EINUNDZWANZIG
Ich lande am Flussufer. Komme mit einem Plumps auf.
Die Zehen im Wasser, den Po im Sand – während die Ereignisse eines Lebens, meines ersten Lebens, mir noch immer durch den Kopf wirbeln.
Als ich irgendwo hinter mir ein leises Rascheln vernehme, wende ich mich um und sehe sie lächelnd auf mich zukommen. Sie reicht mir ihre alte, knorrige Hand und hilft mir auf die Beine.
Ich öffne den Mund und sprudele Dutzende von Fragen hervor, doch Lotos unterbricht mich kopfschüttelnd und legt mir eine Hand auf den Arm. »Du hast die Wahrheit entdeckt«, sagt sie.
Ich nicke und klammere mich an das, was ich jetzt weiß, was ich nie vergessen darf, doch in diesem Moment habe ich dringendere Sorgen. »Und Damen?«, frage ich, wobei meine Stimme meine Beklommenheit verrät. »Wo ist er?«
Sie senkt einen Moment lang die Lider, als verfolgte sie eine Szene, die tief in ihrem Inneren abläuft. Dann schlägt sie die Augen wieder auf und sagt: »Er muss noch vieles sehen. Vieles lernen. Für ihn ist es nicht vorüber. Jedenfalls noch nicht.«
Sie zeigt auf den Fluss, und ich folge der Krümmung ihres Fingers. Ich sehe zu, wie die Strömung wirbelt und wechselt, ehe alles wieder ruhig wird und sich das Ende der Szene, die ich soeben verlassen habe, auf dem Wasser abzeichnet. Ich sehe Alriks Leben weitergehen, sehe ihn von unendlicher Trauer verzehrt leiden.
Er ist gebrochen, geschlagen, ins Mark getroffen, und so sehr im Irrtum, dass er nur nach Rache für meinen Tod streben kann. Da er nicht ahnt, dass Esme dafür verantwortlich ist, will er die Schuld daran unbedingt irgendjemandem anlasten, und so sorgt er schließlich dafür, dass die Frau aus dem Dorf zusammen mit ihren beiden jungen Lehrmädchen wegen Hexerei und Magie angeklagt und hingerichtet wird. Schon bald verfällt er in noch tiefere Verzweiflung, als er spürt, dass diese Art der Rache ihm keine Erleichterung und schon gar keine Erlösung bringt. Ihn nicht für seinen Verlust entschädigt. Mich nicht wieder zurückbringt.
Den Rest seines Lebens verbringt er in einem Nebel aus verlorenen Leidenschaften und geplatzten Träumen, während sein Feuer und sein Kampfgeist zusammen mit meinem Körper zu Grabe getragen werden. Er wahrt den Schein, tut, was von ihm erwartet wird, lässt sich einfach treiben und fügt sich in das Leben, das sein Vater für ihn vorgesehen hat.
Heiratet Esme.
Übernimmt die Krone.
Jeder Tag, der vergeht, lässt sein Herz härter werden und immer mehr zu einem kleinen, bitteren Stein schrumpfen.
Er wagt nicht daran zu glauben, dass er mich je wiedersehen wird.
Er wagt an gar nichts mehr zu glauben, nie mehr.
Es bricht mir das Herz, ihm dabei zuzusehen, zu verfolgen, wie er schließlich durch eine von seinem Bruder angezettelte Revolte vom Thron gestürzt wird. Rhys heiratet schließlich Fiona, Esmes Schwester, nur um zu erkennen, dass sein Verlangen nach Esme nie enden wird, nach der einen Frau, die niemals ihm gehören wird.
Alle vier sind sie in ihrer ganz persönlichen Hölle gefangen und finden keinen Ausweg.
Sie können nicht wissen, was ich weiß. Wenn wir uns gegenseitig verletzen, verletzen wir uns auch selbst.
»Alrik ist Damen.« Ich wende den Blick vom Fluss ab und sehe Lotos an. Ich bin selbst erstaunt, mich das sagen zu hören, doch ich weiß, dass es stimmt. »Und Rhys ist Roman, Heath ist Jude, die Frau aus dem Dorf ist Ava, und ihre Lehrmädchen sind die Zwillinge Romy und Rayne,
Fiona ist Haven, Esme ist Drina …« Natürlich. Ich runzele die Stirn. »Und der Arzt? Kenne ich ihn?« Doch ehe ich meinen Satz beenden kann, weiß ich die Antwort. »Der Arzt ist Miles.« Ich schüttele den Kopf und lache kurz auf. »Der einzige Vernünftige in der ganzen Gruppe«, füge ich hinzu. »Der Einzige, der nichts mit mystischen Mittelchen zu tun haben wollte.«
Seufzend begreife ich, dass wir alles bereits vor Jahrhunderten durchexerziert haben – nur um in eine ähnliche Falle zu tappen, eine moderne Version einer nahezu identischen Existenz zu wiederholen.
Ich sehe auf den Fluss, verfolge, wie er klar wird und die Bilder sich rasch auflösen. »Warum wussten wir das nicht?«, frage ich. »Warum machen wir immer wieder dieselben Fehler?«
Ich sehe Lotos an, deren Augen so schmal werden, dass sich rechts und links der Augenwinkel Fältchen bilden. Mit tiefer, gravitätischer Stimme antwortet sie mir: »Das ist die Bürde des Menschen. Auch wenn die Schuld zum Teil beim Fluss liegt«, sagt sie und zeigt rasch auf das fließende dunkle Wasser vor uns, »beruht es doch zum größten Teil auf der Neigung des Menschen, in den Lärm einzutauchen, der überall um ihn herum tost, statt auf die herrliche Stille tief in seinem Inneren zu lauschen.«
Ich blicke auf den Fluss hinaus und drehe und wende ihre Worte in Gedanken hin und her, bis ich begreife, dass sie alles widerspiegeln, was ich soeben gelernt habe. Wir verbringen unser Leben damit, uns in die falschen Dinge zu verbeißen – lassen uns von unserem Verstand und unserem Ego in die Irre führen und betrachten uns als getrennt von anderen, anstatt auf die Wahrheit zu hören, die in unseren eigenen Herzen liegt, die Wahrheit, dass wir alle verbunden sind, dass wir alle in einem Boot sitzen.
»Das Universum ist geduldig«, sagt sie. »Es bietet uns vielfältige Möglichkeiten an, damit wir lernen und es begreifen können, und genau deshalb werden wir auch wiedergeboren. «
»Dann ist es also wahr. Damen und ich haben früher schon einmal als Adelina und Alrik gelebt.« Ich sehe sie an, und sie nickt bestätigend. »Und ich nehme an, er ist in diesem Leben gestorben – den Tod eines Sterblichen?« Mein Blick wandert über ihr silbernes Haar, hinab zu der langen, weißen Tunika mit den goldenen Stickereien, bis ganz hinunter zu ihren erstaunlicherweise nackten Füßen, doch es dauert einen Moment, ehe ich registriere, dass der Stock verschwunden ist, den sie letztes Mal benutzt hat. Sie kann ohne Stütze stehen.
»O ja«, sagt sie. »Er ist gerade darin gefangen. Erlebt den Augenblick noch einmal. Doch es müsste bald vorüber sein.«
Ich presse die Lippen aufeinander, fummele am Saum meines T-Shirts herum und überlege. Eigentlich habe ich keinen Grund, ihr nicht zu glauben, doch da ist noch etwas, was nicht zusammenpasst, etwas, was sie mir noch erklären muss.
»Aber wenn das alles wahr ist, warum hat dann keiner von uns dieses Leben gesehen, als wir gestorben und ins Schattenland gekommen sind? Und warum hat Jude es bei keinem seiner Besuche in den Großen Hallen des Wissens gesehen? Tut mir leid, Lotos, aber so real es auch alles gewirkt hat, es ist einfach unlogisch.«
Obwohl ich am Ende die Stimme erhebe, obwohl ich mich ein bisschen zu heftig für meine eigenen Einwände erhitze, bleibt Lotos ruhig und gelassen und antwortet mir völlig ungerührt. »Du kennst doch das Sprichwort: ›Wenn der Schüler bereit ist, kommt der Lehrer‹?«
Ich nicke und erinnere mich, dass Jude das einst zu mir gesagt hat.
»Genauso ist es mit Wissen. Die Wahrheit kommt ans Licht, wenn du bereit bist, sie zu empfangen, wenn du sie brauchst, um voranzuschreiten, den nächsten Schritt auf deiner Reise zu tun und deiner Bestimmung entgegenzugehen. Du hast dieses Wissen vorher weder gebraucht, noch warst du dafür bereit. Und so hast du nur das gesehen, was du wissen musstest, und kein Fitzelchen mehr. Doch jetzt, da du bereit bist, wurde das Wissen enthüllt. Jeder Schritt führt zum nächsten. So einfach ist das. Und das Gleiche gilt für Damen und Jude.«
»Und was ist mit Jude? Steckt er auch immer noch in dieser Lebensspanne fest?«
Lotos nickt und blickt in die Ferne. »Jude ist auf seiner eigenen Reise. Vielleicht wirst du ihn eine Weile nicht zu Gesicht bekommen. Aber du wirst ihn eines Tages wiedersehen. Keine Angst.«
Mein Blick wandert über den Fluss, und ich bemerke, dass er dunkler, trüber geworden ist, und bin froh, dass ich sicher an seinem Ufer stehe und nicht so nah am Wasser. »Und das war’s dann also?« Ich wende mich zu ihr um. »Ist das die Reise? Ist sie vorüber – habe ich vollbracht, worum du mich gebeten hast?«
Lotos schüttelt den Kopf, und ihre wässrigen Augen blicken in meine. »Das war erst der Anfang, die erste Prüfung von vielen. Es liegt noch vieles vor dir. Du musst noch mehr entdecken.«
Und ehe ich fragen kann, was das heißt, ehe ich sie bitten kann, mir das zu erklären, beginnt der Boden zu wanken, der Fluss wallt und bäumt sich auf, während sich das Erdreich unter mir auf eine Weise zu verschieben und zu spalten beginnt, die mich an mein erstes kalifornisches Erdbeben erinnert.
Ich ringe darum, meine Stimme wiederzufinden, den Schrei auszustoßen, der in meiner Kehle feststeckt, als Lotos schlagartig verschwindet – sie löst sich einfach in Luft auf, während um mich herum unzählige rote Tulpen sprießen und an ihre Stelle treten.
Ein Zeichen, das nur eines bedeuten kann – Damen ist hier.
Hunderte von Tulpen beginnen sich zu wiegen, und ihre weichen Blütenblätter wispern leise, als er mitten durch sie hindurchläuft, auf mich zustürmt – mich in seine Arme reißt, von den Füßen hebt und mich herumwirbelt. Dann presst er mir die Lippen auf Gesicht, Haare, Mund und Wangen und fängt das Ganze noch einmal von vorn an. Eilig versichere ich ihm, dass ich ja da bin, dass ich es wirklich bin – Adelina/Evaline/Abigail/Chloe/Fleur/Emala/Ever – seine Liebe aus so vielen Leben, die so viele Namen trägt, aber stets nur ein und dieselbe Seele ist. Endlich begreift er die Wahrheit, nämlich dass ich ihn nie wirklich verlassen habe, trotz allem, was er sich eingeredet haben mag.
»Adelina!« Er hält inne und streicht mir die Haare aus dem Gesicht, während sein Blick hungrig über mich schweift und mich förmlich aufsaugt. Er lacht und begreift kopfschüttelnd, dass er nach wie vor in der Vergangenheit gefangen ist. »Ever!«, sagt er, küsst mich erneut und drückt mich fest an sich. »Du hattest Recht. Du hattest die ganze Zeit Recht. Es gab noch ein früheres Leben – ein ganzes Leben, von dem ich mir nicht einmal hätte träumen lassen.« Er mustert mich und ist nach wie vor ein bisschen überwältigt von den neuen Erkenntnissen. »Aber jetzt, da wir es wissen, was glaubst du, was es alles bedeutet?«, fragt er, als spräche er mit sich selbst.
Ich fahre mir durchs Haar und begreife, dass seine Frage ernst gemeint war, doch ich will unbedingt seine anhaltende Trauer gegen eine weitaus süßere Erinnerung austauschen.
»Also, zum einen heißt es, dass ich nicht immer Jungfrau war.« Ich lächele und denke an die schöne Nacht, die wir als Alrik und Adelina miteinander verbracht haben, und an den herrlichen Teil des anschließenden Morgens.
Er wirft lachend den Kopf in den Nacken und umfasst meine Taille fester. »Also, diese Stunden würde ich liebend gern im Pavillon noch einmal erleben.«
Erneut findet er meine Lippen und küsst mich warm und innig, ehe er mich nach Jude fragt.
»Jude oder Heath?«, frage ich und ziehe eine Braue hoch. »Du weißt, dass sie ein und derselbe sind?«
Er nickt, denn darauf ist er schon selbst gekommen.
Ich weiß nicht genau, was er jetzt von mir erklärt haben will. »Er wollte mich unbedingt begleiten«, beginne ich. »Und Lotos hat es erstaunlicherweise erlaubt. Sie meinte, die Antworten, die er sucht, seien dort zu finden.«
»Er hat dich damals auch geliebt, nicht wahr?« Damen zieht die Mundwinkel nach unten und sieht mich unverwandt an.
Ich nicke.
»Und der Rest – hast du den Rest gesehen? Alles?«
Ich hole tief Atem und nicke erneut.
Damen seufzt und will sich umdrehen, sich losmachen, aber ich lasse ihn nicht, sondern drücke ihn fest an mich.
Mit skeptischer Miene spricht er weiter. »Kein Wunder, dass Jude immer wieder in meinem Leben auftaucht. Er versucht uns zu trennen, aber nicht aus dem Grund, den ich vermutet habe. Er muss mich erkennen, spüren, wer ich bin, er weiß von innen heraus, was ich bin. Dass mir später gelungen ist, womit ich zunächst gescheitert bin, nämlich meine eigene Unsterblichkeit zu sichern, ehe ich mich um deine gekümmert habe.« Er schüttelt den Kopf. »Die ganze Zeit, all diese Lebensspannen, hat er versucht, mich aufzuhalten, hat versucht, dich vor mir zu bewahren.« Er reibt sich das Kinn und sieht mich müde an. »Ich dachte, ich würde vor Schmerz, dich verloren zu haben, sterben. Ich wollte wirklich sterben. Und glaub mir, wenn ich sage, dass ich meinen Tod regelrecht herbeigesehnt habe. Ohne dich war ich völlig leer, nur noch eine menschliche Hülle.« Er schluckt schwer und wischt sich mit der Hand über die Augen. »Heath hat mich gebeten, nicht gegen Ava und die Zwillinge – oder vielmehr die Personen, die sie damals waren – vorzugehen. Und als er mich nicht umstimmen konnte, hat er mich gebeten, stattdessen ihn zu nehmen. Er hat sich nie verziehen, sie zu mir gebracht zu haben. Hat nie seine Schuldgefühle verwunden. Denn er hat sie ja ebenso für sich gerufen wie für mich. Er konnte es nicht ertragen, dich zu verlieren. Hätte alles getan, um dich am Leben zu erhalten, selbst wenn er dann hätte zusehen müssen, wie du mich heiratest. Als du dann aber trotz all unserer Bemühungen gestorben bist, hat er rasch akzeptiert, was ich stur geleugnet habe. Was wir getan haben, war falsch und unnatürlich, etwas, was man besser sein lässt. Er hat das begriffen, ich nicht. Weder in diesem Leben noch in dem, das folgte und in dem ich schließlich einen Weg gefunden habe, zu beenden, was ich begonnen hatte.« Er schließt die Augen und sinniert über den Wahnsinn der letzten paar Hundert Jahre. »Hast du den Rest seines Lebens gesehen? Hast du gesehen, was aus ihm wird?«
Ich schüttele den Kopf.
Damen seufzt und streichelt mir mit abwesender Miene die Arme. »Er ist irgendwohin ganz weit weg gezogen und noch in jungen Jahren ganz allein gestorben. Ich fürchte, mein Karma ist in schlimmerem Zustand, als ich je geahnt hätte.«
Da ich nicht weiß, was ich sagen soll, sage ich nichts, doch das ist okay, weil Damen an meiner statt spricht.
»Und was jetzt? Warten wir hier – und hoffen, dass Jude oder Lotos noch einmal auftauchen? Oder gehen wir zurück und versuchen, die Taten aus früheren Leben wiedergutzumachen, die wir eigentlich nicht mehr ändern können? Es ist dein Auftrag, Ever. Deine Bestimmung. Deine Reise. Ich werde dich nicht mehr infrage stellen.«
Ich sehe ihn erschrocken an, denn seine Worte schockieren mich mehr als nur ein bisschen, da ich weiß, wie gern er Recht hat, wie gern er bestimmt, wo es langgeht – aber so ist das ja bei den meisten Leuten.
Doch er zuckt nur die Achseln. »Geht es nicht genau darum? Ist das nicht der Grund dafür, warum du in meinen Leben immer wieder auftauchst? Um mich über Kummer zu unterrichten, um mich zu lehren, ihn zu spüren, zu akzeptieren, aber nicht zu versuchen, ihn zu überlisten. Mich aus dem Dunkel ins Licht zu führen – mir die unverfälschte Wahrheit unserer Existenz zu zeigen – mir zu zeigen, dass ich die ganze Zeit auf dem Holzweg war und die Seele unser einziger unsterblicher Teil ist. Ist das nicht der Grund dafür, warum all das passiert ist, warum du und ich kein wahres Glück finden können, warum wir immer wieder mit unüberwindlichen Hindernissen konfrontiert werden? Ist das nicht der Grund dafür, warum wir jetzt hier stehen – weil ich komplett im Irrtum war und alles in kolossalem Ausmaß durcheinandergebracht habe?«
Stille legt sich über uns. Damen sinnt seiner Vergangenheit nach, während mich seine Worte sprachlos machen. Doch ich will rasch weiterkommen, will mich nicht länger damit aufhalten, und so möchte ich ihm sagen, dass ich keine Ahnung habe, was als Nächstes kommen könnte, dass ich es auch nicht besser weiß als er, als ich plötzlich ein kleines weißes Boot am Ufer ankern sehe, direkt neben uns. Ein Boot, das aus dem Nichts erschienen ist und vor einer Minute noch nicht da war.
Da ich weiß, dass es hier keine Zufälle gibt, keine Geschehnisse ohne konkrete Ursache, umfasse ich Damens Hand, führe ihn auf das Boot zu und sage: »Ich glaube, wir sollen eine Bootsfahrt machen.«