DREISSIG

Sie lügt.«

Rafe wirbelt herum, um zu sehen, was ich bereits gesehen habe, um zu erkennen, was ich bereits weiß.

Marco ist hier.

Und wie immer kommt Misa mit ihren exotischen dunklen Augen, der schwarzen Stachelfrisur und den vielfach gepiercten Ohrläppchen neben ihm herangeschlichen.

Ich lasse den Lichtstrahl über sie wandern und betrachte sie genau, versuche, sie zu durchschauen und zu entscheiden, ob ihr Auftauchen schlecht für mich ist, schlecht für Rafe oder einfach prinzipiell schlecht. Nur zwei Dinge weiß ich sicher: Ganz egal, hinter wem sie auch her sind – obwohl man wahrscheinlich davon ausgehen kann, dass es um mich geht –, hegen sie keine guten Absichten. Und genau wie Rafe zeigen sie Anzeichen von Alterung.

»Sie ist auf die Frucht aus.« Misa schaut hektisch zwischen Rafe und mir hin und her. »Lotos hat sie losgeschickt. Sie überredet, danach zu suchen, genau wie sie uns schon vor Jahren zu überreden versucht hat. Aber jetzt scheint die Alte zu glauben, dass Ever die Einzige ist, der es gelingen kann. Deshalb haben Marco und ich sie verfolgt, was du vermutlich auch gerade tust.«

Rafe blinzelt, regt sich jedoch sonst nicht und verrät auch nichts. Er ist zu sehr damit beschäftigt, die Situation zu beurteilen, zu sehr auf der Hut, um eine Antwort zu geben.

»Lotos sucht schon seit Jahrhunderten nach jemandem, der diese Reise machen kann.« Misa richtet ihre Worte direkt an mich, während Marco neben ihr kichert. »Zuerst haben wir sie für verrückt gehalten – na ja, vor allem deshalb, weil sie wirklich verrückt ist. Aber jetzt, da Roman tot ist und Haven die Vorräte bis zum letzten Tropfen ausgetrunken hat und Damen – also, ich muss hier ja kein Blatt vor den Mund nehmen, oder? – so selbstsüchtig ist, hatten wir keine Wahl, als uns mit ihr anzufreunden, um mehr über diesen Baum zu erfahren und rauszukriegen, wo er ist. Sie hat uns ins Sommerland gelotst, aber weiter nichts. Hat behauptet, sie wüsste nicht, wie man den Baum findet, und gemeint, du seist die Einzige, die es kann, weil es deine Bestimmung sei, als wärst du eine Art Auserwählte oder irgend so was.« Sie sieht mich an, ein langer, schneidender Blick, der in übertriebenem Augenrollen endet, damit ich weiß, wie lächerlich sie das findet. »Wie auch immer, wir sind nur gekommen, damit du uns dorthin führst. Den Rest übernehmen dann wir.«

»Abgesehen davon, dass ich zuerst hier war.« Die Drohung in Rafes Stimme ist nicht zu überhören. »Eine Kleinigkeit, die ihr offenbar übersehen habt.«

Sie erstarren, straffen die Schultern und sichern ihre Stellung, als wollten sie die Sache gleich hier auf diesem streichholzdünnen Pfad ausfechten. Ihr Recht verteidigen, mich zu benutzen, um das zu kriegen, was sie wollen.

»Hört ihr euch eigentlich selbst reden?« Ich funkele sie an. »Mal im Ernst. Ihr seid echt unglaublich! Und ihr nennt Damen selbstsüchtig.« Ich schüttele den Kopf und versuche nicht einmal, meine Empörung zu verhehlen. Aber während sich meine Lippen bewegen und einen Schwall von ähnlichen Wörtern herausschleudern und meine Mimik sich dem jeweils Gesagten anpasst, bin ich in Gedanken ganz woanders. Ich suche fieberhaft nach einem Weg aus diesem Schlamassel. Ich weiß, ich hätte Rafe überwältigen können, solange er noch allein war, doch jetzt, da drei Unsterbliche gegen mich allein stehen, bin ich mir nicht mehr sicher.

Obwohl sie mich nicht töten können, können sie mir dennoch massiven Schaden zufügen oder – schlimmer noch – mich daran hindern, als Erste ans Ziel zu kommen.

»Wir wissen nicht einmal sicher, ob es diese Frucht überhaupt gibt«, werfe ich ein. »Aber sagen wir einfach mal, es gibt sie, sagen wir mal, wir finden sie, und sie wartet nur darauf, gepflückt zu werden. Warum können wir sie dann nicht einfach teilen? Warum könnt ihr nicht jeder einmal davon abbeißen und dann mir den Rest überlassen, damit ich ihn Lotos bringen kann? Auf die Art hat jeder etwas davon. Und niemand wird verletzt.«

Doch statt der Ablehnung, die ich erwartet habe, stoße ich auf eisiges Schweigen.

Ein schreckliches, lastendes Schweigen, das weitaus schlimmer ist als jeder Streit, den sie vom Zaun brechen könnten.

Sie sind nicht mehr an mir interessiert.

Ihre Aufmerksamkeit wird von etwas völlig anderem gefesselt.

Und ich weiß, ohne hinzusehen, was es ist. Ich spüre es daran, wie der Wind an meinem Nacken flüstert. Ich sehe es am plötzlichen Leuchten in ihren Augen.

Sie sehen ihn.

Den Baum.

Was bedeutet, dass sie mich nicht mehr brauchen.

Und obwohl ich versuche loszulaufen, mein Bestes tue, um zu flüchten, ist es zu spät.

Sie sind zu viele und ich zu wenig. Und offenbar haben sie zumindest in diesem Fall beschlossen zusammenzuhalten. Zu kollaborieren.

Misa und Marco packen meine Arme, während Rafe hinter mich huscht. Seine Wange eng an meine gepresst, zischt er mir aus eisigen Lippen ins Ohr: »Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, dass ich den Halt verloren habe und tief in den Canyon gestürzt bin?«

Ich schlucke schwer und wappne mich, denn ich weiß nur zu gut, was als Nächstes kommt.

»Das war leider gelogen.« Er grinst, und ich spüre, wie sich seine Lippen kräuseln. »Wenn ich das Pech gehabt hätte zu fallen, hätte ich es nie wieder nach oben geschafft. Weißt du, Ever, es geht senkrecht nach unten. Und zwar total senkrecht, ohne irgendeinen Felsvorsprung – es gibt nichts, woran man sich festhalten und den Sturz abbremsen könnte. Aber das muss ich dich selbst sehen lassen. Man soll die Überraschung ja nicht dadurch verderben, dass man vorher schon alles verrät, nicht wahr?«

Ich wehre mich.

Ich trete um mich.

Ich kratze und beiße und schreie und trete und kämpfe mit all meiner unsterblichen Kraft.

Doch obwohl ich mich in der Genugtuung suhlen kann, allen dreien übel zugesetzt zu haben, genügt das nicht.

Ich kann sie nicht schlagen.

Ich bin ihnen nicht gewachsen.

Und im selben Moment, als Misa und Marco mich loslassen, versetzt mir Rafe einen Stoß.

Stößt mich hinab.

Lässt mich fallen.

Über die Kante und hinab in einen bodenlosen Abgrund.