FÜNF
Ich setze mich neben Damen auf die Bank und drücke mein linkes Knie vertraulich gegen seines. Das Ganze spielt sich unter der dicken hölzernen Tischplatte ab, sodass Jude der Anblick erspart bleibt. Ich muss es ihm nicht auch noch unter die Nase reiben, damit er sich noch schlechter fühlt als ohnehin schon.
Trotzdem dauert es nicht lange, bis er sich von seinem Platz gegenüber erhebt, etwas von einem neuen Ansatz murmelt, der ihm gerade eingefallen sei und den er gleich ausprobieren wolle. Trotz seiner Erklärung ist ziemlich offensichtlich, dass er nach einer Ausflucht sucht, um sich irgendwohin verziehen zu können, wo er weiter weg von Damen und mir ist.
Ich spähe auf die große Kristallkugel, die vor Damen schwebt, und versuche, die Bilder auszumachen, die sich in ihr entfalten. Doch alles, was ich aus diesem Winkel sehen kann, ist ein Farbenwirrwarr. Um wirklich etwas zu sehen, muss man direkt davorsitzen. Trotzdem erkenne ich daran, wie Damen mit hängenden Schultern und gemächlichem Atem hineinblickt, dass er etwas betrachtet, was nicht besonders interessant ist und uns nicht zu der Information führen wird, die wir brauchen. Ja, wenn überhaupt irgendwas, dann scheint es ihn eher einzuschläfern.
Ich starre auf die Tafel vor mir herunter, die ungefähr genauso viel Hoffnung verbreitet wie Damens Kristallkugel, schiebe sie angewidert weg und sehe mich um. Ich sehne mich nach ein bisschen Hoffnung von jemandem oder etwas – da bin ich überhaupt nicht wählerisch, inzwischen nehme ich, was ich kriegen kann, doch es kommt keine Hilfe. Alle bleiben ungerührt in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft, ihre ganz persönlichen Recherchen, und nehmen keine Notiz von mir. Und obwohl ich die Augen schließe, obwohl ein Strom von Fragen aus meinem Geist fließt, obwohl ich laut und deutlich um Unterstützung bitte, machen die Großen Hallen keinerlei Anstalten, mir beizustehen oder mich in den richtigen Raum zu schicken, wie sie es so viele Male zuvor getan haben.
Abgesehen davon, dass sie mir Zugang gewährt haben, scheinen die Großen Hallen des Wissens mich heute zu ignorieren.
Ich versuche, still zu sitzen, mich zu konzentrieren, zu meditieren und in diesen schönen, stillen Raum abzudriften, doch ich bin zu nervös, zu aufgewühlt und komme einfach nicht zur Ruhe. In meinem Kopf wirbeln Gedanken herum, die es mir unmöglich machen, Frieden zu finden. Ich meine, wie soll ich mich entspannen und mich auf jeden einzelnen Atemzug konzentrieren, wenn ich mir des Tickens der Uhr, die bildlich gesprochen über mir hängt, nur allzu bewusst bin? Wenn ich ständig daran denken muss, wie schnell meine einwöchige Gnadenfrist zusammenschnurrt und sich immer mehr dem Ende nähert?
Erneut sehe ich auf die Kristallkugel, die sich vor Damen dreht. Auf einmal fühle ich mich mutlos und niedergeschlagen und lasse meine Gedanken an einen Ort wandern, an dem ich sie gar nicht haben will.
Einen Ort des Zweifelns.
Der Ungewissheit.
Der extremen Zaghaftigkeit.
Der Teil, der glauben will, wird schlagartig von der Frage niedergebügelt, was schlimmer wäre: Wenn ich mit meiner Ahnung richtigläge – oder wenn ich komplett auf dem Holzweg wäre?
Wäre es besser, allein für das Auftauchen jenes düsteren Teils von Sommerland verantwortlich zu sein – und ebenso das Objekt der Hoffnung der verrückten Alten wie auch ihrer Verachtung zu sein?
Oder ist es besser, in jeder Hinsicht komplett auf dem falschen Dampfer zu sein und völlig in die Irre zu gehen? Was im Grunde meine Last erleichtern und mich von der Bürde befreien würde – von der gewaltigen Verantwortung des Ganzen.
Was, wenn die alte Frau in Wirklichkeit nur ein verwirrter Eindringling im Sommerland ist, wie Damen behauptet?
Was, wenn der Traum, von dem ich sicher angenommen hatte, dass Riley ihn mir geschickt hat, keine tiefere Bedeutung hat als die, von der Damen bereits überzeugt ist – dass es ein erbärmlicher Schrei meines Unterbewusstseins nach mehr Aufmerksamkeit von seiner Seite ist?
Was, wenn ich nur unsere Zeit verschwende? Eine Woche vergeude, die man besser hätte nützen können?
Und, schlimmer noch, was, wenn ich so egoistisch agiere, dass ich Jude auch noch mit hineinziehe, obwohl so klar auf der Hand liegt, wie schmerzlich es für ihn ist, sich im Dunstkreis von Damen und mir aufzuhalten?
Ich schlucke schwer, sehe zu Damen hinüber und weiß, dass es höchste Zeit ist aufzugeben, höchste Zeit, eine Reisetasche mit sämtlichen nötigen Urlaubsutensilien zu packen, damit wir von hier verschwinden und uns dorthin aufmachen können, wohin er will. Nur weil uns eine Ewigkeit zusammen bevorsteht, heißt das nicht, dass ich so mir nichts, dir nichts ein paar Tage davon verschwenden darf. Doch zuerst will ich noch eine letzte Sache ausprobieren, und dazu muss ich in den Pavillon.
Damen fängt meinen Blick auf, und seine dunklen, mandelförmigen Augen mit den dichten Wimpern sehen unverwandt in meine, während sich seine Lippen auf eine Art öffnen, die mich veranlasst, mich gegen ihn zu lehnen und ihm eine Hand auf den Arm zu legen. »Damen, ich hab eine Idee«, sage ich.
Seine Kristallkugel hält an und verschwindet, und er macht ganz den Eindruck, als sei er erleichtert, sie los zu sein.
»Könntest du nicht zu Jude gehen und ihm sagen, er soll zu suchen aufhören, weil ich es mir anders überlegt habe und jetzt nicht mehr will, dass er noch mehr Zeit dafür verschwendet? Ich gehe derweil zum Pavillon und warte dort auf dich.«
»Zum Pavillon?« Er lächelt, und in seinen Augen leuchtet die Verheißung auf.
Ich nicke und nehme mir die Zeit, ihn auf Stirn, Nase und Lippen zu küssen, bevor ich mich losmache und ihn ermahne: »Beeil dich!«