NEUNZEHN

Mir ist kalt.

Und ich habe Schmerzen.

Die einzige Wärmequelle stammt von etwas Feuchtem, das mir übers Gesicht läuft, mir in den Augen brennt und auf der Zunge einen kupferartigen Geschmack verursacht.

Blut.

Mein Blut.

Es muss meins sein. Esme hat gar keins vergossen.

Sie war zu schnell. Zu konzentriert. Sich ihres Vorhabens zu sicher. Und ich war auf ihren Angriff leider völlig unvorbereitet.

Obwohl mich der Traum gewarnt hat, hatte ich nicht die geringste Chance.

Hätte mir nie vorstellen können, dass sie diejenige sein würde, die mir den Tod bringt.

Und nun, nachdem sie es so eingerichtet hat, dass es wie ein Unfall aussieht, ist sie weg.

Und lässt mich tiefer und tiefer in ein endloses schwarzes Loch fallen.

 

Ich höre seine Stimme aus weiter Ferne.

Sie klingt undeutlich und verzerrt, als käme sie vom Grund eines tiefen, tiefen Ozeans, als kämpfte sie sich mühsam zur Oberfläche, mühsam zu mir.

Und obwohl ich mir nichts mehr wünsche, als heftig zu nicken, mit den Armen zu wedeln und laut und deutlich zu schreien, dass ich ihn gehört habe, dass ich seine Botschaft vernommen habe und weiß, dass er in der Nähe ist – ich schaffe es einfach nicht.

Ich kann nicht sehen. Kann mich nicht bewegen. Kann nicht sprechen.

Es ist, als wäre ich bereits in meinem Sarg eingeschlossen, lebendig begraben, sodass ich zwar alles um mich herum wahrnehme, jedoch außer Stande bin, daran teilzunehmen.

Mit aller Kraft ringe ich darum, seinen Worten zu folgen, seiner Gegenwart, und einen Weg zu ihm zu finden, ihn irgendwie zu erreichen, ehe ich für immer weg bin.

Außer sich, zu Tode betrübt und verzweifelt schreit er: »Wer hat ihr das angetan? Ich bringe denjenigen um!« Darauf folgen zahlreiche Drohungen, die ihm wie von selbst über die Lippen strömen. Nur ab und zu hält er inne, um entweder Gott um Beistand anzuflehen oder von ihm eine Erklärung dafür zu fordern, warum er ihn so hart prüft, indem er ihn seiner einzigen Chance auf wahre Liebe beraubt.

»Es scheint ein Unfall gewesen zu sein«, sagt eine Stimme, die ich auf der Stelle als die von Rhys erkenne. Und ich kann mir nicht verkneifen, dass ich zurückschrecke und gegen alle Wahrscheinlichkeit hoffe, dass es nicht seine Hand war, die ich auf meiner Stirn gespürt habe.

»Weg von ihr! Fass sie nicht an!«, brüllt Alrik. »Das ist deine Schuld – du und deine große Klappe. Verflucht seist du, Bruder! Sieh nur, was du angerichtet hast!«

»Ich?« Rhys lacht mit abgrundtiefem Sarkasmus. »Wie soll ich daran schuld sein, wenn ich gerade erst gekommen bin?«

Ich muss mich anstrengen, um sie zu verstehen, und frage mich, ob Alrik bereits die Wahrheit vermutet, dass es nämlich Esme war, seine Verlobte, die mich in diesen Zustand versetzt hat.

Meine Hoffnungen schwinden dahin, als er sagt: »Wenn du es nicht Vater verraten hättest, wäre ich nicht aufgehalten worden. Dann wäre ich hier gewesen und hätte sie vor diesem … vor diesem Sturz bewahren können.« Er erschauert, seine Hand zittert, und er schluchzt beinahe. »Wenn du nicht gewesen wärst, wäre das nie passiert.«

»Bruder, bitte. Nimm dich zusammen. Warum sollte ich das tun, wenn ich genauso viel zu verlieren habe wie du?« Rhys spricht in gefasstem Tonfall, ein grausamer Kontrast zum tiefen Kummer seines Bruders, dessen unstillbarer Trauer.

»Du hast nichts verloren«, sagt Alrik beinahe tonlos. »Du kannst die Krone haben – ich will sie nicht. Von mir aus kannst du auch Esme heiraten – ich könnte es nicht mehr ertragen, sie anzusehen. Ich habe alles verloren – das Einzige, was mir je etwas bedeutet hat … Adelina«, flüstert er, während seine Finger über meine Stirn und meine Wangen streichen und weiter über meinen Hals, wo sie innehalten, während er in flehentlichem Tonfall weiterspricht. »Adelina, warum? Warum ist es so gekommen? Warum verlässt du mich?«

Wegen des Traums, möchte ich sagen, doch es kommen keine Worte, und so konzentriere ich mich stattdessen darauf, es zu denken. Ich habe versucht, dich zu warnen, versucht, dich darauf vorzubereiten, aber du hast es abgetan …

»Oh, Adelina, du hast es gesehen, nicht wahr? Du hast letzte Nacht versucht, mich zu warnen, als du aus deinem Albtraum erwacht bist, aber ich wollte dich nur beschwichtigen, ich habe nicht richtig zugehört.«

Einen Augenblick lang fühle ich, wie ich davontreibe, den Halt verliere, doch während er spricht und seine Worte die meinen widerspiegeln, wird irgendetwas in mir aufgerüttelt.

Hat er … ist es irgendwie denkbar, dass er mich gehört hat? Die Gedanken gespürt hat, die ich ihm gesandt habe?

Alrik! Alrik, hörst du mich? Du musst bitte wissen, dass ich dich liebe. Ich konzentriere mich auf die Worte, konzentriere mich mit aller Kraft, mit allem, was ich noch habe. Ich hoffe und bange, dass er auch diese Worte wahrnimmt. Ich habe dich immer geliebt. Ich werde dich immer lieben. Nichts kann uns trennen, nicht einmal mein Tod.

»Ich liebe dich, Adelina«, flüstert er, eine Hand auf meiner Stirn, die andere mit meiner verflochten, während er mir hastig ein kühles, rundes Metallstück, das nur mein Ehering sein kann, an den Finger steckt. »Ich habe dich immer geliebt, ich werde dich immer lieben. Du wirst immer in meinem Herzen wohnen. Du wirst immer meine Braut sein …« Seine Stimme bricht, und eine Flut frischer Tränen perlt auf mein Gesicht herab.

Na so was, denke ich und ringe um ein Lächeln, das mir jedoch nicht gelingen will. Ich bin reglos, eingeschlossen, und doch haben wir dies – die Gedanken, die zwischen uns hin- und herfließen.

Ich will es gerade noch einmal versuchen und ihn unbedingt wissen lassen, dass noch nicht alles verloren ist, dass ein Hauch von mir noch existiert, als ich schwere Schritte angelaufen kommen höre, gefolgt von Heaths Stimme. »Der Arzt ist da.«

Die nächsten Minuten vergehen mit Drücken, Tasten und der Suche nach einem Puls, der so schwach ist, dass der Arzt ihn beinahe nicht findet. Mit gravitätischer Stimme gibt er eine düstere Prognose ab, deren Endgültigkeit das Letzte ist, was Alrik hören will.

Ich bleibe nicht mehr lange in dieser Welt.

Doch das will Alrik nicht akzeptieren. »Es gibt andere Methoden«, drängt er. »Ich habe Geld. Jede Menge Geld. Ihr könnt mein ganzes Vermögen haben, was immer Ihr wollt, wenn Ihr sie mir zurückbringt. Ich habe die Gerüchte gehört, ich weiß von den Elixieren, den geheimen Tränken und Tinkturen – von dem Spezialgebräu, das alle Krankheiten heilt und das Leben bis ins Unendliche verlängert.«

»Davon weiß ich nichts«, erwidert der Arzt in schneidendem Tonfall, der keinen Widerspruch duldet. »Und ich versichere Euch, dass, selbst wenn ich davon wüsste, dies etwas ist, womit man nicht spielt. Ich bedauere Euren Verlust, ganz ehrlich. Doch das ist die natürliche Ordnung der Dinge, und Ihr müsst einen Weg finden, um Euren Frieden damit zu machen.«

»Niemals!«, schreit Alrik. Und wenn ich ihn sehen könnte, dann sähe ich gewiss ein Gesicht vor mir, das ebenso steinhart und kalt ist wie die Stimme, die ich soeben vernommen habe. »Wo Leben ist, da ist Hoffnung, das wisst Ihr genau! Was für ein Arzt seid Ihr denn, wenn Ihr daran nicht glaubt? Ich werde niemals meinen Frieden mit der Vergeblichkeit machen, solange es noch andere Wege zu ergründen gibt. Ich habe Geld, ich scheue weder Kosten noch Mühen – versteht Ihr mich? Ihr könnt mir nicht trotzen! Wisst Ihr denn nicht, wer ich bin?«

Und so geht es weiter. Alrik stößt eine Drohung nach der anderen aus, von denen er bestimmt keine einzige wahrmachen wird. Es ist das Gerede eines Mannes, der vor Kummer halb wahnsinnig ist, und zum Glück erkennt der Arzt es als solches.

Verständnisvoll und nachsichtig, aber doch unerschütterlich erwidert er ihm: »Alrik, mein Herr, auch wenn ich Euren Verlust aufrichtig bedaure, so habe ich getan, was ich konnte. Und nun bitte ich Euch, sie bequem zu betten, Euch von ihr zu verabschieden und sie leicht und schmerzlos dahinscheiden zu lassen, ohne weitere Ausbrüche von Euch. Bitte, Alrik, wenn Ihr sie so sehr liebt, wie Ihr behauptet, dann lasst sie in Frieden gehen.«

»Hinaus! HINAUS!«, ist Alriks einzige Antwort. Gefolgt vom Kuss seiner Lippen auf meiner Wange und hastig gegen mein Fleisch gewisperten Wörtern. Unsere Handflächen sind nach wie vor aneinandergepresst, während er eine Reihe von Gebeten, Beschwörungen, Fragen, Flüchen und Drohungen vor sich hin murmelt, ehe er zu den Gebeten zurückkehrt und alles noch einmal von vorn beginnt.

Die Litanei wird nur durch Heaths ruhige Stimme unterbrochen. »Mein Herr, ich kenne jemanden, der die Art von Hilfe anzubieten hat, die Ihr sucht.«

Alrik hält inne, stutzt und fragt: »Wer?«

»Eine Frau, die ein bisschen außerhalb des Dorfs wohnt. Ich habe Gerüchte gehört. Kann nicht sicher sagen, ob sie stimmen. Aber einen Versuch könnte es wert sein.«

»Hol sie«, sagt Alrik und vergräbt das Gesicht an der Stelle, wo mein Hals in die Schulter übergeht. »Geh. Hol sie. Bring sie zu mir.«