VIERUNDZWANZIG

Obwohl ich schon mal dort gewesen bin, sogar mindestens drei Mal, habe ich keine Ahnung, wie ich hinfinden soll. Keine Ahnung, wo es tatsächlich ist oder wie man es auf einer Landkarte findet.

Mein erster Besuch lief über das Erlebnis, das Damen in Gedanken mit mir geteilt hat. Der zweite war, als ich Roman telepathisch den Ort gezeigt habe, an den Drinas Seele gezogen ist. Und der dritte war, als Haven mich getötet hat und ich eine gefühlte Ewigkeit lang, die aber in Wirklichkeit wohl nur ein paar Minuten gedauert hat, in diesen schauerlichen Abgrund gestürzt bin.

So funktioniert das Schattenland.

Doch ich habe die Reise noch nie zu Fuß angetreten. Schließlich habe ich mich ja nie aufgemacht, um seine materielle Erscheinungsform aufzusuchen.

Und so greife ich in der Hoffnung auf Antworten auf alles zurück, was ich gelernt habe, auf die Dinge, die Ava mich gelehrt hat. Und statt es meinem Verstand zu gestatten, mit Fragen und Gedanken Sturm zu laufen, die nur zu Panik und Unsicherheit führen, ohne je zu einem hilfreichen Resultat zu gelangen, konzentriere ich mich lieber auf die innere Stille. Ich vertraue darauf, dass sie mich leiten und lenken wird.

Entschlossen, meinem Bauchgefühl zu folgen, meinem Herzen, meiner Intuition, der im Inneren verborgenen Wahrheit, bahne ich mir meinen eigenen Weg, geleitet allein von meinen Instinkten, doch als mir die Strecke allmählich zu lang wird, beschließe ich, das Ganze ein bisschen zu beschleunigen, und manifestiere mir eine Begleiterin.

Ich reite meine Stute, so weit sie zu gehen bereit ist, dann rutsche ich von ihrem Rücken, als sie kurz vor der Grenze stehen bleibt, der Stelle, wo das Gras in Matsch übergeht, wo die Bäume alle abgebrannt und kahl sind und der Regen unablässig herunterprasselt. Es ist genau so, wie ich es gedacht habe, diese schreckliche Gegend ist tatsächlich das Yin des Sommerlands – sein Schattenselbst – sein Gegenstück, das eine klare Abgrenzung zwischen beiden Welten darstellt – eine hell, eine dunkel – und in mir keinen Zweifel daran lässt, dass dies der Eingang zum Schattenland ist.

Ich klopfe meiner Stute aufs Hinterteil, dränge sie, sich grünere Weiden zu suchen, und sehe mich um, in der Hoffnung, Lotos oder vielleicht sogar eine Art Führer zu finden, aber schließlich begreife ich, dass ich ganz allein bin, und trotte in den Matsch hinein. Trotte durch ewige Weiten einer bedrückenden, kahlen, tristen, verlassenen und patschnassen Landschaft, während ich mich frage, ob je ein Punkt kommen wird, an dem sie zu etwas anderem wird und nicht mehr so aussieht. Dieser Punkt tritt allerdings viel früher ein als erwartet, da ich plötzlich auf eine so drastisch andere Szenerie stoße, dass ich mir die Augen wische und ein paar Mal blinzele, um mich zu vergewissern, dass ich nicht halluziniere, dass ich wirklich sehe, was ich zu sehen glaube. Und selbst dann habe ich noch Zweifel.

Ich schleiche langsam vorwärts, drehe mich aufmerksam nach allen Seiten um und versuche alles aufzunehmen. Es ist surreal, sicher eine durchgeknallte Fata Morgana, die ich selbst herbeifantasiert habe. Und doch, ganz egal, wie oft ich auch blinzele, wie lange ich auch den Atem anhalte und hinstarre, bleibt das Bild hartnäckig gleich, bis mir nichts anderes mehr übrig bleibt, als die Tatsache zu akzeptieren, dass die Szene vor meinen Augen nicht nur real, sondern auch ein exaktes Ebenbild meines Traums ist.

Des Traums, den mir garantiert Riley geschickt hat.

Des Traums, den ich erst kürzlich wieder hatte.

Des Traums, den ich als rein symbolisch abqualifiziert hatte und über den ich noch geraume Zeit nachdenken, den ich analysieren und interpretieren wollte, bis ich ihn schließlich in handliche Stückchen aufgeteilt hätte, die wirklich etwas aussagen.

Kein einziges Mal hätte ich gedacht, dass ich ihn wörtlich nehmen soll.

Kein einziges Mal hätte ich gedacht, dass eine ganze Landschaft aus rechteckigen Blöcken – ein Irrgarten aus Glaskäfigen – tatsächlich existieren könnte.

Ich hole tief Luft, gehe vorsichtig ein paar Schritte darauf zu und schaue genauer hin. Vor mir sehe ich eine Masse gepeinigter Seelen, von denen ich genau weiß, wie sie sich fühlen, nachdem ich selbst dort gewesen bin.

Allein.

Isoliert.

Bar jeder Hoffnung.

Umgeben von Stille, einer unendlichen Dunkelheit, gezwungen, ihre schlimmsten Fehler, ihre tragischsten Irrtümer und Missgriffe ebenso immer wieder zu durchleben wie die falschen Entscheidungen und egoistischen Handlungen, mit denen sie andere verletzt haben – gezwungen, ihre ganz persönliche Hölle unablässig aufs Neue durchzumachen. Sie erleben den Schmerz, den sie anderen zugefügt haben, als wäre es ihr eigener – genau wie einst ich, als ich an ihrer Stelle war. Sie haben keine Ahnung, dass es Schicksalsgenossen gibt – dass sie sich zwar allein fühlen mögen, sie jedoch ironischerweise unter ihresgleichen gefangen sind. Sie alle sind einem Ansturm von Bildern und jahrelanger Reue ausgesetzt, ohne jemals abschalten oder den Ton in ihren Köpfen abdrehen zu können.

Und gerade als ich mich frage, was ich von hier aus tun soll, habe ich die Erinnerung an Lotos’ Stimme im Ohr.

Es gibt viele, die auf dich warten. Darauf warten, dass du sie erlöst, dass du mich erlöst.

Und ich weiß, das ist es, was sie gemeint hat. Ich muss hier beginnen.

Ich nähere mich dem ersten Block und beobachte hektische Energie bei einer gequälten Seele, die ich nicht erkenne. Allerdings besteht kein Zweifel daran, dass es eine der von Roman verursachten sein muss, da Damen außer mir lediglich die Waisenkinder verwandelt hat. Erneut staune ich darüber, wie viele Unsterbliche Roman gemacht hat, und muss daran denken, was er einmal Haven geantwortet hat, als sie die Frage gestellt hat: Das weiß nur ich allein, und der Rest der Welt muss es erst herausfinden. Ganz zu schweigen davon, wie viele versehentlich oder zufällig hier gelandet sein könnten.

Ich schließe die Augen, presse die Handflächen aufs Glas und warte auf irgendein Zeichen, weitere Erläuterungen, eine Anweisung, die sich bald enthüllen wird, nur um von einem Ansturm so massiver Verzweiflung getroffen zu werden, dass ich es kaum aushalte. Sogleich folgt darauf ein Hauch bitterer Kälte, die so intensiv ist, dass ich unwillkürlich zurückzucke. Ich schaue auf meine frierenden, von Frostbeulen gezeichneten Hände und weiß, dass es, solange ich hier bin, keine Aussicht auf Heilung gibt.

Weil ich der Sache unbedingt ein Ende machen will, und zwar sowohl meinetwegen als auch ihretwegen, trete ich so fest ich kann gegen die Scheibe, und als das nicht funktioniert, hämmere ich mit beiden Fäusten dagegen. Nachdem ich mich ebenso erfolglos auch noch mit dem ganzen Körper dagegengeworfen habe, grabe ich tief in meiner Tasche und ziehe den Kristall hervor, den mir Ava gegeben hat, das kleine Stückchen Cavansit, das die Intuition und die spirituellen Heilkräfte schärft, das Denkvermögen verbessert, neue Ideen inspiriert, einem hilft, falsche Überzeugungen abzulegen, und dazu beiträgt, Erinnerungen aus früheren Leben ans Licht zu holen, und ich hoffe, der Stein kann mir auch hier helfen. Als meine Hand aufleuchtet und die Handfläche heilt, als meine Haut diese strahlende, goldgesprenkelte violette Schattierung ausstrahlt, die mir schon zuvor aufgefallen ist, weiß ich genau, was ich tun muss.

Ich nehme die scharfe Kante, die gezackte, schmal zulaufende Spitze, und ziehe sie erst senkrecht und dann waagerecht über eine Seite der Glasscheibe, wobei ich unter dem hohen, schrillen Quietschen zusammenzucke, das klingt wie ein Fingernagel auf einer Schiefertafel, doch ich weiß, dass ich es geschafft habe, als das Gefängnis zusammenbricht, in tausend Scherben zerfällt und ein kühler Lufthauch an mir vorbeizieht, ehe die eingekerkerte Seele herauskommt.

Mein Herz hämmert heftig, als die Seele vor mir schwebt, sich aufrichtet und sich zu einem gemischten Sortiment von Charakteren entfaltet – das ganze Spektrum der Repräsentationen aus ihren früheren Leben, von denen ich jedoch keine erkenne. Sie stößt einen Schwall bunter Farben aus, dann fliegt sie davon, hoch in den Himmel hinein.

Ich schnappe nach Luft und bin erstaunt über das, was ich soeben mit angesehen, was ich gerade getan habe. Schließlich gehe ich zum nächsten Glaskubus und wiederhole das Ganze und dann wieder und wieder und wieder. Ich lasse eine gefangene Seele nach der anderen frei und habe zwar keine Ahnung, wohin sie gehen, doch ich nehme an, dass es überall besser ist als hier.

Und dann, als ich gerade zur nächsten weitergehe, finde ich ihn.

Damen.

Aber es ist überhaupt nicht so, wie ich erwartet habe.

Statt ebenso gefangen zu sein, wie ich gefürchtet habe, spaziert er von Block zu Block.

Das Haar wild zerzaust, die Augen gequält und rot gerändert, bittet er mit reumütiger Stimme um Vergebung für alles, was er getan hat.

Bittet um Vergebung dafür, dass sie hier sind.

»Es ist nicht deine Schuld«, sage ich und gehe langsam auf ihn zu. »Du hattest nichts damit zu tun. Roman hat sie verwandelt. Du weißt ja, wie stolz er auf das Elixier war, wie gern er es großzügig ausgegeben oder zumindest mit denen geteilt hat, die er für würdig erachtet hat, während du es nur den Waisen und mir gegeben hast. Es sei denn …« Ich schlucke schwer und sehe ihn an, während mir ein völlig neuer Gedanke in den Sinn kommt, von dem ich hoffe, dass er reine Paranoia und absolut unzutreffend ist. »Es sei denn, es gab noch andere, von denen du mir nichts erzählt hast.« Geräuschvoll sauge ich den Atem ein.

Ich werde erst wieder entspannter, als er mich betrübt ansieht und mir eine Antwort gibt. »Sechs Waisen. Und du. Das ist die Gesamtsumme meiner persönlichen Hinterlassenschaft. Aber letztlich spielt es doch gar keine Rolle, wer ihnen das Elixier gegeben hat, es spielt keine Rolle, wer sie verwandelt hat, denn all das hier« – er macht eine weite Armbewegung und zeigt dabei mit der Hand in alle Richtungen – , »all das, was du hier siehst, geht auf mich zurück. Ich war der Erste. Ich habe den Keim gelegt. Roman wäre nie so weit gekommen, wenn ich nicht gewesen wäre. Also, du siehst, Ever, es ist alles meine Schuld. Genau wie Lotos gesagt hat: Ich bin der Grund, und unsere Liebe ist das Symptom. Ich konnte dich nicht gehen lassen. Konnte nicht mit dem Schmerz umgehen, ein Leben ohne dich verbringen zu müssen. Und während du, meine süße Ever, meine liebste Adelina, sehr wohl die Heilung sein könntest, muss ich tun, was ich kann, um mein Karma aufzubessern und meine Fehltritte zu korrigieren. Welcher Ort könnte dazu wohl besser geeignet sein als dieser hier?«

Ich sinne kurz über seine Worte nach, während ich mir sorgfältig ein paar eigene überlege. »Nun ja«, sage ich mit ruhiger, gelassener Stimme, ohne je den Blick vom eleganten Schnitt seiner Gesichtszüge abzuwenden, »nach allem, was ich mitgekriegt habe, macht man es am besten wieder gut, indem man sie freilässt. Das ist so ziemlich alles, was wir momentan tun können.«

Ich zeige ihm den Kristall und demonstriere ihm, wie ich damit die Scheiben durchgeschnitten und die Seelen freigelassen habe. Dann bedeute ich ihm, mir zu folgen, woraufhin er die Hände auf die Scheiben legt und im Stillen um Vergebung fleht. Sein Fleisch wird erst rot und wirft Blasen, ehe es schwarz wird und fast mumifiziert wirkt, denn er lehnt den von mir angebotenen Kristall ab, der ihn heilen würde, da er lieber leidet, überzeugt davon, dass er es verdient hat, während er mir vom einen zum anderen folgt. Mehrfach wiederholen wir den Vorgang – Damen bezeugt seine Reue, während ich den Glaskäfig zertrümmere, damit eine weitere Seele entfliehen kann.

Als wir zum nächsten kommen, halten wir inne, da wir augenblicklich etwas Ungewöhnliches spüren. Schlagartig nehmen wir etwas wahr, das anders ist als bei den Vorgängern. Und obwohl die Energie im Inneren des Glaskäfigs ebenso aufgewühlt ist wie bei allen anderen und wütend herumtobt, indem sie so schnell von oben nach unten und von links nach rechts saust, dass man sie überhaupt nicht richtig erkennen kann, sondern nur einen verschwommenen Fleck sieht, ist es doch eine Energie, die wir beide sofort erkennen.

Daher ziehe ich mich zurück. Trete beiseite.

Diese Seele muss Damen befreien, nicht ich.

Auch wenn wir alle ein und dieselbe Vergangenheit teilen, eine lange, verwickelte Geschichte der Eifersucht, die stets mit Mord endet, dem Mord an mir, teilen die beiden doch gemeinsame Erinnerungen, in denen ich nicht vorkomme und die nichts mit mir zu tun haben – und die nicht allesamt schlecht sind.

Ich reiche ihm den Kristall und höre zu, wie er sie im Stillen anruft, telepathisch, doch ich höre es trotzdem. Und als er die Hände rechts und links auf den Glaskäfig legt, wird alles ruhig.

Damen?, ruft sie, da sie seine Gegenwart spürt, seine Energie, oder vielleicht auch nur, weil sie sich ihn so sehr herbeiwünscht. Vielleicht ruft sie seit dem Tag nach ihm, an dem ich sie umgebracht und ihre Seele hierhergeschickt habe.

Ich bin da. Er schließt die Augen und presst die Stirn gegen die Scheibe, ohne dabei die Hände von den gläsernen Seiten zu nehmen. Ich habe dich im Stich gelassen. Dich in so vieler Hinsicht im Stich gelassen. Dich nicht so geliebt, wie du es gewollt und gebraucht hättest. Und auch wenn ich dein Leben gerettet und dich vor der Pest bewahrt haben mag, habe ich mich am Ende leider in Dinge eingemischt, die mich nichts angingen, und dadurch habe ich dich zu dem hier gemacht.

Durch seinen Atem beschlägt das Glas, sodass er mit dem Finger darüberwischen muss.

Drina Magdalena, du bist nicht mehr Poverina. Also bitte geh. Sei frei. Es gibt andere Orte für dich. Ich war nie dazu bestimmt, dein Schicksal zu sein.

Er setzt den Kristall auf die Scheibe und zieht ihn auf jeder Seite einmal nach unten und einmal oben quer rüber. Dadurch zerbricht die Scheibe in dünne Streifen, die sich in kleinen Scherbenhaufen zu seinen Füßen sammeln.

Ich wappne mich. Mache mich auf so gut wie alles gefasst. Rechne mit einem wütenden Energiewirbel, der – falls die Vergangenheit als Indikator dienen darf – sich wahrscheinlich sofort auf mich stürzen wird.

Weshalb ich überrascht bin, als sie stattdessen ganz langsam herausquillt.

Ihre Energie schwebt vor uns, dehnt und streckt sich, wobei sie sich zuerst kurz zu einem Abbild meiner Cousine Esme formiert, das jedoch nur ein paar Sekunden lang anhält, bevor sie zu ihrer letzten Inkarnation wird, der strahlend schönen, rothaarigen Drina mit den grünen Augen – eine so hinreißende Schönheit, dass nicht einmal der Tod sie verunstalten kann.

Sie schwebt näher an Damen heran und lässt den Blick über ihn schweifen, saugt ihn förmlich auf, während ein stiller Austausch zwischen ihnen stattfindet. Und obwohl ich es hören kann, obwohl keiner von beiden es vor mir zu verbergen sucht, wende ich mich trotzdem ab, da ich nicht in ihre Intimsphäre eindringen will. Ich fange nur etwa jedes dritte Wort auf, sodass ihr Dialog ungefähr folgendermaßen klingt:

Entschuldige – verzeihe dir – verzeih mir – falsch – vergeudet – irregeleitet – schade – und dann wieder zurück zu Entschuldige.

Sie greift nach ihm, umfasst sein Gesicht mit beiden Händen und verzieht den Mund, als er unter ihrer Berührung unwillkürlich zusammenzuckt. Unter der abgrundtiefen Reue, die sie in seinen Augen erkennt, verdüstert sich ihre Miene.

Als sie sich mir zuwendet, fällt dies ganz anders aus, als ich erwartet habe. Die gewohnte Mischung aus Hass, Spott und Drohungen ist von sanfter, leiser Ehrfurcht abgelöst worden.

Ich hätte es schon beim ersten Mal, als ich dich getötet habe, wissen müssen, denkt sie. Ich hätte bereits damals begreifen sollen, dass eure Liebe selbst ohne dich an seiner Seite nie gestorben ist. Es mag mir ja gelungen sein, ihn mir für eine Weile zu borgen, aber er war nie wirklich mein, und es hat nie besonders lange gedauert, bis er sich wieder auf die Suche nach dir gemacht hat. All die Jahre hindurch, vom ersten Moment an, in dem er dich als Adelina kennen gelernt hat, war sein Herz für immer vergeben. Er gehört allein zu dir. Du und Damen seid füreinander bestimmt. Und es war dumm von mir, mich dazwischenzudrängen. Seufzend schüttelt sie den Kopf und streckt die Hand aus, als wollte sie mich berühren, doch dann muss sie wohl an Damens Reaktion denken und lässt den Arm wieder sinken.

Ich weiß nicht, wer erstaunter ist, sie, Damen oder ich, als stattdessen ich vortrete, nach ihrer Hand greife und sie fest drücke. Auf einmal weiß ich, warum Damen vorhin so zusammengezuckt ist – es ist weniger wegen der Kälte, sondern vielmehr wegen ihrer sirrenden Energie, der puren, vibrierenden Intensität, an die man sich nur schwer gewöhnen kann.

Die Worte strömen direkt in meinen Kopf, als sie denkt: Wenn du mir verzeihen kannst, gehe ich schon bald weg.

Ich blicke in die Augen der Person, die mich wieder und wieder getötet hat. Die versucht hat, mich loszuwerden, die Welt von mir zu befreien, nur um festzustellen, dass sie es nicht konnte. Ganz egal, wie sehr sie sich auch angestrengt hat, ich bin immer wieder zurückgekehrt. Und zu meinem Erstaunen muss ich feststellen, dass ich sie nicht mehr länger als Feindin betrachten kann. Jetzt, da ich die Wahrheit kenne, da ich weiß, dass wir verbunden sind, dass ich ebenso ein Teil von ihr bin wie sie einer von mir, kann ich sie nicht mehr hassen. Und obwohl dies das Ende zu sein scheint, ist dieser Abschied wahrscheinlich nur vorübergehend. Ich bin mir sicher, dass wir uns eines Tages wiedersehen werden. Ich hoffe nur, sie kann sich einen Teil des Wissens bewahren, das sie erworben hat.

Sie lächelt, und ihre Miene leuchtet derart auf, dass sie regelrecht strahlt. Zuerst denke ich, es ist eine Reaktion auf das, was ich gerade gedacht habe, aber dann sehe ich ihren Blick über mich wandern, während sie Damen bedeutet, es ihr nachzutun.

Schau mal – du leuchtest! Auf einmal sieht sie verwirrt drein. Aber … wie kann das sein? Unsterbliche leuchten nicht.

Damen blinzelt, kann jedoch nicht sehen, was ich sehe – was sie sieht –, nämlich die zarten violetten Umrisse, die mich auf allen Seiten umgeben.

Drina wartet auf eine Erklärung von mir, doch da ich nicht einmal ansatzweise weiß, was ich dazu sagen soll, verziehe ich lediglich achselzuckend den Mund.

Und Roman – hast du ihn auch hierhergeschickt? Sie sieht mich unverwandt an.

Ich will schon betonen, dass nicht ich Roman umgebracht habe und ich im Gegensatz dazu, was manche Leute meinen, keine wahnsinnige unsterbliche Mörderin bin. Doch ich begreife sofort, dass zwei von dreien kaum ein Rekord ist, dessen man sich brüsten oder den man gar verteidigen könnte. Und so schlucke ich meine Entgegnung hinunter und nicke zu den letzten beiden Glaskäfigen hin.

Und genau wie vorhin, als Damen sich Drinas Glaswürfel genähert hat, hört alle Bewegung auf, als Drina zu Romans Gefängnis tritt und er ihre Gegenwart spürt und nach ihr ruft. Sowie Damen die Scheibe aufgebrochen hat, kommt Roman in einem wütenden Energiestoß herausgeschossen, der sich immer weiter ausbreitet und mehr und mehr Raum einnimmt, wobei er ein paar Sekunden als der hübsche Frauenheld Rhys erscheint, ehe er sich zu dem Bild fügt, das er als der noch hübschere und noch verführerischere Roman abgegeben hat. Alles ist da, das goldblonde, zerzauste Haar, die durchdringenden blauen Augen, die gebräunte Haut, die gefährlich tief sitzenden verwaschenen Jeans und das halb aufgeknöpfte weiße Leinenhemd, das seinen perfekt trainierten Oberkörper freigibt.

Obwohl Damen und ich direkt vor ihm stehen, bereit, alles zu erklären und unser Handeln zu verteidigen, eben unser Möglichstes zu tun, um einer womöglich heikel werdenden Situation zuvorzukommen, hat er – wie im richtigen Leben – nur Augen für Drina.

Er erkennt nur sie.

Doch anders als in den letzten sechs Jahrhunderten erkennt sie ihn endlich auch.

Die beiden werden förmlich zueinander hingezogen und schauen sich so lange in die Augen, dass Damen meine Hand ergreift und zurückweicht. Wir sind schon fast am letzten Block angelangt, als Roman ihn ruft: Bruder.

Bald gefolgt von: Freund.

Und dann: Feind.

Doch Letzteres wird von einem breiten Lächeln mit strahlend weißen Zähnen begleitet.

Wir sehen Roman an. Registrieren, wie das Lächeln sein Gesicht leuchten, seine Energie aufblitzen lässt, sodass sie funkelt und glitzert, während er fest die Augen schließt und sich auf eine lange Reihe von Worten konzentriert, die wir hören sollen.

Eine lange Reihe von Worten, die für mich in keinerlei Zusammenhang stehen und mir erst mal überhaupt nichts sagen.

Eine lange, wirre Liste von Kräutern, Tinkturen, Kristallen und … Mondphasen.

Ich schnappe nach Luft, reiße ungläubig die Augen auf und starre Damen an, um zu sehen, ob er hört, was ich höre, und versteht, was für mich soeben erst klar geworden ist.

Es ist das Gegengift!

Roman hält freiwillig, unaufgefordert und ohne bedrängt, manipuliert oder gefoltert worden zu sein, seinen Teil der Abmachung ein.

Der Abmachung, die wir nur Minuten, bevor er getötet und hierhergeschickt wurde, getroffen haben.

Die Abmachung, in der ich eingewilligt habe, ihm das zu geben, was er am meisten wollte, und zwar im Gegenzug für das, was ich am meisten wollte.

Drina im Ausgleich für das Gegengift, das es Damen und mir ermöglicht, so zusammen zu sein, wie wir es als Alrik und Adelina waren – ohne dass wir einen Energieschleier bräuchten oder Angst davor haben müssten, dass unsere DNA sich vermischt, ohne das Risiko, dass Damen sterben muss.

Roman hält sein Wort.

Er ist so nett, es noch einmal zu wiederholen und sich zu vergewissern, dass wir es mitgekriegt und es uns sicher eingeprägt haben, denn er zieht nun weiter, mit Drina an seiner Seite, und er rechnet nicht damit, uns je wiederzusehen, zumindest nicht in absehbarer Zeit. Dies ist unsere letzte Chance. Die Gelegenheit wird sich nicht wieder bieten.

Ich bin so voller Dankbarkeit, so von Glück überwältigt, dass mir die Augen brennen und ich einen Kloß im Hals bekomme und keine Ahnung habe, was ich machen oder sagen soll.

Aber ich muss gar nichts sagen. Roman und Drina haben sich bereits an den Händen gefasst und zum Gehen gewandt. Sind bereits unterwegs zum nächsten Glaskubus, wo sie, ohne uns noch zu benötigen, ihre Energie so bündeln, dass die Scheiben weit aufspringen und Haven aus ihrer ganz persönlichen Hölle ausbrechen kann.

Sie schießt schnurstracks auf mich los. Ein wütender Ball aus zornesroter Energie, der allem Anschein nach immer noch voller Groll gegen mich ist.

Immer noch mir die Schuld gibt.

Immer noch vorhat, ihre letzten Worte mir gegenüber wahrzumachen – ihre Drohung, mich auszulöschen.

Damen schreit auf, wirft sich mit ausgebreiteten Armen zwischen uns und tut sein Bestes, mich abzuschirmen und vor allem zu verteidigen, was sie im Schilde führen mag.

Doch kaum ist sie bei uns angelangt und schwebt nur noch um Haaresbreite entfernt vor uns, da hält sie inne, und vor meinen erstaunten Augen geht ihr zornesrotes Glühen in ein wesentlich weicheres, rosiges Pink über. Sie wechselt zwischen sämtlichen Verkörperungen ihrer früheren Leben ab, beginnend mit meiner Cousine, Esmes Schwester Fiona, ehe sie einige weitere durchmacht, die ich anhand der vertrauten Szenen aus meinen früheren Inkarnationen vage wiedererkenne. Erstaunt stelle ich fest, dass sie die ganze Zeit um mich gewesen ist, meist etwas weiter weg, nie als enge Freundin oder gar Schwester, aber trotzdem, wow, ich hatte ja keine Ahnung.

Ich beginne mich zu entschuldigen, will ihr vermitteln, wie unendlich leid es mir tut, aber sie ist viel zu ungeduldig und winkt rasch ab. Sie hat mir noch mehr zu zeigen, sie ist noch längst nicht fertig, und so durchläuft sie vor meinen Augen sämtliche Erscheinungsformen aus ihrem früheren Leben. Alles von der Primaballerina über die geschniegelte Popper-Zeit bis hin zur Gothic-Phase, in der sie war, als wir uns kennen lernten, und der kurzlebigen Möchtegern-Drina-Phase, die darauf folgte, zu der Emo-Phase direkt danach und dem Rock’n’Roll-Gypsy-Look in schwarzem Leder und Spitze, der nicht lange anhielt, ehe sie schließlich zur supergruseligen unsterblichen Hexe wurde, wie Miles es einst genannt hat – und in der sie ihr Leben beendete –, bis sie schließlich mit einer Version aufwartete, in der ich sie noch nie gesehen habe. Darin ist ihr Haar lang, glänzend und gepflegt, ihre Augen sind hell und klar und ihre Kleidung etwas gewagt, typisch Haven eben, aber nicht so, dass es auf den ersten Blick extrem auffällig wäre oder Wut ausstrahlen würde. Und die größte Veränderung von allen ist das strahlende Lächeln, das ihr Gesicht aufleuchten lässt und mir verrät, dass sie endlich zu sich selbst gefunden und innerlich Frieden geschlossen hat.

Dass sie sich endlich selbst mag.

Sie zeigt mit dem Daumen auf Damen, Roman und Drina, eine Dreiecksbeziehung, die sich über viel zu viele Jahrhunderte hingezogen hat, schüttelt den Kopf und verdreht die Augen. Dann stößt sie einen langen, sehnsüchtigen Seufzer aus, der schon bald zu einem ansteckenden Lachen wird, dem ich nicht widerstehen kann. Wir kichern beide auf eine Art, die mich an bessere Tage erinnert, die wir gemeinsam mit Miles am Lunchtisch verbracht haben, an faule Nachmittage, an denen wir uns mit Stapeln von Zeitschriften in ihrem Zimmer verkrochen haben, oder Freitagabende, die wir in meinem Whirlpool relaxt haben, nachdem wir uns eine große Pizza einverleibt hatten.

Ihr Blick wandert zurück zu mir, und sie denkt: Ich hasse dich nicht. Aber ich will nicht lügen, ich hab dich mal gehasst. Und zwar nicht nur in diesem letzten Leben, sondern auch in den meisten anderen. Aber das lag bloß daran, dass ich so unglücklich mit mir selbst war und ich felsenfest davon überzeugt war, dass alle anderen es besser hatten, dass sie das hatten, was ich gebraucht hätte. Ich war mir sicher, dass ich auch glücklich hätte sein können, wenn ich nur auch das bekommen hätte, was die anderen hatten. Kopfschüttelnd verdreht sie die Augen über diesen kompletten Blödsinn. Auf jeden Fall wirst du froh sein zu hören, dass das jetzt alles vorbei ist. Ich bin jetzt nicht nur in einer Hinsicht frei. Und nun freue ich mich auf das, was als Nächstes kommt.

Ich nicke nur, denn ihre Worte sind so ziemlich das glatte Gegenteil dessen, worauf ich mich gefasst gemacht habe, weshalb ich mich nur umso mehr über sie freue. Es sind Worte, die ich nicht so schnell vergessen werde.

Und dann, im nächsten Moment, zeigt Drina irgendwohin. Haven quiekt, Roman grinst, und sie fassen sich alle drei an den Händen und laufen auf etwas zu, was nur sie sehen können, und verschwinden, ohne sich noch einmal umzusehen, in einem strahlend weißen Licht.