FÜNFZEHN

Ein Kieselstein, der gegen mein Fenster geworfen wird, weckt mich. Ein lautes Klappern, gefolgt von einem zweiten und dann noch einem, bis ich ganz wach bin.

Ich taste nach meinem Morgenrock und wickele ihn fest um mich. Rasch streiche ich mir mit einer Hand die Haare glatt, dann trete ich ans Fenster, um nachzusehen, wer da draußen ist.

Ich rechne mit weiß Gott wem, außer mit demjenigen, der tatsächlich da steht.

»Rhys?« Ich blinzele und mustere seine tiefblauen Augen und das goldblonde Haar. »Was ist los?«

Mein Herz klopft mit dreifacher Geschwindigkeit, während mir unzählige Möglichkeiten durch den Kopf rasen – jede noch schlimmer als die andere. Alrik ist verunglückt – Alrik ist krank geworden – Alriks Gefühle für mich haben sich verändert … bis ich mich endlich so weit fasse, dass ich eine Frage stellen kann. »Ist etwas mit Alrik? Fehlt ihm etwas?«

Rhys lacht, er lacht so, dass sein ganzes Gesicht aufleuchtet, auf eine Weise, die ihn für Frauen jedes Alters und aus allen Gesellschaftsschichten unwiderstehlich macht – für jede Frau von der Matrone über die Prinzessin bis hin zur niedrigsten Kammerzofe. Außer für mich.

»Glaub mir, deinem heißgeliebten Alrik fehlt nichts. Gar nichts. Wie eine läufige Hündin kann er es kaum erwarten, dich zu sehen. Deshalb hat er mich geschickt, um dich abzuholen und zu ihm zu bringen.«

»Das glaube ich dir nicht«, sage ich wie aus der Pistole geschossen, ehe ich meine Antwort gründlich bedenken konnte. Doch nachdem ich es nun einmal gesagt habe, erkenne ich sogleich, dass ich meine Worte nicht bereue. »Alrik würde dich nie schicken – oder jedenfalls nicht, um mich abzuholen. Er ist über deine Grausamkeit genau im Bilde, Rhys. Darüber, wie verächtlich du mich gern behandelst.«

Rhys fährt sich lächelnd mit einer Hand durch seine goldglänzenden Locken, und seine blauen Augen glitzern in der Dunkelheit. »Das will ich weder bestreiten noch mich dafür entschuldigen«, entgegnet er. »Ich gebe unumwunden zu, dass ich meinen Bruder für einen Narren halte, weil er dich wählt, obwohl er stattdessen die reizende, zauberhafte Esme haben könnte. Doch nun zahlt sich die Dummheit meines Bruders für mich aus. Weil er sich seltsamerweise zu dir hingezogen fühlt, kann ich um Esme werben, meine wunderschöne Göttin mit dem Flammenhaar. Daher haben mein Bruder und ich angesichts der Umstände einen Waffenstillstand geschlossen. Doch da er noch mit seinen Angelegenheiten beschäftigt ist, hat er mich nach dir geschickt. Also komm schon, deine Hochzeit wartet. Oder soll ich etwa dein ganzes Haus aufwecken?«

»Jetzt?« Ich blinzele in die Finsternis und bin sicher, ich habe mich verhört.

»Ja, jetzt. Es ist alles ganz mysteriös und romantisch – und natürlich streng geheim. Also, komm schon, pack zusammen, was du brauchst, zieh dich an und komm dann hinters Haus. Dort warte ich mit dem Pferd.«

Trotz seiner Anweisungen rühre ich mich nicht vom Fleck, da ich weiß, dass ich den Worten des höchst unzuverlässigen Rhys keinen Glauben schenken darf. Ich bin mir sicher, dass Alrik, wenn er irgendjemanden nach mir schicken würde, Heath beauftragen würde, nicht Rhys, den Bruder, dem er nicht traut, den Bruder, den er verabscheut.

Rhys seufzt. Seufzt und schüttelt den Kopf. Dann fasst er in die Tasche seines Mantels und sagt: »Schön. Hier. Lies das und weine. Aber was auch immer du tust, tu es schnell. Ich möchte gern demnächst in mein Bett zurückkehren. Da wartet nämlich ein dralles Milchmädchen auf mich und wärmt mir die Laken.«

Ich verkneife mir ein Augenrollen und tue so, als hätte ich den letzten Teil nicht gehört. Inzwischen klettert er beherzt das Spalier vor meinem Fenster hinauf, mit gewandten, katzenartigen Bewegungen. Oben angelangt, drückt er mir unsanft das gefaltete Blatt in die Hand und nimmt auf der Fensterbank Platz.

Ich weiche zurück, ziehe den Morgenrock enger um meinen Körper und lasse mir die langen blonden Haare so über die Schulter fallen, dass sie vor mir herabsinken. Ich versuche, den Blick seiner Augen abzuwehren, die mich hungrig mustern und an all den Stellen Halt machen, wo sie es nicht tun sollten. Dabei ist er nicht einmal Gentleman genug, um sein Verhalten zu verbergen.

Ich erkenne das rote Wachssiegel, das Alrik immer benutzt, um seine zahlreichen Briefe an mich zu kennzeichnen, und so falte ich das Blatt auf, streiche es glatt und beginne zu lesen.

Meine liebste Adelina,
wenn du das jetzt liest, so rührt dies daher, dass du dich
geweigert hast, Rhys Glauben zu schenken.
Gut für dich!

Erneut hast du mich mit Stolz erfüllt. Doch dieses eine Mal bitte ich dich, ihm ausnahmsweise zu vertrauen. Irgendwie haben mein Bruder und ich mittlerweile einen gemeinsamen Nenner gefunden und ziehen jetzt am gleichen Strang – arbeiten sozusagen für unser eigenes höheres Wohl. Daher flehe ich dich mit ruhigem Herzen und reinem Gewissen an, mit ihm zu gehen.

Da ich Heath nirgends aufspüren konnte, musste ich dringend einen anderen Verbündeten finden und wandte mich an Rhys, von dem ich richtig angenommen habe, dass er von der Nachricht über unsere geheimen Hochzeitspläne begeistert sein würde, oder, wie er es wohl eher formulieren würde: »Alriks lächerlich romantischer, törichter Fehltritt.« Doch er soll ruhig lachen, ich fürchte, am Schluss wird er als der Geleimte dastehen, denn er wird nie die Art von Liebe erleben, die du und ich ineinander gefunden haben.

Dennoch, obwohl er sich darüber lustig macht, ist er klug genug, um zu begreifen, dass meine Eheschließung mit dir ihm den Weg freimachen würde, sodass er um Esme werben und letztlich die Krone erringen könnte – und womöglich noch die Position als »Vaters Lieblingssohn und Erbe«, die einst ich bekleidet habe. Aber nichts davon spielt eine Rolle angesichts dessen, was ich nun zu gewinnen habe – die Chance, meinen lange unerfüllten Wunschtraum wahrzumachen und mein Leben an deiner Seite zu leben.

Und nun erwarte ich dich, mein Liebling – meine Braut – meine Frau!

Bitte komm schnell zu mir!

Auf immer und ewig der Deine

Alrik

»Na, was sagst du dazu? Prüfung bestanden?« Rhys lümmelt in der Fensternische herum, ein Bein in meinem Zimmer, das andere aufgestellt auf der steinernen Bank, wo es als Stütze für seine Hände dient.

Ich blicke zwischen dem Brief und ihm hin und her und muss zugeben, dass er offenkundig von Alriks eigener Hand und nicht unter Zwang verfasst worden ist, und so hole ich tief Luft und gebe nickend meine Zustimmung.

»Gut«, zischt Rhys, streckt die Hand aus und reißt mir den Brief weg. Er stopft ihn tief in seine Tasche, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, ihn ordentlich zusammenzufalten. Dann sieht er mich an, ermahnt mich zur Eile und klettert von meinem Fenster aus wieder über die Hausmauer nach unten, bis ich ihn nicht mehr sehen kann.