ELF
Da es unser letzter gemeinsamer Abend ist – oder überhaupt unser letzter Abend für einen ungewissen Zeitraum – , möchte ich etwas Besonderes machen.
Etwas Denkwürdiges.
Etwas, an das Damen mit einem Lächeln zurückdenken kann.
Aber es sollte wahrscheinlich auch wieder nicht allzu denkwürdig sein, da ich es mir nicht leisten kann, ihn dahinterkommen zu lassen, dass ich ihm etwas verschweige, was ich momentan einfach noch nicht erwähnen will.
Obwohl ich mich schon kurz nachdem wir das Sommerland verlassen haben, entschlossen habe, zu Lotos’ Reise aufzubrechen, weiß Damen davon noch nichts. Und da ihn einzuweihen, garantiert zu einem Streit von gigantischen Ausmaßen führen wird, möchte ich meine Entscheidung so lange für mich behalten, bis ich keine andere Wahl mehr habe, als sie ihm mitzuteilen.
Während er sich nun also die Zähne putzt und sich bettfertig macht, schlüpfe ich unter die Decke und versuche, mir etwas einfallen zu lassen, womit ich ihn überraschen kann. Doch als er kurz darauf in der Tür steht, eine strahlende Erscheinung in blauer Seide, kann ich nur noch schlucken und starren, während ich eine rote Tulpe manifestiere, die aus meiner Hand in seine schwebt.
Lächelnd kommt er auf mich zu und schlüpft neben mir ins Bett. Sacht fährt er mir über die Stirn und streicht mir das Haar aus dem Gesicht, ehe er mich in seine Armbeuge bettet und mich zärtlich an sich drückt. Die Wange fest gegen seine Brust gepresst, schließe ich die Augen und verliere mich im Rhythmus seines Herzschlags, dem Beinahe-Gefühl seiner Lippen und seinen streichelnden Händen. Ich lege ein Bein über seines und verankere mich quasi an ihm, während ich mich auf seine Essenz –, seine Energie – sein Wesen konzentriere, entschlossen, mir noch das kleinste Detail dieses Augenblicks ins Gehirn einzubrennen, damit er mir nie verloren geht.
Und obwohl ich sprechen will, obwohl ich etwas Tiefschürfendes, Bedeutungsvolles sagen will, etwas, das alles Schlimme aufwiegt, das einst zwischen uns passiert sein mag, dauert es unter seinen beruhigenden, besänftigenden Händen und beim Klang seiner leise murmelnden Stimme an meinem Ohr nicht lange, bis ich aus dem Wachzustand in einen tiefen, traumlosen Schlaf gelockt werde.
Ich warte bis zum Vormittag, ehe ich es ihm erzähle.
Ich warte, bis wir geduscht und angezogen sind und unten in der Küche am Frühstückstisch sitzen, wo wir uns ein paar Flaschen gekühltes Elixier gönnen, während Damen die Morgenzeitungen überfliegt.
Ich warte, bis ich keine Ausrede mehr dafür habe, das, was gesagt werden muss, noch weiter aufzuschieben.
Es ist feige, ich weiß, aber ich tue es trotzdem.
»Also, was haben wir heute? Den zweiten oder den dritten Tag deiner einwöchigen Recherche?« Er sieht auf, faltet die Zeitung zusammen und wirft mir ein unwiderstehliches Lächeln zu. »Ich hab nämlich irgendwie den Überblick verloren.«
Stirnrunzelnd kippe ich die Flasche hin und her und beobachte, wie das Elixier glitzert und flammt, während es zum Rand emporschwappt und dann wieder nach unten fließt. Ich kaue auf meiner Lippe und überlege krampfhaft, wo ich anfangen soll. Schließlich komme ich zu dem Schluss, dass ich am besten einfach loslege und es keinen Grund gibt, das Unvermeidliche aufzuschieben, wenn ohnehin alle Wege letztlich zum selben Ziel führen. Ich streiche die hohlen Phrasen wie Bitte sei nicht sauer oder – ebenso nichtssagend – Bitte hör mich an und entscheide mich für die schonungslose Wahrheit. »Ich habe beschlossen, mich auf diese Reise zu machen.«
Mit hellerer Miene und leuchtenden Augen sieht er mich an, was mich auf der Stelle erleichtert. Doch meine Erleichterung ist nur von kurzer Dauer, sowie ich begreife, dass er meine Verwendung des Wortes »Reise« irrtümlich mit dem Urlaub gleichgesetzt hat, den er plant.
»O nein, nicht … nicht das«, murmele ich und fühle mich ganz elend, als ich sehe, wie sich seine Miene verfinstert. »Ich meinte die Reise, von der Lotos gesprochen hat. Denn wenn alles so gut läuft, wie ich hoffe, müssten wir dafür auch noch mehr als genug Zeit haben.« Ich lasse die Hände in den Schoß fallen und zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht, doch das reicht nicht sehr weit. Es ist ein falscher Schritt meinerseits, und das weiß er auch.
Er wendet sich ab und scheint über meine gerade getane Äußerung sprachlos zu sein. Aber daran, wie er die Finger um die Elixierflasche krallt und sich sein Kiefer verkrampft, sehe ich, dass es ihm nicht an Worten fehlt, sondern er lediglich versucht, die richtigen zu finden. Lange wird er nicht mehr schweigen.
»Du meinst es ernst«, sagt er und sieht mich schließlich an. Die Worte klingen mehr wie eine Erklärung als wie der Vorwurf, den ich erwartet habe.
Ich nicke und schicke rasch eine Entschuldigung hinterher. »Und es tut mir leid. Ich weiß, dass du das wahrscheinlich nicht gerade gern hörst.«
Er setzt eine Miene auf, die ich nicht deuten kann. Mit bedächtigen Worten beginnt er zu sprechen. »Nein, wirklich nicht.« Sein Ton lässt eine enorme Menge an Selbstbeherrschung spüren, die seiner Energie nicht entspricht. Obwohl er keine sichtbare Aura hat, spüre ich seine Vibration und fühle, wie sein Puls schneller wird.
Er will weitersprechen, doch ehe er die ersten Worte herausbringt, hebe ich eine Hand und halte ihn auf. »Hör mal, ich weiß, was du sagen willst, glaub mir«, sage ich. »Du willst mir sagen, dass sie verrückt ist, dass es gefährlich ist, dass ich sie ignorieren, mein Leben weiterleben und dir Zeit geben soll, damit du einen Weg findest, wie wir uns wieder richtig berühren können. Aber es geht nicht nur darum, dass wir in der Form zusammen sein können, wie wir es wollen. Es geht um mein Schicksal. Meine Bestimmung. Meinen Lebenszweck – und den Grund dafür, warum ich immer wiederkehre, warum ich zigmal wiedergeboren werde. Ich muss mich aufmachen, ich habe gar keine andere Wahl. Und selbst wenn ich weiß, dass dir das nicht gefällt und es dir überhaupt nicht passen wird, auch wenn ich noch so gute Argumente dafür habe, finde ich mich auch mit zähneknirschendem Einverständnis ab. Ja, ich begnüge mich mit allem, was ich kriegen kann. Denn es ist zwar wirklich denkbar, dass sie komplett verrückt ist, aber es ist genauso gut möglich, dass sie etwas Ernstzunehmendem auf der Spur ist. Und ich weiß einfach in meinem Herzen, dass ich das tun muss – nein, streich das, ich weiß in meiner Seele, dass es meine Bestimmung ist, das zu tun. Es ist, wie sie gesagt hat, es ist eine Bestimmung, die nur ich erfüllen kann. Und obwohl ich wünschte, du könntest mich begleiten, obwohl ich mir das mehr als alles andere wünsche, hat sie auch unmissverständlich klargemacht, dass das nicht geht. Und …«
Ich schlucke, und der Kloß in meinem Hals ist wie ein zorniger, heißer Feuerball, doch ich überwinde ihn und füge hinzu: »Und ich hoffe nur, dass du es irgendwie akzeptieren kannst, auch wenn du es nicht wirklich unterstützen willst.«
Damen nickt und lässt sich mit seiner Antwort Zeit. Er streckt die Beine vor sich aus, schlägt sie an den Knöcheln übereinander und fährt mit dem Finger um den Flaschenhals. »Du willst mir also damit sagen, dass nichts, was ich sagen oder tun könnte, dich davon abhalten wird, die Sache durchzuziehen? Dich allein auf den Weg zu machen?«
Ich senke den Blick, dankbar, dass unser Gespräch nicht zu dem Gezeter ausartet, das ich befürchtet habe, trotzdem bin ich erstaunt, dass es so eigentlich noch viel schlimmer ist. Heftiger Streit lässt sich ziemlich leicht beilegen, wenn erst einmal genug Gras über die Sache gewachsen ist, doch diese Art von widerwilligem Hinnehmen, von der ich mir eingebildet hatte, dass sie mich freuen würde, macht mich irgendwie traurig, und ich fühle mich einsam und deprimierend leer.
»Und wann willst du zu dieser Reise aufbrechen?«
»Bald.« Ich nicke zur Bekräftigung und zwinge mich, ihn anzusehen. »Eigentlich am liebsten gleich. Aufschieben bringt doch nichts, oder?«
Er vergräbt das Gesicht in den Händen, reibt sich eine Weile die Augen und bemüht sich nach Kräften, meinem Blick auszuweichen. Als er wieder aufsieht, starrt er in die Ferne, vorbei an dem akkurat angelegten Garten, dem Pool und dem dahinter liegenden Ozean, zu einer beklemmenden geistigen Landschaft, die nur für ihn sichtbar ist, da er seine Gedanken sorgsam abschottet.
»Ich wünschte, du würdest das nicht tun«, sagt er, mit einfachen, aber von Herzen kommenden Worten.
Ich nicke.
»Aber wenn du darauf bestehst, dann bestehe ich darauf, dich zu begleiten.« Er sieht mich an. »Es ist zu gefährlich – zu …« Er runzelt die Stirn und streift sich das Haar aus dem Gesicht. »Zu vage, zu ungewiss – ich kann nicht einfach zusehen, wie du auf eigene Faust in den Matsch davontrottest. Ever, begreifst du denn nicht? Du bist meine ganze Welt! Ich kann dich nicht einfach auf die Reise irgendeiner verrückten Alten losspazieren lassen!«
Sein Blick begegnet meinem und zeigt mir den vollen Umfang seiner Entschlossenheit. Doch auch ich bin entschlossen, und Lotos’ Anweisungen waren kristallklar. Es ist meine Reise – meine Bestimmung, und Damen ist dort nicht willkommen. Irgendwie drängt sich mir der Gedanke auf, dass es einen Grund dafür geben muss – irgendwie denke ich, dass es diesmal vielleicht an mir ist, ihn zu beschützen, indem ich darauf bestehe, allein loszuziehen.
Ich will gerade etwas in der Richtung sagen, als er über den Tisch fasst, nach meiner Hand greift und »Ever …« sagt. Seine Stimme bricht beinahe, und er muss sich räuspern und von vorn anfangen. »Ever, was, wenn du nicht zurückkommst?«
»Natürlich komme ich zurück!« Ich falle fast vom Stuhl, rutsche ganz an die Kante vor und kann kaum glauben, dass er so etwas auch nur denkt. »Damen, ich würde dich nie verlassen! Mann, ist es das, was dich so verstört?«
»Nein«, antwortet er, nun mit gefassterer Stimme. »Ich hatte mehr in die Richtung gedacht: Was, wenn du nicht zurückkommen kannst? Was, wenn du festsitzt? Dich im Sumpf verirrst? Was, wenn du den Rückweg nicht mehr findest?« Sein verzweifelter Blick trifft meinen, und es ist offensichtlich, dass er – obwohl ich noch da bin, noch vor ihm sitze – bereits einen vorgestellten zukünftigen Verlust durchlebt.
Aber es ist nicht so, als würde ich es nicht begreifen. Nein, ich kann es sogar total nachvollziehen.
Nachdem er mich schon so viele Male in früheren Zeiten verloren hat, fürchtet er, mich erneut zu verlieren, gerade dann, als er sicher war, mich für alle Ewigkeit zu haben. Die schiere Tiefe seines Gefühls raubt mir den Atem, macht mich sprachlos und demütig, sodass mir keine leichte Antwort einfällt, keine einfache Methode, ihn zu trösten.
»Dazu kommt es nicht«, sage ich schließlich, in der Hoffnung, ihn zu überzeugen. »Du und ich sind füreinander bestimmt. Das ist das Einzige, dessen ich mir absolut sicher bin. Und auch wenn ich nicht die geringste Ahnung habe, was mich erwartet, verspreche ich, dass ich alles Nötige tun werde, um den Weg zurückzufinden. Ehrlich, Damen, nichts kann uns trennen – zumindest nicht für lange. Aber jetzt muss ich gehen. Und ich muss allein gehen, daran hat Lotos keinen Zweifel gelassen. Also lass mich das bitte, bitte tun, nur damit ich sehen kann, wohin es führt. Ich finde keine Ruhe, ehe ich es nicht versucht habe. Und auch wenn ich weiß, dass es viel verlangt ist, wünschte ich wirklich, du würdest versuchen, es zu verstehen. Und wenn du das nicht kannst, dann wünschte ich, du würdest wenigstens versuchen, mich zu unterstützen. Geht das?«
Obwohl meine Stimme ihn praktisch anfleht, mich anzusehen, irgendwie zu reagieren, sitzt er weiterhin nur schweigend da, verloren in der Landschaft seiner eigenen Gedanken.
Ich mache einen großen Sprung und hoffe, er kann mir folgen, als ich sage: »Damen, ich weiß, was du empfindest, glaub mir. Aber ich kann einfach nicht umhin zu vermuten, dass hinter unserer Geschichte noch mehr steckt. Eine ganze Lebensspanne, deren wir uns völlig unbewusst sind. Ich glaube, das ist die Lösung oder vielleicht auch der Schlüssel, wie Lotos es formuliert hat. Der Schlüssel, der uns zu dem Grund für all die Hindernisse führen wird, mit denen wir seit Jahrhunderten traktiert werden, einschließlich dessen, vor dem wir jetzt stehen.«
Aber wie gesagt, es war ein großer Sprung.
Ein Sprung, der mit einer kompletten Bauchlandung endet, als Damen aufsteht, sich vom Tisch entfernt und mich nur kurz ansieht. Seine ausdruckslose Miene und die kalte Stimme sagen mir, dass er Millionen von Meilen weit weg ist. »Ich schätze, das war’s dann wohl«, stößt er hervor. »Du hast dich entschieden. In dem Fall wünsche ich dir alles Gute und freue mich schon auf deine Rückkehr.«