum Abendessen zu Hause zu sein, aber sobald wir uns alle an den Tisch gesetzt hatten, wünschte ich mir, er wäre nicht da. Unsere gemeinsamen Mahlzeiten verliefen in letzter Zeit meist so, dass meine Eltern damit beschäftigt waren, mich zum Reden zu bringen. Aber ich brauchte kein Gespräch über Mr Meyer. Ich war nicht mehr zehn, und ich war nicht traumatisiert. Ich war nur traurig. Das war ganz natürlich und zu erwarten. Man brauchte mich deshalb nicht wie ein Kleinkind zu behandeln.

Mir graute vor der Schule am nächsten Tag. Die schreckliche Geschichte würde wieder und wieder durchgekaut werden. Ganz zu schweigen von dem Mathe-Test, der mir bevorstand. Ein toller Geburtstag!

Die Faust meines Vaters, die auf den Tisch niedersauste, riss mich brutal aus meinen Gedanken. Erschrocken setzte ich mich kerzengerade hin.

»Darum geht es nicht.« Seine Stimme klang kalt und harsch, als müsste er sich beherrschen, um nicht wütend loszubrüllen.

»Ach nein?«, fragte meine Mom. »Das ist diese Woche der erste Abend, an dem du zu Hause bist. Es würde mich nicht wundern, wenn ihre Albträume durch die fehlende Vaterfigur ausgelöst werden.«

»Das ist doch lächerlich. Komm mir nicht mit diesem Psychoquatsch, Diane.«

»Ich versuche nur eine Lösung zu finden«, sagte Mom müde. »Ihr Lehrer wurde ermordet, da mache ich mir eben Sorgen. Es wäre kein Wunder, wenn sie dadurch wieder Albträume bekommt. Wir sollten noch einmal einen Termin bei Dr. Niles für sie machen.«

Offenbar hatte sie vollkommen vergessen, was ich ihr am Morgen gesagt hatte. Am liebsten hätte ich allen beiden meine Spaghetti ins Gesicht geschleudert und geschrien: Hallo! Ich sitze auch hier! Wäre ich nicht so wütend gewesen, hätte ich darüber lachen müssen, dass sie meinetwegen stritten, während ich direkt neben ihnen saß. Wenn sie meine Anwesenheit so ignorierten, wurde deutlich, dass ihnen ihr Streit viel wichtiger war als meine psychische Gesundheit.

Mein Dad schnaubte. »Wenn du das für notwendig hältst.«

»Es gibt viele Dinge, die ich für notwendig halte.«

»Was soll denn das schon wieder heißen?«

Sie starrte ihn an. »Du weißt genau, was das heißt.«

»Hör auf mit den Ratespielchen.«

An einem Abend wie diesem wünschte ich mir einen Hund. Dann hätte ich eine Entschuldigung gehabt, das Haus zu verlassen und spazieren zu gehen. Hauptsache ein Grund, verschwinden zu können.

»Du bist nie zu Hause, und wenn du da bist, tust du nichts, als herumzuschreien«, warf Mom ihm vor. »Ich habe Angst vor dir, wenn du abends nach Hause kommst. Elisabeth ebenfalls. Es würde mich nicht wundern, wenn ihre Albträume davon kommen, dass du sie all die Jahre wegen jeder Kleinigkeit angebrüllt hast. Hier geht es nicht um dich und mich, Rick – hier geht es darum, wie du deine Tochter behandelst.«

Ich konnte es nicht länger ertragen. Ich stand vom Tisch auf und brachte meinen Teller in die Küche. Dabei versuchte ich, die aufgebrachte Antwort meines Vaters zu überhören. Alle Eltern stritten sich – so etwas passiert in jeder Beziehung –, aber Eltern sollten nicht vor ihren Kindern streiten. Meine Mom und mein Dad schoben sich ständig gegenseitig die Schuld an meinen Albträumen in die Schuhe, obwohl sie wahrscheinlich beide Schuld daran hatten.

Ich ging in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett und starrte in den Spiegel über der Kommode. Die pinkfarbene Spieluhr, die mein Dad mir zum siebten Geburtstag geschenkt hatte, stand zwischen zwei Duftkerzen und einer Geburtstagkarte von meiner Oma. Ich ging zur Kommode und öffnete den Deckel der Spieluhr. Die kleine Ballerina im Inneren richtete sich auf. Ich drehte den Schlüssel, der sich am Boden der Spieluhr befand. Eine fröhliche Melodie ertönte, und die Ballerina begann sich zu drehen. Ich sah ihr eine Weile zu und fragte mich, wie mein Leben sich so entwickeln konnte, und warum mein Dad zu einem so hasserfüllten Menschen geworden war. Ich liebte diese Spieluhr jetzt vor allem, weil sie mich an den wundervollen Vater erinnerte, der er einst gewesen war. Am liebsten hätte ich die Zeit um zehn Jahre zurückgedreht – irgendwie ein trauriger Wunsch für ein Mädchen in meinem Alter.

KAPITEL 3

Entschlossen, mich von meiner Niedergeschlagenheit nicht noch tiefer runterziehen zu lassen, legte ich eine DVD ein. Ich entschied mich für 30 über Nacht, da meine Eltern genau dieses Gefühl in mir ausgelöst hatten. Vielleicht könnten mich die lustigen Szenen ein wenig aufheitern. Immer mal wieder hörte ich sie sich anbrüllen. Kurz nach Mitternacht begannen sie erneut heftig zu streiten.

»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte ich trübsinnig. Innerhalb der nächsten fünf Minuten erhielt ich acht SMS-Glückwünsche mit vielen Ausrufungszeichen, Herzchen und Smileys.

Ich beschloss, die ersten paar Minuten meines neuen Lebensjahrs draußen auf der Veranda zu verbringen. Ich lehnte mich an einen der Stützpfeiler und holte tief Luft. Die Nacht war recht kühl, aber mir war warm genug in meinem T-Shirt und der Kapuzenjacke.

Nachdem ich eine Weile auf der Veranda gesessen und vor mich hin geträumt hatte, schlenderte ich die Auffahrt hinunter bis zur Straße. Eine Runde um den Block dürfte genügen. Ich brauchte wirklich einen Hund. Vielleicht sollte ich mir lieber einen Hund statt ein Auto wünschen … na ja, ein Auto war wohl doch besser. Wahrscheinlich kriegte ich es nicht direkt am nächsten Tag, aber dann am Wochenende. Ich kannte viele Jugendliche, die kein Auto zum Geburtstag bekamen, geschweige denn eines, das sie selbst aussuchen durften, ich sollte mich also nicht beklagen. Andererseits gab es auch viele Kinder, deren Eltern sich nicht anbrüllten. Jeder musste so seine Opfer bringen.

Vor mir hörte ich plötzlich ein tiefes Brummen, das mich innehalten ließ. Es klang nicht wie ein Motor oder so, und ich konnte auch keine Scheinwerfer entdecken. Angestrengt spähte ich in die Dunkelheit. Die Laterne über mir summte, dann erlosch sie. Bis zur Straßenecke und auf der großen Rasenfläche konnte ich nichts erkennen. Kurz musste ich an Mr Meyers Mörder denken. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, nach Mitternacht allein draußen herumzulaufen.

»Was hast du gesehen?«

Mit einem kleinen erschreckten Aufschrei wirbelte ich herum. Das Herz schlug mir bis zum Hals.

Es war Will, wie aus dem Nichts aufgetaucht. Er wirkte besorgt und entschlossen, versuchte aber offensichtlich, diese Gefühle zu verbergen.

»Was machst du hier draußen?«, fragte ich barsch.

»Und was machst du denn hier?«, konterte er.

»Ich wohne hier!«

Plötzlich kam mir ein schrecklicher Gedanke. Ich hatte Will zum ersten Mal an dem Tag gesehen, an dem Mr Meyer nachts ums Leben gekommen war. Nein, nein, nein. Das war lächerlich. Will war nur ein attraktiver, seltsamer Typ, der mir zufälligerweise ständig über den Weg lief. Das machte ihn noch lange nicht zu einem Mörder. Hatte meine Mom mir nicht zu Weihnachten eine Dose Pfefferspray geschenkt? Was hatte ich eigentlich damit gemacht?

»Also warum gehst du so spät noch spazieren?«, fragte er und riss mich aus meinen Gedanken. »Selbst wenn du hier wohnst, ist es nicht gerade die beste Zeit, um noch draußen herumzulaufen.«

»Du läufst ja auch hier herum. Außerdem bin ich gern nachts draußen. Es ist so entspannend.«

Sein Lächeln wurde breiter. Offensichtlich fand er lustig, was ich sagte. »Die meisten Leute hätten Angst.«

Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Wieso? Sollte ich denn welche haben?«

»Was?«

»Angst.«

»Eigentlich schon.«

»Du siehst nicht aus, als würdest du dich fürchten.«

»Ich kann auf mich selbst aufpassen.« Er lächelte wehmütig, als erinnere er sich an etwas.

»Du bist der merkwürdigste Junge, dem ich je begegnet bin – und glaub mir, die waren alle merkwürdig, also will das schon was heißen.« Sobald mir klar wurde, was ich da gerade gesagt hatte, hätte ich mich am liebsten geohrfeigt. Ich redete mal wieder, ohne nachzudenken, statt einfach schleunigst das Weite zu suchen.

Er lachte. »Wenigstens bist du ehrlich.«

»Manche halten das für eine Tugend.« Ich drehte mich um. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. »Tu mir einen Gefallen und lass mich in Ruhe. Am Ende bist du ein Serienmörder und fällst gleich über mich her.« Ich schaute mich um in der Hoffnung, einer der Nachbarn würde das Verandalicht einschalten und mit einem Gewehr auf ihn zielen. Aber so ein Glück hatte ich nicht.

»Hast du Angst vor mir?«, fragte Will und bemühte sich, mit mir Schritt zu halten.

»Vielleicht hast du ja eine aggressive Störung, und deine Gegenwart sollte mich beängstigen und nicht nur nervös machen.« Nur noch vier Häuser und ich hätte es geschafft.

»Nein, aber hast du noch nie das Sprichwort gehört: Der Tapfere lebt nicht ewig, aber der Furchtsame hat nie gelebt?«

»Nein, das kenne ich nicht. Aber ich werd es mir merken. Vielen Dank für die sprichwörtliche Belehrung, mein lieber Stalker.«

Er hielt mir den Arm vor die Brust, um mich aufzuhalten, und starrte gebannt in die Dunkelheit. Sein Körper zitterte, aber irgendetwas sagte mir, dass es nicht an der kühlen Nachtluft lag.

Ich folgte seinem Blick, konnte jedoch auf der Straße vor uns nichts entdecken. Ein paar bereits abgefallene Blätter wurden von einer Windböe aufgewirbelt. Plötzlich kam mir ein seltsamer Geruch in die Nase, wie nach faulen Eiern und schwarzem Rauch. »Riechst du das? Was ist denn das?«

Er trat auf meine andere Seite, um sich zwischen mir und dem, was auch immer er anstarrte, zu postieren. »Du kannst den Limbus noch nicht sehen.«

»Was kann ich nicht sehen? Den Nimbus?« Ich spähte über seine Schulter. Zuerst dachte ich, da wäre ein Schatten vorbeigehuscht, aber als ich blinzelte, war nichts mehr zu sehen. Es war zu dunkel.

Wills Blick fixierte einen Punkt in der schwarzen Dunkelheit. »Es ist noch nicht so weit! Bleib, wo du bist. Es ist mir egal, dass es schon nach Mitternacht ist – sie darf noch nicht angegriffen werden, es sei denn, du bist bereit, die Folgen zu tragen.«

Ganz offensichtlich redete er nicht mit mir. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich bis auf seinen Namen absolut nichts über ihn wusste. Er hätte irgendein Junkie sein können. Bis auf Gras und Alkohol hatte ich noch keine Drogen kennengelernt, nicht einmal Pilze, und härtere Sachen schon gar nicht, also hatte ich keine Ahnung, womit ich zu rechnen hatte. Mein Körper krampfte sich vor Angst zusammen. »Was hast du denn genommen? Mir reicht’s langsam. Ich geh jetzt.«

Ich rannte los zu unserem Haus.

»Nein, warte«, sagte Will.

Da war das Brummen wieder, nur ein wenig lauter als zuvor. Das war kein Automotor. War es ein Knurren? War da ein Hund – ein großer Hund – irgendwo in der Dunkelheit? Die panische Vorstellung, ein tollwütiger Hund könnte mich angreifen, raste durch meinen Kopf. Wenn der Hund so nah war, dass ich ihn hörte, müsste ich ihn auch sehen können. Schließlich war es nicht stockfinster.

Ein weiteres Knurren ertönte, dann folgten schwere Schritte – wie die Schritte des Tyrannosaurus Rex, die in Jurassic Park den Pudding erzittern lassen.

»Was ist das?«, fragte ich zitternd und blickte suchend in die Dunkelheit. Mir war, als würden meine Albträume Wirklichkeit. In meinem Kopf drehte sich alles, und die Furcht ließ meinen Magen rebellieren.

Ohne dass ich wusste woher, blies mir plötzlich heißer, nach Verwesung stinkender Atem ins Gesicht, und ich wirbelte würgend herum. »Oh, mein Gott!«, stöhnte ich und presste die Hände auf den Mund.

»Komm her«, sagte Will langsam und streckte mir die Hand entgegen, ohne einen Schritt auf mich zuzugehen. Die Besorgnis, die ihm zuvor schon im Gesicht gestanden hatte, war noch deutlicher. Jetzt sah ich Furcht, und das machte mir noch mehr Angst.

»Niemals!«, rief ich und versuchte mich von ihm loszureißen.

Seine Furcht wandelte sich in Zorn über meinen Fluchtversuch. »Hör auf zu schreien. Dadurch bringst du ihn dazu anzugreifen.«

Panik überkam mich. »Lass mich los!«, schrie ich und wollte wegrennen, aber Will packte meinen Arm. Ich wollte mich befreien und zerrte mit aller Kraft, aber sein Griff war eisern. Es war, als versuchte ich, einen Zwanzigtonner wegzuziehen; obwohl ich all meine Kräfte aufbot, rührte er sich keinen Millimeter von der Stelle. Wie konnte jemand nur so stark sein? Ich riss an seinen Fingern, aber sie waren wie Schraubstöcke.

»Zeit, das Spiel zu beenden«, sagte er, und seine Worte jagten mir eisige Schauer den Rücken herunter. Mühelos zog er mich an seine Brust und presste mir seine Hand auf die Stirn.

Grelles Licht blitzte auf und blendete mich. Mein Schädel fühlte sich an, als würde er unter dem Druck explodieren. Die Erde schien unter meinen Füßen zu beben und zu schwanken, aus allen Richtungen peitschten heftige Sturmböen auf mich ein. Meine Knie schwankten und gaben unter mir nach, aber Will hielt mich, damit ich nicht zu Boden stürzte. Genauso plötzlich, wie es erschienen war, verschwand das grelle Licht wieder, als er die Hand von meiner Stirn nahm. Ich taumelte zurück und landete auf meinem Steißbein, mein Blick war verschwommen – aber ich hätte schwören können, dass sich über mir ein gewaltiges, schattenhaftes Flügelpaar ausbreitete. Ich blinzelte und nahm nur Wills verschwommene Gestalt wahr, wo ich zuvor die Flügel gesehen hatte. Jeder Muskel meines Körpers schmerzte, als hätte ich einen anstrengenden Lauf hinter mir, doch gleichzeitig war ich voller Energie. Ein Rauschen erfüllte Luft und Erde, und jeder Quadratzentimeter meines Körpers prickelte wie elektrisiert, als würde ich rasend schnell durch die Gegend geschleudert werden, obwohl ich mich in Wahrheit keinen Zentimeter von der Stelle bewegt hatte. Die Luft um mich herum schien mit einem Mal klebrig und voller Rauch. Ich zwinkerte mit den Augen, um klarer sehen zu können. Eine Nanosekunde später löste der Dunstschleier sich auf, und ich starrte verwirrt auf das Pflaster und rieb mir die Stirn.

»Ellie!«

Mein Blick klärte sich, und ich nahm Will plötzlich wieder wahr. Mein Sehvermögen war geschärft, und die Welt schien heller. Ich sah an Will vorbei und wunderte mich darüber, wie deutlich ich in der Dunkelheit jedes Blatt an den Büschen und jede Rille in den Dachziegeln der Nachbarhäuser erkennen konnte.

Und dann erblickte ich das Ungeheuer. Es erinnerte vage an einen riesigen Hund mit dichtem, schwarzem Fell und hatte eine Schulterhöhe von einem Meter fünfzig. Es kam auf allen vieren auf uns zugetrampelt, mit einer Schnauze voller spitzer, todbringender Zähne im ausladenden Kiefer seines gewaltigen Kopfes. Seine Pfoten waren so groß wie Elefantenfüße, und seine gewaltigen Klauen sahen aus, als könnten sie einen ausgewachsenen Mann in Stücke reißen.

Dennoch hatte ich keine Angst. Ein Gefühl der Ruhe erfüllte mich, und mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Seltsame Erinnerungen und fremdartige Gedanken machten sich in meinen Kopf breit: längst vergessene Gesichter und Gewalttaten, deren Zeugin ich zu unterschiedlichen Zeiten geworden war. Ich sah zu Will auf, dessen Gesicht die klarste und liebevollste Erinnerung wachrief. Ich wusste, dass ich jetzt kämpfen musste, aber dazu brauchte ich meine Waffen.

Die Bestie kam mit ausgestreckten Klauen auf mich zugesprungen und holte zum Schlag aus, doch Will schob sich dazwischen. Er packte sie am Vorderbein, trat ihr mit voller Wucht gegen die Brust und schleuderte sie gegen den Briefkasten der Nachbarn, der in unzählige Holz- und Ziegelsplitter zerbarst.

Es passierte so schnell, dass ich normalerweise nicht in der Lage gewesen wäre, es zu sehen, aber ich nahm alle Einzelheiten wahr. Ich trat einen Schritt vor und sah, wie das Ungeheuer sich aufrappelte und ein tiefes, bedrohliches Knurren ausstieß.

Ich streckte beide Arme aus und beschwor Waffen in meine offenen Handflächen. Die Khopesh-Zwillingsschwerter erschienen aus dem Nichts mit einem Blitz aus schimmerndem Licht. Die geschwungenen Klingen funkelten hell. Ich blickte zu Will und sah nun die kunstvollen schwarzen Tattoos, die sich aus den Ärmeln seines Shirts den rechten Arm hinunter und bis zu den Fingerknöcheln schlängelten. Ich erinnerte mich an die magischen Symbole, die in das spiralenartige Muster eingewoben waren, weil ich sie schon einmal mit anderen Augen gesehen hatte, in einer anderen Zeit.

Mein Geist war ruhig und enervierend klar. Die Klingen explodierten auf meinen Befehl hin zu weißen Flammen. Gleißendes Licht verschlang das Silber, und die Macht durchströmte mich. Meine Finger umklammerten die kühlen, vertrauten Griffe, während der Geruch nach Silber und altem Blut meine geschärften Sinne erfüllte. Die Schwerter fühlten sich in meinen Händen vertraut und richtig an, als würden sie einen alten Freund umarmen.

Das Biest begann, mich zu umkreisen, wobei es bedrohlich knurrte und ein schauerliches Zischen ausstieß. Die Augen wirkten wie unendlich schwarze Höhlen, die sich tief in seinen deformierten, grauenvollen Schädel bohrten. Ohne Angst oder Zögern starrte ich in sie hinein.

Ich folgte den Bewegungen des Monsters, sodass ich es nie im Rücken hatte, und mit einer Stimme, die nicht zu mir zu gehören schien, forderte ich es heraus: »Na los, komm schon!«

Das wolfsartige Wesen stürzte sich auf mich, mit ausgestreckten Pranken und Klauen und aufgerissenem Maul. Ich warf mich zur Seite, sodass seine Zähne nur meine Sweatshirt-Kapuze zu fassen kriegten und nicht meinen Hals. Das Untier zerrte an dem Baumwollstoff herum und schleuderte mich knurrend hin und her. Seine Klauen krallten sich um meinen Körper und zogen mich näher an sein Maul, um mir ins Gesicht beißen zu können. Ich rammte ihm den Ellbogen in die Nase, und es taumelte zurück und sackte stöhnend zu Boden. Dann ging mein Ellbogen auf seinen Schädel nieder, und etwas zerbarst, aber das Untier attackierte meine Kapuze nur noch heftiger und riss den Stoff in Fetzen. Abrupt schleuderte es mich zu Boden, aber als ich aufblickte, hatte Will es schon um den Hals gepackt und hielt es zurück, den Arm ellbogentief in sein dichtes Fell vergraben.

»Jetzt!«, brüllte er.

Wie ein gigantischer Pitbullterrier warf es sich herum und befreite sich.

Meine Augen fixierten mein Ziel, und mein Geist war klar genug, um die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen. Schneller als mein Herzschlag war ich auf den Beinen und stieß ihm mein flammendes Schwert von unten in die weiche Kehle durch die Schädeldecke. Die Beine des Ungeheuers gaben nach, und sein Fell bekam einen seltsamen Schimmer, bevor es in Flammen aufging. Es ging alles sehr schnell. Das Feuer verschlang den Reaper, verschluckte ihn in weißem Licht, fraß ihn auf, bis am Ende auch sein Kopf verschwunden war und nichts zurückblieb als Asche, die langsam zu Boden fiel, und eine leere Stelle, wo gerade noch das Ungeheuer gewesen war.

Dann schlossen sich die Schatten um mich herum.