SIEBENUNDDREISSIG
Ich hatte fest vor, zu Damen zu fahren.
Ich hatte fest vor, Sabine und Mr. Muñoz Gute Nacht zu sagen und sofort rüberzufahren.
Doch es lief nicht ganz so wie geplant.
Sabine und ich blieben lange auf. Richtig lange. Noch eine ganze Weile, nachdem Mr. Muñoz sich verabschiedet hatte und zu sich nach Hause gefahren war.
Wir hockten bis in die frühen Morgenstunden auf dem Sofa herum, futterten die restliche Pizza aus der Schachtel auf – ja, ich hab auch ein oder zwei Stücke gegessen und konnte kaum glauben, was ich mir die ganze Zeit habe entgehen lassen! –, und erzählten uns gegenseitig alles, was wir in den letzten Monaten erlebt hatten. Und auf einmal waren es nur noch ein paar Stunden, bis ich in der Schule sein musste.
Laut Mr. Muñoz habe ich absolut keine andere Wahl, als in der Schule zu erscheinen und entweder mit intensiver Zauberkraft auf die Unterlagen im Sekretariat einzuwirken oder übermenschliche Mühe aufzuwenden, um all das nachzuholen, was ich versäumt habe – oder beides –, wenn ich mir Hoffnungen darauf machen will, zusammen mit meiner Klasse den Abschluss feiern zu können.
Und so beschloss ich, mir – statt zu Damen zu fahren – noch ein paar Stunden dringend benötigten Schlaf in meinem alten Zimmer zu gönnen, da ich ausgeruht und fit sein wollte, wenn ich ihn besuche. Ich konnte ja nicht wissen, wie er darauf reagieren würde, mich wiederzusehen, die Frucht in der Hand. Aber natürlich stand fest, dass ich in Topform sein musste.
Sowie ich seinen schwarzen BMW auf dem Schülerparkplatz stehen sehe, wird mir klar, dass ich gar nicht so lange werde warten müssen. Offenbar erscheint er nach wie vor jeden Tag, besucht den Unterricht und verhält sich so, wie man es von einem Schüler erwartet, auch wenn ich mir nicht um alles in der Welt erklären kann, warum.
»Weil ich dir etwas versprochen habe«, sagt er und beantwortet damit die Frage in meinem Kopf, als er plötzlich neben mir auftaucht. Er hält mir die Tür auf und wartet, dass ich aussteige und zu ihm komme, doch zumindest für den Moment bleibe ich wie erstarrt sitzen.
Ich lasse den Blick über ihn wandern, genieße seinen Anblick und das Gefühl seiner Gegenwart, während der tiefe, nagende Schmerz in meinem Bauch mich daran erinnert, wie sehr ich ihn vermisst habe.
Trotz meiner Begeisterung über meine jüngsten Heldentaten – trotz des Triumphs, meiner Bestimmung gerecht geworden zu sein –, ohne Damen an meiner Seite verblasst das alles und fühlt sich hohl und leer an.
»Ich habe dich gesucht.« Er sieht mich mit durstigem Blick an, als wollte er mich aufsaugen, und sagt mir damit, dass er mich ebenso vermisst hat wie ich ihn. »Ich hab das ganze Sommerland abgesucht. Und obwohl ich dich nicht finden konnte, hab ich dich trotzdem gespürt. Daher wusste ich, dass dir nichts fehlt. Du warst weit weg – an einem Ort, den ich nicht ergründen konnte, aber du warst unversehrt. Und dieser Trost hat mich auf den Tag warten lassen, an dem du zu mir zurückfinden würdest.«
Ich schlucke schwer, schlucke an dem dicken Kloß vorbei, der jetzt in meinem Hals steckt. Ich weiß, ich sollte etwas sagen, irgendetwas, doch ich kann nicht. Das Einzige, was ich kann, ist, ihn anzustarren.
»Und, wann bist du zurückgekommen?« Er sieht mich weiterhin mit festem Blick an, und obwohl er sich darum bemüht, eine ruhige, gelassene Ausstrahlung zu wahren, fürchte ich, dass meine Reaktion das krasse Gegenteil ist.
Seine Frage reißt mich in einen Strudel – einen schrecklich nervösen Strudel. Ich grabsche nach meiner Tasche, fummele in meinen Haaren herum, kratze mich am Arm und rutsche auf dem Sitz hin und her, ehe ich mich schließlich an seiner ausgestreckten Hand vorbei aus dem Auto winde. Mein Blick schießt wild hin und her, auf der Suche nach einem sicheren Landeplatz, wie es ihn so ziemlich überall gibt außer bei Damen.
Ich atme abgehackt und zu schnell, als ich »Gestern« antworte. Eine so schreckliche Wahrheit, dass ich innerlich zusammenzucke.
Ich weiß genau, wie er das auffassen wird – nämlich auf die einzig mögliche Weise. Und so gern ich es auch leugnen würde, ich kann es nicht. Es führt einfach kein Weg an der Tatsache vorbei, dass ich seit einem ganzen Tag von meiner Reise zurück bin und noch nicht die Zeit gefunden habe, zu ihm zu kommen, bis er auf mich zugegangen ist.
Es führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass ich andere Leute ihm vorgezogen habe.
Eine ganze Menge anderer Leute, Jude eingeschlossen.
Damen steht neben meinem Auto und wägt dieses eine Wort sorgfältig ab, bis es dauerhaft und unauslöschlich wird wie ein versehentlicher Fußabdruck in frischem Zement, den ich nicht zu glätten oder dessen Haltbarkeit ich nicht zu tilgen suche.
Und obwohl ich weiß, dass ich etwas sagen muss, habe ich keine Ahnung, was dieses Etwas sein könnte.
Er sieht mich an, offenkundig gespalten zwischen dem Gefühl, dadurch noch verletzter und noch verwirrter zu sein, und dem Wunsch, sich irgendwo in der Mitte zu treffen.
»Ich hatte Angst davor, dir zu begegnen«, gestehe ich ihm. »Vor allem, weil ich nicht wieder mit dir streiten möchte. Das könnte ich nicht ertragen. Trotzdem wissen wir, glaube ich, beide, dass es genau darauf hinausläuft. Doch vorher sollst du wissen, dass ich den Moment nicht etwa deshalb hinausgezögert habe, weil ich dich nicht vermisst hätte …« Mir bricht die Stimme, da mein Hals wie zugeschnürt ist, und ich muss mich erst ein paar Mal räuspern, ehe ich weiterreden kann. »Bitte glaub niemals, dass du mir nicht gefehlt hättest.« Mir treten die Tränen in die Augen, und ich sehe ihn flehentlich an.
Doch statt zuzugeben, dass er mich auch vermisst hat, statt auf mich zuzugehen und mich zu trösten, wie ich es mir erhofft hatte, sagt er nur: »Warum hältst du einen Streit für so unvermeidlich?«
Er lässt den Blick seiner dunklen Augen über mich wandern und reißt sie erschrocken auf, als ich in meine Tasche fasse, das Päckchen heraushole, das mir Honor gegeben hat, und es ihm reiche. »Deswegen«, sage ich.
Er studiert das kleine, neutral eingepackte Etwas und lässt es von seiner Hand baumeln.
»Es ist das Kraut.« Ich sehe ihn an. »Es ist das schwer zu findende, ganz besondere seltene Kraut, das du für das Gegengift brauchst. Das Gegengift, das es uns erlaubt, so zusammen zu sein, wie wir es wollen, damit wir unser Leben als Unsterbliche fortführen können.«
Er ballt die Fäuste und knüllt dabei die Papierverpackung zusammen, während er mich so durchdringend ansieht, dass ich unwillkürlich ebenfalls die Fäuste balle und nach Luft schnappe. Da klingelt es zum ersten Mal, und das Geräusch scheucht alle unsere Mitschüler auf und lässt sie eilig dem Schulhaus zustreben, während Damen und ich wie angewurzelt stehen bleiben. So dringend ich auch in meine Klasse gehen und anfangen muss, den ganzen Schaden zu beheben, den meine lange Abwesenheit angerichtet hat, müssen wir zuerst das hier zu Ende bringen. Wir müssen zu einem Schluss kommen, bevor ich irgendwohin gehen und etwas anderes tun kann.
»Aber ich bin immer noch der festen Überzeugung, dass dieses Leben kosmisch gesehen falsch ist. Und selbst wenn wir das Gegengift nehmen, wird irgendwas anderes auftauchen, das uns voneinander trennt. Der einzig wahre Weg, unserer Bestimmung zu folgen – für immer zusammen zu sein –, ist, unsere Unsterblichkeit rückgängig zu machen. Die Frucht zu essen.« Ich schaue auf unsere Füße herunter, betrachte den dunkel glänzenden Lack seines Wagens, spähe zu dem in Bälde verschlossenen Tor hinüber und höre die Glocke zum letzten Mal läuten, ehe ich ihm wieder in die Augen sehe. »Damen, ich habe die Mittel, das jetzt zu tun. Ich habe den Baum gefunden. Es gibt ihn wirklich.«
Er reagiert nicht, bewegt sich nicht und verzieht keine Miene.
»Ich war dort. Habe ihn mit eigenen Augen gesehen. Ich bin seinen gigantischen Stamm hinaufgeklettert, habe mich an seinen kilometerlangen Ästen entlanggehangelt …« Ich halte inne, da ich sicher sein will, seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben, ehe ich fortfahre, »und ich habe seine Frucht gepflückt.«
Ich sehe ihn weiterhin unverwandt an, aber nichts passiert. Nichts deutet daraufhin, dass er mich verstanden hat.
»Deshalb war ich ja so lange weg. Es war eine lange, mühsame, gefährliche, einsame und doch absolut wundervolle Reise. Ich musste einen Ansturm von Jahreszeiten durchstehen, um dorthin zu gelangen, einen Winter überleben, der so unbarmherzig war, dass ich mir sicher war, als Eisklotz zu enden, ich wurde von Regen dermaßen durchnässt, dass ich mir sicher war, nie wieder zu trocknen, und doch, obwohl ich wirklich manchmal daran gezweifelt habe, ob ich ans Ziel kommen würde, habe ich es geschafft. Ich habe geschafft, was ich mir vorgenommen hatte. Und jetzt bin ich hier und kann dir sagen, dass der Baum kein Mythos ist, wie du meinst. In Wirklichkeit ist er sogar besser als sein Mythos. Weißt du noch, wie Lotos gesagt hat, der Baum sei immertragend? Sie hatte Recht. Der Baum trägt und trägt und trägt. Das Gerücht von wegen Eine-Frucht-alle-tausend-Jahre ist der reine Humbug. Soweit ich es miterlebt habe, gibt es keinerlei Knappheit. Nur Überfluss. Der Baum des Lebens ist geradezu der Inbegriff von Überfluss. Und ich habe ein ganzes Bündel Früchte mitgebracht, mit denen ich es beweisen kann.«
»Du hast welche mitgebracht?« Sein Gesicht nimmt einen Ausdruck an, der unergründlich ist. »Warum denn das? Warum hast du sie nicht einfach Lotos gegeben und ihr alles Weitere überlassen?«
»Weil ich Romans Aufgabe übernehme«, sage ich und nicke, um es mir selbst zu bestätigen. Und jetzt, da ich es gesagt habe, beginnt sich in meinem Kopf ein kompletter Plan herauszubilden.
Doch Damen sieht mich nur verständnislos an.
»Die Party, die er alle anderthalb Jahrhunderte gibt?« Ich unterdrücke ein Grinsen, aber ich kann meine zunehmende Begeisterung nicht unterdrücken. »Diesmal werde ich die Gastgeberin sein. Ich lade sämtliche Unsterblichen ein, die er verwandelt hat, und gebe ihnen die Wahl zwischen körperlicher Unsterblichkeit – oder wahrer Unsterblichkeit.«
»Und wenn sie ablehnen?«, fragt er, offensichtlich davon überzeugt, dass sie das tun werden, da er es für sich schon mehr oder weniger getan hat.
»Dann lehnen sie eben ab.« Ich zucke die Achseln. »Aber wenn ich es ihnen erkläre und sie die Folgen begriffen haben, glaube ich nicht, dass sie das tun werden.«
Damen reißt die Augen auf, und sein Teint wird leichenfahl, und ich brauche einen Moment, um zu begreifen, warum. Er hat meine Worte missverstanden. Er denkt, ich hätte bereits von der Frucht gegessen.
»Hast du …?«, fragt er, doch ich beschwichtige ihn rasch.
»Nein.« Ich schüttele den Kopf und fixiere ihn mit meinem Blick. »Ich wollte auf dich warten. Ich will, dass wir unsere Unsterblichkeit gemeinsam rückgängig machen. Ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn du das ablehnst – ob ich dann dieses Leben mit dir oder ein Leben als Sterbliche allein wählen werde –, ich weiß es wirklich nicht. Aber ich hoffe ehrlich, dass du mich nicht zu einer Entscheidung zwingst. Ich hoffe, du denkst darüber nach und teilst die Frucht mit mir. Nur so können wir die Zukunft haben, die wir uns wünschen.«
Ich sehe ihn erneut flehentlich an. Doch als ich nur Bedauern in seinem Blick finde, wende ich mich ab und gehe aufs Tor zu.