ACHT

Drei Spiele, ein Nickerchen – Damen, nicht ich – und zweieinhalb Flaschen Elixier später erscheint sie.

Und es ist buchstäblich so – sie erscheint einfach. Im einen Moment sind wir noch ganz allein, ohne eine Spur von jemand anders, und im nächsten steht sie schon vor uns und fixiert mich mit ihren uralten Augen, als wäre sie nie weg gewesen.

»Damen!« Ich werfe einen Blick auf ihn, sehe, wie er sich im Schlaf bewegt und Anstalten macht, sich umzudrehen. Ich packe ihn am Bein und schüttele es ein-, zweimal heftig, während ich immer wieder rufe: »Damen, wach auf! Sie ist da

Ich sage es, als verhieße allein ihr Anblick etwas Großes – als hätte ich soeben den Weihnachtsmann mit einem Schlitten voller Geschenke und einer Truppe fliegender Rentiere erspäht.

Damen schießt in die Höhe, wischt sich rasch mit einer Hand die Augen, ehe er nach mir greift. Eine Verzögerung, durch die er mich verfehlt und die Chance verpasst, mich zu sich zurückzuziehen, während ich mich aufrappele und auf die Alte zugehe. Ich habe zwar keine Ahnung, was ich zu ihr sagen soll, aber ich habe schon zu lange im Regen gewartet, um mir die Gelegenheit entgehen zu lassen.

»Du …«, beginnt sie, während sie langsam den Arm hebt, doch ich unterbreche sie auf der Stelle. Sie braucht jetzt nicht wieder ihren Singsang abzuspulen, nicht, nachdem ich alles schon gehört habe und es wirklich nicht noch einmal hören muss.

»Was das angeht …« Ich stelle mich vor sie, sorgsam darauf bedacht, einen Puffer von ein, zwei Metern zwischen uns zu lassen, obwohl sie in ihrem fortgeschrittenen Alter sicher schlechte Karten hätte, wenn sie mich ernsthaft angreifen wollte. »Ich habe das Lied gehört und mir den Text eingeprägt, und glauben Sie mir, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber meinen Sie, wir könnten auf Englisch kommunizieren? Oder zumindest in der Form von Englisch, an die ich gewöhnt bin, der Form, die einen Sinn ergibt?«

Ich lasse den Blick über sie schweifen, studiere die silbernen Haarsträhnen, die irritierenden Augen, die Haut, die so dünn und durchscheinend wirkt, als könnte sie jeden Moment reißen. Ich suche nach einer Reaktion, irgendeinem Anzeichen dafür, dass sie sich durch meine Worte beleidigt fühlt, aber ich entdecke keine andere Reaktion als einen Blick aus wässrigen Augen, der sich auf Damen richtet, als er den Platz an meiner Seite einnimmt. Die Schultern gestrafft, die Beine angespannt und die Füße locker aufgestellt, ist er bereit, sofort loszuspringen und mich gegen diese seltsame Hundertjährige zu verteidigen, falls es nötig werden sollte.

Ein Gedanke, der mir oberflächlich betrachtet derart albern erscheint, dass ich vor Lachen losprusten könnte, wenn das Ganze nicht so ernst wäre.

Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, zumindest soweit das in dem knietiefen Matsch möglich ist, und denke daran, dass bei einer meiner letzten Begegnungen mit der alten Frau auf einmal Misa und Marco hinter ihr hervorkamen, doch heute sind sie nicht da.

Momentan gibt es nur Damen, die verrückte Alte und mich. Und soweit ich es beurteilen kann, überrascht es sie nicht im Geringsten, dass wir beide hier gewartet haben.

Ich will gerade wieder etwas sagen, damit wir weiterkommen und ich das bekomme, weswegen ich hier bin – damit ich mein Gewissen von dem quälenden Zweifel befreien kann, dass Damen schließlich doch Recht behalten könnte und dies alles eine Art grausamer kosmischer Witz ist – dass ich in übelster Art verschaukelt werde –, dass keiner von uns vorher gelebt hat –, als sie mich ansieht und sagt: »Adelina.«

Das ist es. Sie sagt einfach: »Adelina.« Dann senkt sie die Lider und verneigt sich leicht, die Handflächen fest auf die Brust gedrückt, ihre Bewegung auf mich gerichtet, als wäre sie die Betende und ich eine verehrte Gottheit.

»Ähm, also, die Sache ist die«, beginne ich, unsicher, wie ich auf eine solch peinliche Geste reagieren soll, die ich zu übergehen suche, indem ich so tue, als wäre sie nicht geschehen. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Mein Name ist Ever, und das ist Damen …« Damen wirft mir einen Blick absoluten Entsetzens zu, da er nicht mit hineingezogen werden wollte. Also sehe ich ihn stirnrunzelnd an und nehme mir noch die Zeit, dies mit einem kurzen Augenrollen zu garnieren, bevor ich mich wieder der alten Frau zuwende. »Wie Sie ja bereits wissen«, sage ich mit einem erneuten Seitenblick auf Damen, um ihn daran zu erinnern, dass seine Identität ihr gegenüber wohl kaum ein Geheimnis ist. Ja, sie scheint alles über ihn zu wissen oder vielmehr zumindest seinen vollständigen Namen. »Und ich habe keine Ahnung, wer diese Adelina ist oder was sie mit mir zu tun haben könnte, also könnten Sie mich vielleicht aufklären, was Sie meinen?«

»Ich bin Lotos«, sagt sie mit Flüsterstimme, während sich ihr Blick zu mir hebt.

Okay, das ist zwar nicht genau das, was ich gefragt habe, aber immerhin ein Fortschritt. Nehme ich an.

»Damen ist der Grund.« Sie dreht ihm den Kopf zu. »Eure Liebe ist das Symptom.« Sie sieht zwischen uns hin und her. »Aber du, Adelina bist die Heilung. Der Schlüssel. « Sie fixiert mich.

O Mann.

Zwar verkneife ich mir das Seufzen, doch ich denke trotzdem: Jetzt geht das schon wieder los – nichts als rätselhaftes Gefasel, das hinten und vorn keinen Sinn ergibt.

»Hören Sie, es ist so, wie ich gerade gesagt habe – mein Name ist Ever, nicht Adelina. Ich habe noch nie Adelina geheißen. Ich war schon Evaline, Abigail, Fleur, Chloe und Emala, aber nie Adelina. Sie müssen mich verwechseln.«

Seufzend wende ich mich ab, da mich das Spielchen langsam nervt. In Damens Blick entdecke ich einen Hauch Erleichterung, der jedoch rasch zu Zorn wird, als die Alte vortritt und mich am Ärmel packt.

»Hey«, sagt Damen in scharfem Ton, doch Lotos ignoriert ihn und umfasst meinen Arm noch fester, während sie mich eindringlich ansieht.

»Bitte. Wir haben so lange gewartet. Auf dich gewartet, Adelina. Du musst zurückkommen. Du musst die Reise machen. Du musst die Wahrheit finden. Es ist der einzige Weg, sie zu befreien. Mich zu befreien.«

»Wo sind Misa und Marco?«, frage ich, ohne zu wissen, warum. Vielleicht deshalb, weil sie die einzigen Dinge sind, die mir in dieser sonst surrealen Szenerie real erscheinen.

»Viele warten auf dich. Die Reise ist an dir. An dir und nur an dir.«

»Was für eine Reise?«, frage ich, wobei meine Stimme erbärmlich zittert. »Es tut mir leid, aber das klingt alles reichlich wirr. Wenn es so wichtig ist, dass ich das tue, obwohl ich nicht Adelina bin, dann könnten Sie vielleicht mit den Rätseln aufhören und es auf eine Weise erklären, die mir auch etwas sagt.«

»Die Reise zurück.« Sie neigt erneut den Kopf und lässt mich ihr silbernes Haar sehen, das nirgends gescheitelt ist.

»Zurück wohin?«, frage ich, während mir langsam die Hitze der Hysterie in die Wangen steigt. Ich muss meine Erregung ein oder zwei Stufen zurückfahren.

»Zurück zum Anfang. Zu der Szene, die du erst noch sehen musst. Zurück zum Ursprung. Du musst es sehen. Es erfahren. Es wissen. Alles. Aber sei gewarnt, es ist nur der Anfang. Die Reise ist lang und mühsam, doch die Belohnung ist enorm. Wahrheit erzeugt wahres Glück – doch nur die, welche reinen Herzens sind, dürfen danach greifen.« Mit einem Blick auf Damen fügt sie hinzu: »Die Reise ist an dir und nur an dir allein, Adelina. Damen ist dort nicht willkommen.«

Damen fällt ihr ins Wort. Er hat mehr als genug gehört. »Hören Sie, ich weiß nicht, was Sie hier veranstalten, aber …«

Sein Zorn wird vom überraschenden Anblick ihrer sich hebenden Handfläche gestoppt, gefolgt von seiner schockierten Miene, als sich die Hand auf seine Wange drückt. In der einen Sekunde schimpft er noch, und es ist ein halber Meter Abstand zwischen den beiden, während sich die Frau im nächsten praktisch schon gegen ihn presst und sich der Blick ihrer wässrigen Augen in ihn bohrt und ihm etwas übermittelt – irgendeine Botschaft oder Erinnerung, die allein für ihn gedacht ist.

Fasziniert sehe ich zu und frage mich, was zwischen ihnen abläuft. Nur eines weiß ich sicher, nämlich ganz egal, was es ist, es lässt sie auf eine Weise leuchten, dass sie auf einmal rundum von einem Lichtstrom umgeben ist. Das Farbspektrum wirkt derart intensiv, als käme das Licht aus solcher Tiefe, dass es einfach herausquellen muss, bis das Leuchten sie von allen Seiten umgibt.

Und während sie leuchtet, tut Damen das genaue Gegenteil. Seine sonst so strahlende Erscheinung scheint sich zu verfinstern und zu schrumpfen, bis er nur noch ein Schatten seiner selbst ist.

»Damen Augustus Notte Esposito«, sagt sie. »Warum verleugnest du mich?«

Unbegreiflicherweise ist er dermaßen verblüfft, dass er ihr nichts erwidern kann und seine eigene Stimme nicht findet, geschweige denn, dass er sich dem, was sie ihm vorsetzt, entziehen könnte. Ich will gerade eingreifen, als er den Kopf schüttelt, das Kreuz durchdrückt und sich zumindest so weit aus ihrem Bann befreit, dass er sprechen kann. »Sie sind verrückt. Sie täuschen sich, und Sie sind verrückt. Und auch wenn ich keine Ahnung habe, worauf Sie hinauswollen oder was Sie hier suchen, weiß ich zumindest, dass Sie sich von Ever fernhalten sollten. Ganz, ganz fern. Verstehen Sie mich? Sonst kann mich niemand dafür verantwortlich machen, was mit Ihnen geschieht, ganz egal, wie alt Sie angeblich auch sind.«

Falls er erwartet hat, dass sie nun klein beigibt oder vor Angst davonläuft, tja, dann ist er sicher genauso überrascht wie ich, dass sie stattdessen zu lächeln beginnt. Wir sehen zu, wie sich ihre Miene aufhellt, ihre Wangen breit werden und ihre Lippen sich öffnen und ein erstaunliches Zahnsortiment enthüllen – erstaunlich insofern, als die meisten von ihnen entweder grau oder gelb sind oder ganz fehlen.

Sie wendet sich von Damen ab und mir zu und nimmt meine Hand in ihre papiertrockene, während sie in selbstsicherem Tonfall zu sprechen beginnt. »Seine Liebe ist der Schlüssel.«

Ich sehe sie an und befreie mich aus ihrem Griff. »Haben Sie nicht gesagt, Adelina sei der Schlüssel?«

»Das ist ein und dasselbe«, erklärt sie nickend, als wäre das irgendwie logisch. »Bitte. Bitte zieh die Reise in Erwägung. Es ist der einzige Weg, um mich zu erlösen. Und um auch dich zu erlösen.«

»Die Reise zurück – zurück zum Anfang?«, frage ich mit plötzlichem Sarkasmus. »Wo genau beginnt diese Reise? Und wo endet sie?« Ich sehe sie an und registriere, dass sie nach wie vor von innen zu leuchten scheint.

»Die Reise beginnt hier.«

Sie zeigt auf unsere Füße oder vielleicht auf den Matsch, da bin ich mir nicht ganz sicher. Mittlerweile bin ich verwirrter als zu Beginn. Doch als sich unsere Blicke wieder begegnen, weiß ich, dass die Anweisung wörtlich gemeint ist – die Reise beginnt mitten in dem Matsch, in dem wir stehen.

»Und sie endet in der Wahrheit.«

Noch ehe ich ein weiteres Wort sagen kann, ehe ich um ein bisschen mehr Klarheit bitten kann, schlingt mir Damen einen Arm um die Taille und zieht mich weg.

Er zischt die Worte nur über die Schulter, ohne sie auch nur noch eines Blickes zu würdigen. »Niemand geht irgendwohin. Und belästigen Sie uns nicht noch einmal.«